Romantische Landschaft mit Menschenopfer

Romantische Landschaft mit Menschenopfer
Weißt Du wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt...

Mittwoch, 16. Dezember 2009


Lebenswelt und Gedächtnis


17.01.2002


Modernisierung wird zwar verhaltener als noch vor ein paar Dekaden, aber doch immer noch, unter dem Titel der Erfreulichkeit der unablässigen Erneuerung, die zugleich von der Produktwerbung als Synonym für Verjüngung propagiert wird, eine ‚Philosophie’ der Mode, des Programm gewordenen Wechsels und zugleich des Konsums, die auch vor der Personalentwicklung der Unternehmen nicht halt macht und mithin auch als ‚Unternehmensphilosophie’ gelten kann, insofern man eben auch dort gerne nach dem Wahlspruch verfährt: ‚Lasst Junge Menschen um mich sein’, in einem zurückhaltenden, man kann auch sagen: Aufs äußerste abgeflachten Sinne als ‚Fortschritt’ mehr oder weniger stillschweigend, und vor allem als die letztlich einzig mögliche Art, dem Terminus überhaupt noch einen Sinn zuzugestehen, der veröffentlichten Meinung zugrunde gelegt. Wie auch immer man den Sinn von Modernisierung deutet, ihm haftet das Unvermeidliche als eine seiner Konnotationen an, und von dort wäre es nicht weit bis zu der Einsicht in den Nebensinn des Verhängnisses oder, insofern es hier um eine unablässige Umwälzung des sozialen Lebens geht, das jedoch nur als unvermeidbare Nebenfolge im Sinne einer ‚sozialen Veränderung’ bzw. einer ‚sozialen Evolution’ auftritt, die vom sozialen Leben selbst nicht so sehr ausgeht, als von den ihm mehr oder weniger offenkundig ‚übergeordneten’ Bestimmungsgrößen des Lebens in Industriegesellschaften, zum Sinn von ‚Katastrophe’, insofern eben dies der genaue Sinn dieses Wortes ist. Tatsächlich wird das Wort heute gewöhnlich für diejenigen ‚Grenzfälle’ eines plötzlichen und unvorhergesehenen, jedenfalls aber unerwünschten und zerstörerischen Falles vorgesehen, wie er durch Naturereignisse wie Vulkanausbrüche und Überschwemmungen, Meteoriteneinschläge oder Kriegsereignisse wie die Folgen eines Bombenkrieges etc. oder eines Brandes herbei geführt werden kann. Aus dieser Grenzlage des Bewusstseins ist die ‚Modernisierung’ heraus gerückt worden. Umgeben von einem enormen rhetorischen Halo von abgeblassten Kategorien des Optimismus der Aufklärung und des ‚wissenschaftlichen Fortschritts’, des Humanismus und der Verbesserung, die alle mit dem Inbegriff des Neuen eingekleidet werden, der wiederum mit dem Guten, Wahren und Schönen in jeder Hinsicht tatsächlich auch im ästhetischen Sinne eines technischen Funktionalismus unterfüttert ist, bleibt angesichts dessen nur die unablässige, beschämende und auch ungemein herabsetzende Kehrseite dieser Propaganda des ‚Positiven Denkens’, als ‚dark side of the moon’, wie das Pink Floyd, auf deren Konto die Rettung von mehr Menschenleben der Industriegesellschaft gehen als auf das Konto aller Sozial- und therapeutischen Berufe und ihrer Apparate zusammen, die in der mit den Veränderungsgeschwindigkeiten der modernen Welt und deren wachsender Beschleunigung die Menschen gegenüber dem sie unablässig, sowohl in Hinsicht auf den ihnen ermöglichten Konsum und dessen Imagines wie auch in Hinsicht auf ihre Existenz als Arbeitskräfte der Industrien, denen sie dienen dürfen, wenn diese es ihnen erlaubt, mit eben dieser Veränderungsgeschwindigkeit beschleunigt veralten lässt.

