Romantische Landschaft mit Menschenopfer

Romantische Landschaft mit Menschenopfer
Weißt Du wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt...

Donnerstag, 25. Februar 2010

A Chorus of Mushrooms

Eine zurückhaltende Analyse des Verhältnisses von Leser, Text und Autor im Kontext intersprachlicher und interkultureller Kommunikation.

Am Beispiel der Erzählung ‘A Chorus of Mushrooms’ 

von Hiromi Goto.

[Zunächst hatte ich an den Titel gedacht: ‚Adoleszenz und Identität im Spannungsfeld intergenerationeller Beziehungen unter den Bedingungen interkultureller Migration.’ Es hat sich dann aber anderes ergeben. Die in dem ursprünglichen Titel enthaltenen Implikationen sind damit aber nicht hinfällig. Er wäre aber literaturtheoretisch gesehen zu eng. Die Sache gibt mehr her.]

 

Rebecca-Eva

Inhalt

I. Vorüberlegungen

1. Aufgedrängte Vorurteile…………………………………………………………………………………...… .. ….…..3

2. Antididaktische Vorurteile ……………………………………………………………………………….....…….…..4

3. Vorurteil und Leseerfahrung …………………………………………………………………………………….…….6

4. Einiges zum Titel………………………………………………………………………………………….....………..…… 8

5. Analyse der Einführung des Lesers in die Rahmenhandlung ………………………………………..…....9

II. Zur Logik der Relationen Autor-Text-Leser

a) Die Legitimität logischer Untersuchungen eines Textes…………………………………….......….…….11

b) Das Leser-Text-Verhältnis ……………………………………………………………………...……………….…….12

c) Text als Ordnungsform …………………………………………………………………….……………………….……12

d) Verhältnis von Textstruktur, Leser-Text-Verhältnis und Ich-Erzähler-Kommentar ….………13

III. Ein Vorgriff auf Sinn………………………………………………………………….....……….……...13

IV. Überlegungen zur Makrostruktur der Erzählung.

  1. methodische Vorfragen…………………………………………………………………………....………….…15

  2. Die Makrostruktur der Erzählung……………………………………………………………….………….…16

ba) Die Rahmenerzählung………………………………………………………………….…...………………………..16

bb) Die Kernerzählung………………………………………………………………………......………………………..17

bc) Shinto als Kern der Konstruktion der Erzählung……………………………………………………………17

bd) Der latente Konflikt von (kapitalistischer) Zivilisation und Kultur (im traditionellen Verständnis eines kollektiven Konzepts des ‚Menschen’) ...……………………………………..…………………………….18

V. Zwischenbilanz ………..…………………………………………………...……………..………………...19

VI. Ein mögliches Ergebnis der Textanalyse von ‚A Chorus of Mushrooms’

1. The Lonely Crowd…………………………………………………………………………………….……..…………….21

2. Identitätsprobleme ………………………………………………………………………………….……………….….22

3. Suchtstrukturen……………………………………………………………………………………….…………………..23

4. Eigenartige Koinzidenz………………………………………………………………………………………………....24

5. You know there’s a problem……………………………………………………………………………...…….…..24

6. Migrationstrauma…………………………………………………………………………………………....………….25

7. Die eigene und die fremde Kultur……………………………………………………………………...…...…….26

8. Life-style und Kultur …………………………………………………………………………………...…...…………28

9. Beziehungskisten…………………………………………………………………………………….………..………...29

10. Ein Sattelpunkt…………………………………………………………………………………………..….………....31

11. Roadmovie………………………………………………………………………………………………………………...31

12. End of a ‘love story’? .............................................................................................…….….31

13. Die Integration des Selbst………………………………………………………………………….……….……...33

VII. The Lone Ranger or ‘Riding the Bull’

1. Ein amerikanischer Trivialmythos und das archaische Größenselbst.

2. Der Triumph des integrierten Selbst ……………………………………………………………………….…...35

4. Defizite …..……………………………………………………………………………………………..………………..…35

4. All’s well that ends well ? ...…………………………………………………………………………...……..……..36

VIII. Vorläufige Nachbemerkungen

1. Where does one thing end and another begin?..................................……………………………....39

2. Weitere Problemkomplexe…………………………………………………………………………….…….….…...42

IX. Nachweise von Textstellen, die als ‚Folie’ für die weitere Interpretation von Bedeutung sind; Kurzangabe der damit verbundenen Interpretationsabsichten

1. Shakespeare’s Behandlung der geschlechtlichen Liebe…………………………………………………….46

2. Platons Behandlung der Liebe als Eros………………………………...............................................47

3. Vorgriff auf mögliche weitere Interpretationsergebnisse………………………………………………...48

4 . Ein Mythos über die geschlechtliche Liebe……………………………………………………………….…….55

5. Das Problem des literarischen Urteils angesichts des literarischen Konsums…………………….59

(Die Zahlenangaben beziehen sich auf die Seitenzahlen des ursprünglichen Textdokuments)

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Unvollständige Analyse des Verhältnisses von Leser, Text und Autor im Kontext intersprachlicher und interkultureller Kommunikation.