Bei genauem Hinsehen in beide Richtungen, nämlich einmal nach der Seite der aus allen Röhren bzw. Transistoren der Apparate der Halbleiterindustrien unablässig in einem endlosen Strom abgefeuerten öffentlichen Begleitmusik zum Alltagsleben einerseits, und dann in Betrachtung und Beobachtung dieses alltäglichen Lebens selbst, zu dem diese Begleitung ihre Omnipräsenz zwischen Büro, Montagehalle und Einkaufszentrum sowie auf den Wegen zwischen diesen Endstationen aller Sehn-Sucht beisteuert, ist die Omnipräsenz dieses Überbaus, in dessen Text und Musik, Gong- und Paukenschlägen, triumphalen Fanfarenstößen und Täterätä, Politik, Produktwerbung und Stimmungsbeeinflussung in eine ununterscheidbare Gemengelage übergegangen sind, deren Sinn in der unablässigen Anstrengung der Verhinderung des Untertauchens der Aufmerksamkeit der an diese Maschinerie angeschlossenen Konsumenten zu sehen ist, einer ungeheuren Anstrengung gleich zu setzen, die verhindern muss, dass das Alltagsleben in Betracht seiner selbst zu sich und der in ihm unaufhebbar wirkenden Wahrheit seiner selbst als faktisches Leben kommt. Diese gigantische Maschinerie ist mit der Produktion und Distribution einer Droge befasst, die unablässig aus den überall aufgestellten Schall- und Lichtquellen dringt und den Lebensalltag, die Wirklichkeit des Lebens mit einem Firnis versieht, den kruden Rohstoff Alltagsleben mit einem Firnis versieht, der ihn geschmacklich genießbar und optisch ansehnlich zu machen hat. Ihre Funktion und Wirkung ist das Vergessen. „Die Griechen aber aßen vom Lotus und vergaßen der Heimkehr“, lautet ein Satz aus der Odyssée. Die Populationen auf der Halbleiterindustrie aufsetzenden Sekundärindustrien der Ton- und Bildindustrien bilden nicht nur ‚den Motor des industriellen Fortschritts, sondern sie bilden ihn u. a. auch deshalb, weil mit ihrer hinter den Kulissen betriebenen Überflüssigmachung der Menschen im Industrieprozess selbst mit der Bedrohung ihrer Existenz, die dem Leben einen sublimen Schleier des Unheimlichen inmitten einer scheinbar taghellen Industriehalle oder einem hell erleuchteten Supermarkt bzw. einer Einkaufsstrasse bzw. anderen Großkomplexen mit mehr oder weniger industriellem Charakter nicht zuletzt der Herstellung normierter, mit skills ausgestatteter nutzbarer Gattungsexemplare umgibt, der sich bei genauerem Hinsehen ins Ungreifbare auflöst, ebenso wie er sich in jedem Gespräch verflüchtigt, weil endlich bei allen Beteiligten eine Abwehr einsetzt, die den Blick sogleich auf die sogleich sich anbietenden ‚schönen Seiten des Lebens’ lenkt, die diese Industrien mit Musik für alle Gelegenheiten untermalt in den schönsten, leuchtenden Farben dem Auge vorgaukelt. Theater und Moderne Kunst, angeblich tot oder dahinsiechend, haben in ‚Wirklichkeit’, nämlich in dieser in der Tat eine ungeheure Bedeutung gewonnen. Sie steuern buchstäblich das Leben der vereinzelten Masse der Vereinsamten, wenn auch nicht mehr in der Form, die der Gymnasialabsolvent, auf ‚Hochkultur’ wenigstens äußerlich noch vereidigt, neben seinen tatsächlichen Vorlieben noch für ‚die Kultur’ halten lernt, während er sich den Konsum der ‚zerstreuenden Entspannungswirkungen’ des bereit gestellten Angebots nicht entgehen lässt, um seinen ‚gestressten’ Verstand von dem Arbeitseinsatz auszuruhen, den es bedeutet, sich mit ‚Kultur’ zu befassen, oder einfach auch, den es bedeutet, die alltägliche Arbeitsleistung zu erbringen.

Indem eine auf der Halbleiterindustrie aufsetzende omnipräsente Bild- und Tonwelt den Lebensalltag überwölbt und durchdringt, wird die Totalmobilisierung der Menschen erst möglich und erträglich. In dieser Funktion tritt diese Kunstwelt an die Stelle der Lebensumwelt der Menschen. Das verändert aber das gewohnte Verhältnis von Gedächtnis, subjektiv Erinnerung, und Lebenswelt vollständig.

Die seit dem letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts verstärkt an den Universitäten eingerichteten Lehrstühle für Psychologie sich nicht einfach nur Produkte der Entfaltung des Systems der modernen Wissenschaften auf Kosten des Systems der Theologie und der aus ihr heraus gestalteten Religion, dem Weltbild der Population. Sie beerben auch die aus dem Prozess ihres sozial begründeten Zerfalls zunächst hervorgehende Literatur und Philosophie, die sich als Versuch der ständig erneuten Frontrücknahmen und der Einrichtung von Rückzugslinien bzw. zurück genommenen Fronten gegenüber dem Prozess der unablässig weiter über sie hinweg gehenden Auflösung der sozialen Grundlagen durch die sozialen Veränderungen verstehen lässt, die diese Auffangstationen zunächst erzeugen, um sie dann hinter sich zu lassen. Betrachtet man im Überblick den gesamten Vorgang, dann ist, mit der Vereinfachung, die notwendig ist, damit das hier Herauszustellende in den Blick treten kann, zu beobachten, wie sich ein sozialer Kosmos, der in einer ständischen Hierarchie zu einer theologisch verstandenen Schöpfungstotalität ‚teleologisch’ in Richtung auf einen welttranszendenten Schöpfergott geordnet ist, von dessen Existenz und Verfassung her der vergesellschaftete Mensch seinen Daseinssinn bezieht, zunehmend – über verschiedene Rückzugsfrontlinien, an denen auf den Vorgang eine jeweils neue endgültige Antwort gegeben werden soll, ohne dass dies gelingt – in eine Erosion übergeht, an deren – möglicher Weise wiederum vorläufigem Auslaufpunkt – ein sozialer Atomismus steht, der inzwischen ähnlich wie in der Kernphysik auch in den ‚subatomaren’ Bereich weiter vordringt, indem die Verbindlichkeit des lebenslangen Lernens selbst die etwa noch übrig gebliebene Einheit der Biographie aufzubrechen beginnt. Indem das Leben des/der Einzelnen in wachsendem Masse unkontrollierbaren Wahrscheinlichkeiten der Umgebungsentwicklung bzw. einer sozialen Kontingenz ausgesetzt wird, die nicht mit Sicherheit aufgefangen werden kann durch eine individuelle Anstrengung, indem die ‚gesellschaftlichen Veränderungsgeschwindigkeiten’ als hinzunehmende Determinanten der Kontingenz des Lebens des Individuums ‚normalisiert’ werden, so dass umgekehrt ‚normal’ nur ist, wer der derart radikal umgedeuteten Norm, die diese Normalität setzt, werden die Wahrscheinlichkeiten größer, dass die Biographie an diesen Kotingenzen gebrochen wird. Das ‚In-Dividuum’ als soziales Atom gilt faktisch nicht mehr unteilbar. Indem es in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht mehrfach gebrochen werden kann und in einer mit wachsender Veränderungsgeschwindigkeit wachsender Wahrscheinlichkeit auch gebrochen wird, wird die Einheit der Biographie zu einer lediglich durch den Organismus und die Zeit, in der bloßen organischen Lebensdauer fundierten sozialen, seelischen und intellektuellen Fiktion. Die ‚Identitätsmodelle’ der Soziologie und der Sozialpsychologie von vor ein paar Dekaden sind selbst als zurückgenommene Frontlinien in demselben Prozess erkennbar und überrannt worden, dem sie ihrerseits eine nunmehr geltende Antwort zu geben versuchten. Vom ‚In-Dividuum’, vom sozialen Atom, festgemacht am Gattungsexemplar, bleibt nur noch der Name übrig, der an den Irrtum erinnert, den auch diese Antwort darstellte. Sie erlag, in dem Glauben, schon abstrakter zu sein als alle ihre Vorgänger, und damit auch unangreifbarer als diese, indem sie zugleich ‚empirisch’ orientiert zu sein schien, dennoch einem Augenschein, letztlich einer verwaltungstechnischen, vielleicht auch einer der Rechtsprechung zugrunde liegenden Fiktion, die sich an die staatlichen Veranstaltungen anlehnte, die die ‚Identität’ eines Menschen durch Urkunden und Ausweispapiere festschreiben. Es ist möglich, dass die Konsequenzen, die die sozialen Veränderungen den Gattungsexemplaren längst als Massenschicksale zumuten, gerade in die Rechtsprechung und auch in die in dem oben bezeichneten Sinne nunmehr als ‚konkretistisch’ erkennbar gewordenen soziologischen und sozial-psychologischen Theoriekomplexe oder die Therapeutik nicht eingehen. Sie werden dort auf dem stabil gehaltenen Hintergrund von Totalitätsfiktionen des Individuums ausgeblendet, oder vielmehr eher als Symptome einer individuellen Pathologie ‚gedeutet’, während angesichts des Umstandes, dass die sozial praktisch gewordenen Zumutungen der individuellen Lebensführung vielmehr diese als literarische Idyllen erkennbar gewordenen Konzeptualisierungen der Identität des Einzelnen als Fiktionen in derselben Funktion erkennbar werden, die einst die alles umfassende Totalität einer theologisch-religiös integrierten Weltdeutung hatte. Sie sind Theologien, Metaphysiken und Religionen auf engstem Raum, oder vielmehr, sie wollten es – wenn auch nicht bewusst – sein. Indessen war der ‚Raum’ nicht eng genug, der Radius, den die Fiktion totalisiert noch zu groß. Daran kann man die Frage knüpfen: Wie klein ist denn dieser Radius, bzw. das, was der Metapher entsprechen soll, denk- und konzipierbar? Ohne diese Frage hier beantworten zu wollen, ist jedoch klar, dass man um einen Antwortversuch überhaupt zu wagen, das Theorienschicksal der Vorgängerveranstaltungen bedenken muss, konkret: Man muss vermutlich normative Gesichtspunkte eines Verständnisses des Menschen mit berücksichtigen, von denen, eben weil sie das sind, immer auch als ‚fragwürdig’, und damit als technisch überschreitbar gelten werden. Gibt man, derart belehrt, keine Antwort darauf, weil man nicht in die Falle des als ‚Wissenschaftsfortschritt’ sich jeweils missverstehenden Versuchs einer Grenzsetzung am jeweiligen Punkt des Jetzt der sozialen Entwicklung gehen will, dann wird, nun allerdings, weil keine formulierte Grenzlinie überschritten wird, diese nunmehr nicht als Grenze auftretende Fiktion in Theoriegestalt, sondern die nunmehr fiktive Grenzlinie dennoch überschritten werden, nur dass es womöglich niemand bemerkt, eben, weil niemand in Form einer Theorie eine Art ‚Bis-Hierher-und-nicht-weiter formuliert hat, und sei es nur, um nicht, angesichts der Veränderungsgeschwindigkeiten sogleich ad absurdum geführt zu werden durch die nächste praktische Überbietung. Die Konsequenzen für die Theoriebildung angesichts dieser Gegebenheiten sind offensichtlich noch nicht ausreichend durchdacht worden. Die Theoriebildung muss damit, was immer sie sonst muss, mit einer Reaktion antworten, die nicht auf dem ‚Niveau’ der sozialen Veränderungsgeschwindigkeiten selbst liegt. Dann teilt sie das Schicksal aller Moden und Schicksale angesichts der technischen und der Modellentwicklung z. B. im Automobilbau: Was je ist, ist immer schon veraltet gegenüber dem, was schon auf dem Reißbrett ist, aber noch nicht in Serie. Die Konsequenzen für den Studiengangsdesign, also auch in praktischer Hinsicht, sind aus diesen Antezedentien abzuleiten. Das kann hier aber nur nebenbei betrachtet werden.