Am Beispiel der Erzählung ‘A Chorus of Mushrooms’ 

von Hiromi Goto.

I. Vorüberlegungen

„Add a layer of cultural displacement and the tragedy is complete“.

Hiromi Goto, A Chorus of Mushrooms, p. 98)

1. Aufgedrängte Vorurteile

Nimmt man das Buch von Hiromi Goto, A Chorus of Mushrooms zur Hand, dann fällt zunächst die Sammlung enthusiastischen Lobs auf, die die erste und zweite Innenseite und die Rückseite des Buches einnehmen. Das Auge fällt auf ‚Winner’, ‚high praise’, ‚expertly’, ‚such love for words’, ‚breathtaking beauty’, ‚masterpiece or our times’, craftsmanship’, ‚weaves realities and mysteries into a subtle pattern’, der Verlag erklärt das Inuitwort ‚Nunatak’, das die Reihe charakterisieren soll, u.a. als ‚peaks above the ice sheet’ und vergleicht die von ihm verlegten Werke mit diesen eigentümlichen Bergriesen und qualifiziert sie als ‚specially selected’ und ‚outstanding’. Auf der Rückseite wird die Autorin – anders als auf der letzten Innenseite, die ihre irdische Ausbildung rekapituliert – als ‚Japanese Canadian feminist writer’ vorgestellt und der Gegenstand der Erzählung ‚explores the collision of cultures within a family between three generations of Japanese Canadian Women’, moved from the Westcoast to southern Alberta.

Von Sport- über Handwerks  und Kompetenzmetaphern zu künstlerisch-kunsthandwerklichen Metaphern geht der Weg aus, der auf ein Gebirge im Breitwandformat über die nun tief unter uns liegende Ebene hin sich verläuft, die Rocky Mountains, wir staunen, links schwimmen imponierende Altocumuli beinahe auf Augenhöhe, riesig erstreckt sich das Massiv der Bergriesen über dem Eis, unter ihnen ragt einsam ein alle überragender Gipfel (!), der Blick schwingt herum und fällt auf die betonte Sorgfalt der Auswahl (ein Werbeprospekt), wendet scharf zum Multikultifeminismus (politische talk-show) und landet unversehens auf der Betonpiste der generationenübergreifend interkulturellen soziopsychologischen Sozialisationstheorie (Literaturtheorieseminar). Halle, Lärm, Abfertigung, letzte Kontrolle, die Flughafenbuchhandlung, Tiefgarage und dann über die Autobahn in die Innenstadt. Diese ewigen Geschäftsreisen. Schon wieder kein Parkplatz zu finden usw. Verdammt! Zurück auf der Erde. Actionkino. The End. Der Text ist in diesen Antizipationen nicht zu antizipieren, nicht einmal zu erahnen. Oder doch?

Das kann ausreichen ein gutes Buch zu disqualifizieren, wenn es auf eine/n Leser/in trifft, der/die es gewohnt ist, sich sein/ihr Urteil nicht vorgeben zu lassen, noch bevor er/sie etwas von dem gelesen hat, worum es tatsächlich geht in einem Buch, und vor allem, einen Leser, dessen kulturelle Welt sich ihm bewusst, wenn auch nicht notwendig ausschließlich ‚im Lichte des Seins’ darstellt, das die Sprache ist. So jedenfalls bestimmt Martin Heidegger zu Recht die Natur der Sprache jenseits ihrer technischen Zurichtung für die Zwecke der Bewirtschaftung der Tiergattung des Homo sapiens. Was ihm/ihr entgegentritt und aus allen Rohren schwere Einflussnahmemunition auf ihn abfeuert, ist eine Reihe von Kalkulationen auf seine Beeinflussbarkeit, anders gesagt, ein Marketingkalkül. Er/sie kann sich sogleich im Spiegel dieses Kalküls erkennen, Zielgruppenzugehörigkeit, ‚beliefs’, attitudes, behavior, gender, income, education, profession, number of computers, main use, how many kids, position in enterprise etc., oder Affinitäten zu den entsprechenden ‚Zielgruppen’. Zugleich erscheint der Leser, der da etwa Bedenken hätte, als (der eigene innere) Gegner der entsprechenden Einstellungen etc. oder Gruppen.

Zusammen mit dem überschwänglichen Lob wäre er als Gegner solcher Einstellungen und Gruppen ein Dummkopf. In strahlendem Licht erhebt sich dagegen gleich einem Nunatak der getreue Leser dieses Buchs, der die ihm vor-gelegten, um nicht zu sagen, vor-geschriebenen Urteile und natürlich auch die Autorin – als ‚Japanese-Canadian feminist writer’ – nicht mit kritischen oder auch nur mit nüchternen Augen zu betrachten wagen würde. Diese getreue Gefolgsperson der Autorin ist profeministisch und multikulturell, und zwar vor allem wenn er nicht ‚Japanese’ ist, sie ist vermutlich weiblich oder jedenfalls sehr interessiert an ‚women’s emancipation’, er mindestens aber wohlwollend, zumal als Lebensunterabschnittspartner der Leserin, die das Buch auf dem Nachtisch liegen hat, und vor allem, sie findet das Buch irgendwie echt total und absolut toll, diese Person. Das definiert dann die Voraussetzungen der Lektüre. Aber was besagt, dass die Autorin a Japanese-Canadian feminist writer ist? Es gibt viele Japaner/innen oder Kanadier/innen oder Japano-Kanadier/innen, die sicher gar nichts schreiben. Ebenso Feministinnen. Fügen also diese ‚Attribute’ der Qualifikation der Autorin als Schriftstellerin etwas hinzu, das diese wesentlich modifiziert? Und woran kann man das bemerken?