Wenn die Psychologie und die Sozialpsychologie, auf deren Befunde sich der Studiengangdesign der Sozialpädagogik wesentlich mit stützt, einerseits Zerfallsprodukte eines umfassenden Totalitätskonzepts sind, in dessen Kosmos sie wie immer in rudimentären Rollen implizit waren, dann ist der Sinn, den diese Genesis aus einem Zerfall hat, nicht schon deshalb klar, weil sie eben aus einem Zerfall hervorgegangen sind. Ebenso wenig ist damit, dass man den Gegensatz von Theologie (oder Philosophie bzw. Literatur) betont um sich derart als Wissenschaft in einem von seiner Genese abgelösten und aus sich selbst verständlichen System der Wissenschaften abzukapseln gegenüber Fragen nach der Funktion dieses Gefüges bzw. einer Besonderheit darin, die sich bei näherem Hinsehen als genetische Fragen profilieren.

Wenn man dennoch der Genese dieser Wissensformen Beachtung schenkt, dann ist jedoch ersichtlich, freilich von jenseits ihrer Grenzen – was auch wissenschaftslogisch richtig ist, insofern eine Menge nicht ihre eigene Klasse als Element enthalten kann – dass sie sich als Antwort auf Fragen entwickelt hat, die sich aus den Grundlagen des Auflösungsvorgangs bzw. dessen Ursachen erschließen lassen muss. Hier wird nur ein Aspekt in Betracht gezogen. Wenn die Auflösung von Totalitäten des Weltverständnisses, die Entwicklung und Veränderung sozialer Strukturen neue Fragen auftauchen lassen, die zuvor in dieser Weise nicht gestellt worden sind weil sie nicht gestellt werden mussten bzw. weil sie sich nicht gestellt haben, und wenn diese Fragen die Lebensführung und die Konzeptualisierung des Lebens in einen immer enger um das Individuum als Einzelnen herum beschriebenen Radius zu beantworten sind, dann sind gerade angesichts der zunehmend konkreter werdenden empirischen Ausrichtungen dieses Interesses, seine Technisierung als Indikatoren dafür zu bewerten, dass die Antworten nicht einfach nur jeweils feststellen was ist, sondern sei es darüber hinaus, oder im Wesentlichen nur Antworten sind, die sich auf Voraussetzungen stützen müssen, die normativer Natur sind, ohne dass das unmittelbar klar oder bewusst sein muss. Es ergibt sich vielmehr aus der empirischen Ausrichtung. E ist ja gerade die Eigenart einer empirischen Ausrichtung der vom Problem der Lebensführung mehr oder weniger umfänglicher und mehr oder weniger organisierter Gruppen oder des Individuums her, dass sich ebenso zwanglos wie implizit aus der Empirie, der Erfahrung selbst auch ein letzten Endes normatives Modell ergibt, das gewissermaßen die individuellen idealen Voraussetzungen einer gelingenden Lebensführung – sei das nun im inne des ‚guten Lebens’ oder einfach des erfolgreichen Überlebens – formuliert und festhält, und von dorther nun auch die Formen, die das Misslingen hervorbringt, erzeugt, in den Blick nimmt, damit aber beides im Sinne einer mehr oder weniger als solchen verstandenen ‚Produktion’ aus den jeweiligen Umgebungsbedingungen einerseits und dem jeweils als ‚gegeben’ oder auch ‚entwickelt’ oder ‚erworben’ (achieved) im positiven odr negativen Sinne, wie man entweder eine Yacht oder auch eine Immunschwäche ‚erwerben’ kann, vorauszusetzenden sowie ihrer Interaktion, wiederum unter bestimmten Umständen.

Nun ist aber an derselben Entwicklung der Wissensformen, ihrem immanent von einem bestimmten Punkt ab als ‚Wissenschaftsfortschritt’ gedeuteten Veränderungsprozess, wiederum auch ablesbar, dass sich offenbar die Fragestellungen weiter, unterhalb der jeweils formulierten Wissenschaftsplattform weiter verschieben und zwar in einer Richtung, die, wie wir oben gesehen haben, die ‚Identität’ des Individuums als Theoriegrundlage, damit aber das scheinbar Äußerste, das sich überhaupt denken zu lassen schien, aufhebt. Das ist insofern weder einfach als wissenschaftsimmanenter Fortschritt zu verstehen, denn warum sollte der diese Richtung nehmen, wenn man nicht einfach davon ausgeht, dass die Erfahrungen mit einem Synchrotron eine derartige ‚soziale und wissenschaftliche Relevanz’ entwickeln sollten, dass sie endlich zu einem Ausprobierverhalten führen, das das Modell überträgt um zu sehen, ob man damit zu sinnvollen Ergebnissen kommt, und wenn, ist über die Antwort auf die Frage, was als sinnvoll gelten können soll ja nur dann ihrerseits beantwortbar, wenn die Theorie eben Antworten gibt, die eine wirkliche soziale Relevanz auch tatsächlich haben. Dass können sie aber nur dann, wenn den Antworten Fragen entsprechen, auf die sie eben als Antworten nicht nur angewendet werden, sondern auch erlebt werden, anders gesagt, weil sie einem dringenden Bedarf auch wirklich entsprechen und so empfunden werden. Sonst mögen die Antworten der Wissenschaft in Archiven begraben liegen. Andererseits, wenn die Theorie stereotyp festhält an theoretisch für unübersteigbar gehaltenen Positionen und Frontlinienabsteckungen, verfehlt sie zunehmend die für immer mehr Menschen angesichts dessen, was ihnen widerfährt, dringlichen Fragen und hat nicht nur keine Antworten, sondern versucht vielmehr, die vermehrt auftauchenden neuen Problemstellungen und Antwortansprüche, den wirklichen Antwortenbedarf auf dem Hintergrund eines nunmehr normativ stabilisierten ‚traditionalistischen’ Antwortentableaus quasi autoritativ zu beantworten, und ist dann gezwungen, den Rücklauf der an sie zurückgehenden Ergebnisse dieser Interaktionstechnik mit ihrem ‚Objekt’ wiederum auf den Hintergrund abzubilden, an den sie sich schon für ihre Antworten gehalten hat. Das führt dort, wo das Objekt, als ‚Klient’, Untersuchungsobjekt’ oder wie sonst aufgefasst, sowohl von einer Einflussnahme auf die Formulierung der Grundlagen, die mit den Antworten auch das Objekt definieren, auf das jeweils geantwortet wird, wie von einer Interpretation der ‚Ergebnisse’ der Interaktion mit dem Objekt auf dem Hintergrund von dessen zuvor projektiertem Verständnis von dessen normativer Verfassung abgeschnitten werden kann, und durch das Arrangement auch abgeschnitten wird – und das ist hier keine Frage gutwilliger Beteuerungen aus ebenso professionellen wie angelernten Verhaltensstereotypen heraus – zu einer durch wissenschaftliche Professionalität kaschierten Immunisierung gegenüber einer möglichen wirklichen Kommunikation mit dem Subjekt, das das Objekt in der Tat ist. Unglücklicher Weise ist gerade eine verwaltungstechnisch institutionalisierte Wissenschaftlichkeit bzw. Professionalität im Umgang mit Klienten auf diese Invarianz ihrer systeminternen Vorgaben gerade zu abonniert. Der Versuchung, nein, dem sei es bemerkten, sei es unbemerkten Zwang zur Bürokratisierung im Sinne einer Invariantsetzung der als Theorie obendrein mit der institutionalisierten Autorität der Wissenschaftlichkeit versehenen Professionalität in institutionellen Zusammenhängen entgeht faktisch niemand, und besonders dann nicht, wenn die persönlichen Selbsterhaltungsinteressen mit denen der Institution auf Gedeih und Verderb verschränkt sind, in dem Sinne, in dem die sozialen Aufstiege in Institutionen dies erzwingen, in jedem Fall beinahe indem sie den Widerstand von Individuen zugunsten des organisierten Gefüges brechen.

Man kann die oben beschriebebe Entwicklung skizzieren als eine Entwicklung, die von einer Konzeption verläuft, die die Welt als vorübergehende Wohnung des Individuums versteht, das im Schutz seiner Bezugsgruppen sein ihm vorgesehenes Leben führt, während über allem ein allgegenwärtiges und allwissendes Auge wacht, zur Inneneinrichtung des Individuums in einer unbewohnbaren Welt, die ansonsten nur noch von Bestien bevölkert ist, die ihm gleichen.

Man muss sehen, dass die so als ‚Ergebnisse’ zur Darstellung gebrachten – die Darstellung ist auch eine Interpretation im Rahmen von durch das Wissenschaftsfach gerade gestützten, aber auch als auswechselbar, wenn auch nicht unter beliebigen Umständen, geltenden Forschungsparadigmata – ‚Befunde’ einerseits aus der empirischen Untersuchung und Erforschung des Objektbereichs, also über mehr oder weniger umfänglichen Grundgesamtheiten entstehen bzw. gebildet werden, gerade darin aber auch in einem sozioanthropologischen Sinn, der wenigstens ein Hintersinn ist, normativ sind wenigstens insoweit sich der Suggestivität des jeweiligen Status Quo von Massenerscheinungen, die auf Mittelwerte gebracht, in Normalverteilungen eingeordnet und mit Signifikanzen akzentuiert werden, kaum jemand entziehen kann, abgesehen von der ‚normativen Kraft des Faktischen selbst, das ja als Alltag und im Alltag und durch Alltäglichkeit imponiert.

Unter diesen Umständen und auf diese Weise normiert empirische Wissenschaft den Menschen als ein Durchschnittsexemplar im Hinblick auf die Zumutungen des Lebens, die es ertragen lernen muss, wenn es ‚seine’ Lebenschancen wahrnehmen können will. Vorausgesetzt ist dabei schon das Gefüge, in dem dies bloß Chancen bleibt, also dennoch alles unentschieden lässt. Das ist der Reflex einer Empirie, die auf eine Sozialwelt blickt, deren ‚Struktur’ und Verfassung sie sich vorgeben lässt, in dem Sinne, in dem es ihr gleichgültig sein kann, wie deren Verfassung ist, insofern sie das, was sie daran interessieren muss, am Studium der Summe der Exemplare ausmacht, der Grundgesamtheit oder dem repräsentativen Sample. Bestenfalls lässt sie sich von der für solche Strukturen, wo sie über das Ihre hinausgehen, zuständigen Nachbardisziplin in einem arbeitteiligen Gefüge vorgeben, was sie sonst noch zu benötigen glaubt, und kann sich dabei das angesichts des Pluralismus der ‚Ansätze´ und Methoden oder sogar die Methodenstreitigkeiten von letztlich politisierten Wissensformen, zu denen sie am Ende selber sich zählen lassen müsste, für ihre Zwecke geeignete Material beziehen und anderes außer Acht lassen, unter Berufung auf die Wissensexplosion, die die Beschränkung notwendig macht. Unter der Voraussetzung eines hinreichend abgesenkten Anforderungsniveaus an die persönliche Lebensführung im Hinblick auf die sozialen (ethischen und moralischen) Verpflichtungen des Individuums, seiner vorgängig sozial und soziologisch sowie im wissenschaftlichen Ansatz bereits von jedem sozialen Zusammenhang isolieren Individuums, und der praktischen Entkoppelung etwa von Wissenschaft, Moral und Politik bei stark segmentierter Arbeitsteilung und den dabei unvermeidlichen Einschränkungen des Überblicks, die gerade als Kompetenz und Qualifikation auftritt, wird derart, bei einer als einfach vorgefunden betrachteten Umstellung des gesamten kulturellen und sozialen Kontextes, des ‚Weltbildes’ und der ihm entsprechenden Praxis auf reine Selbsterhaltung für jede Entität, ob Person oder Organisation, ob Profession oder Partner (oder dessen vorerst letzte Fraktion: der Lebensunterabschnittspartner) und einem Gefüge, in dem der mittels ‚Assimilation’ und ‚Adaptation’ erreichte praktische Erfolg in einem Segment des unübersehbaren Ganzen die so gesetzte Norm bestätigt, wird das Individuum zur Bestie, freigesetzt im Rahmen des positiven Rechts, das sein Tun lediglich passiv und punktuell begrenzt, und die Bestie angesichts ihres praktischen Erfolgs, der über einer Normalverteilung geordnet werden kann, zur Norm. Schon wer lustlos und halbherzig, mit Zweifeln mitmacht, ist a-nomalos oder gar ab-norm. So ergeben sich die Definitionen dessen, was unter diesen Umständen als krank eingestuft werden kann, negativ aus dem Misserfolg. Festgemacht werden die Krankheitsdefinitionen allerdings nicht unmittelbar an diesem, sondern umgekehrt gelten die Folgen des Misserfolgs, soweit und in der Art, wie sie am Individuum erscheinen, unter den oben beschriebenen Voraussetzungen als die Symptome der Krankheit. Man kann nun, auf die Ilias, die Eroberung Amerikas durch die katholischen Spanier, die Heilige Inquisition, oder auf Hobbes verweisen und sagen, das war doch schon immer so. Darauf kann man antworten, dass diese Überlegung genau darauf hinaus wollte, worauf man sich u. U. anhören muss, damit habe man einer Trivialität ein überflüssig kompliziertes Kostüm umgehängt. Das nötigt dann wiederum dazu zu sagen, dass es einen Unterschied zwischen den vorwissenschaftlichen Kulturepochen und der wissenschaftlich-technischen Zivilisation doch gibt, mindestens der Tendenz nach, nämlich die Tendenz, die Nivellierung der den historischen und sozialen Prozess, sofern es denn in den vorwissenschaftlichen Kulturen einen gab, der auch bemerkt und berücksichtigt wurde in der kulturellen Selbstreflexion, als Entwicklungstendenz, bis auf einen Punkt herunter zu bringen, wo die Biologie mit der Sozialwissenschaft und der Psychologie nicht so sehr auf einer Linie liegt, als vielmehr die Letzteren von der Ersteren und ihren Regeln determiniert werden, wobei Biologie als Lehre mit einer menschlichen Realität zusammenfällt, die, wo sie nicht auf Mechanik oder Physik faktisch regrediert, und das als Wissenschaftsfortschritt betrachtet, während es sich um eine Wiederholung handelte, auf dem Niveau einer Wissenschaft der Tierart Homo sapiens sich einpendelt, der zum Gegenstand eines nicht enden wollenden Großexperiments gemacht wird, dessen Name sich noch mit dem der ‚Gesellschaft’ decken mag, ohne dass das noch mehr wäre als eine gigantische Versuchsanstalt, im Zeichen der Globalisierung eben eine globale. Diese Nivellierung des wissenschaftlichen Weltbildes auf eine empirische Norm, die ihr von einem Prozess vorgegeben wird, den sie nicht in Betracht zieht, und der ihr eine Wirklichkeit vorsetzt, deren Ergebnisse sie sich einfach vorgeben lässt als Material für eine Empirie, aus der sich unter dem Zwang der Normativität des Faktischen und von ihr noch einmal zum Faktum ausdrücklich erhobenen die Norm ergibt, die das Exemplar auf Leben und Tod normiert, ist neu gegenüber der Kontrafaktiziät aller bisherigen kulturellen Norm, die stets darauf verweisen hat, dass ‚der Mensch’ ein kulturelles Konzept ist (bzw. war), das den Homo sapiens als bloßen Rohstoff seinerseits normierte. Dabei ändert sich, und das ist frappierend, an der impliziten Normativität der vermeintlich bloß wissenschaftlichen Befunde nichts, insofern es ja erst das unablässige, nunmehr als Geschichte oder Posthistoire selbst auftretende kollektive Experiment ist, das darüber nunmehr entscheidet, was der Homo sapiens ist, und aus dem Erfolg des Experiments, das jenseits der Grenzen der Wissenschaft vielmehr auch unter Einschluss ihrer selbst und ihres Personals in der sozialen globalen Realität stattfindet, ableitet oder sich sagen lässt, was das nun sei. Neu ist also der Versuch der Nivellierung der impliziten Normativität der so betriebenen Wissenschaften bis auf einen Punkt jenseits des spezifisch Menschlichen oder Gattungsspezifischen, von dem her sich dann wiederum alles Soziale, Seelische, also Menschliche her bestimmen lassen soll. Das ist die in Zynismus umgeschlagene Verzweiflung. Es ist das Mal der Beschädigung, das die dem zur Akkommodation an das von ihr selbst wo nicht postulierte, so doch ihrem Denken, Forschen und Handeln zugrunde gelegte Prinzip diesem Denken zufügt. Von dort aus führt kein Weg weder zurück zum eigenen Urteilsvermögen noch zu einem Verständnis dessen, was am Individuum als Verkörperung des sozialen Misserfolgs dieser Forschung und Wissenschaft als Symptom imponiert, zu dem sie sich einen Verständniszugang zu verschaffen versuchen möchte, indem sie forscht. Freud hat eine Einsicht in das Problem gehabt, als er im Hinblick auf die Selbstanalyse einmal meinte, sie stelle sich selbst und ihrem Objekt, das ebenfalls sie selbst ist, ein unlösbares Problem, insofern sie und weil sie die Gegenübertragung sei, also genau derjenige Widerstand, der die Einsicht verhindert, um die die Forschung ringt, und die der Grund ist, weshalb sie stattfindet.


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