So gesehen ist der Text ganz offenbar unter der Rubrik des didaktisch Wertvollen und politisch Angesagten eingeordnet. Er empfiehlt sich offenbar für Schulen und Proseminare und sucht da seinen Absatzmarkt. Er gehört damit in die Rubrik Anne Frank, Der Richter und sein Henker, Die Judenbuche, Draußen vor der Tür, Wallenstein, Stupid White Men, und die jetzt virulent werdende ‚Ethnowelle’, die angesichts dem Umstandes, dass Deutschland nun doch Einwanderungsland wird oder ist (oder doch schon wieder eher nicht mehr?) zur Volkserziehung beizutragen haben wird, im fremdsprachlichen Unterricht. Der Staatsdiener in spe wird sich darauf einzurichten haben. Angesichts der Arbeitsmarktlage ist aber Abwarten erlaubt. Man wird sich gegen die gerade geltende Kultur im Verständnis der Politik entscheiden dürfen, wenn man nicht eingestellt wird. Das widerspricht natürlich dem Grundgedanken der Kultur, die man sich ja aneignen soll, also derart, dass man die politisch erwünschten Vorurteile jeweils als die eigene Meinung verteidigt gegen jeden Angreifer. Es ist zu befürchten, dass der üblich gewordene Gebrauch von Kultur für politische Zwecke einen Strich durch diese Rechung machen wird. Man kauft schließlich seinen Computer auch dort, wo er am billigsten ist, und rechnet nicht damit, dass das Geschäft noch existiert, wenn man den nächsten kaufen will. Und man weint den alten Modellen keine Träne nach. Sie werden entsorgt.

2. Antididaktische Vorurteile

Was ein gutes Buch ist, wird aber auf diese Weise nicht entschieden. Es wird entschieden nicht durch die Bestsellerlisten und die Klappentexte, sondern durch ein über die Zeit, über lange Zeit konstantes und immer wieder neu entfachtes Interesse, und durch die damit verbundene Selektion. Was übrig bleibt, hat diese Selektion überstanden, und natürlich auch Zufälle, die sogar ein gutes Buch verschwinden lassen kann, aber angesichts der weiten Streuung dieses nicht per Befehl sich erhaltenden Interesses von unabhängigen Lesern, ist doch eine höhere Wahrscheinlichkeit für Bücher zu erwarten, die ein solches Interesse wach halten in der Erinnerung an die Lektüre, als dies bei Büchern der Fall ist, die sich in Erinnerung halten wollen durch das Lob im Klappentext. Das kann als ‚Abtörner’ erscheinen, aber es ginge an der Sache vorbei, die Überlegung so zu verstehen.

Der/die Leser/in hat nicht nur ein Recht oder einen ‚Anspruch’ darauf, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die Großzügigkeit des Zugeständnisses geht schon zu weit, denn wem stünde es denn zu, dazu die Lizenzen zu vergeben? Rechte können entzogen werden, durch ‚den Gesetzgeber’, Ansprüche können als ‚erledigt’, erloschen’ deklariert werden, so wie sie zugestanden oder eingeräumt werden, meist ebenfalls per Gesetz. Die nächste ‚Reform’ macht sie rückgängig, liquidiert sie, nach Belieben, unter Berufung auf das Mandat durch den Wähler, also eine anonyme Masse, die auf einem Zettel ein Kreuz an einer bestimmten Stelle hinterlassen hat, und die Addition dieser Stellen ergibt dann das Mandat, das den Gesetzgeber ermächtigt dazu, Ansprüche zu gewähren oder ein Recht darauf anhand eines auszufüllenden Vordrucks zu ‚prüfen’, und dem ‚Klienten’ das Ergebnis der Prüfung seines Anspruchs anhand der Rechtslage mitzuteilen usw.

Und selbst wenn der/die Leser/in ein Recht oder einen Anspruch darauf hätte, sich ein eigens Urteil zu bilden, heißt das dann auch schon, dass er/sie es in Anspruch nehmen müsste, oder kann? Ketzerische Fragen, heikel, und am Rande der ‚political correctness’, die wir oben noch nicht mit aufgezählt hatten. Höchste Zeit, das nachzuholen.

Es gibt einen bestimmten eingespielten Stil der Inszenierung von Kommunikativität in den USA, der einfach alles ‚wonderful’ und marvellous’ findet, and ‚so exciting’. Er ist bedeutungsfrei und hat die Funktion der Erzeugung von ‚sozialem Geräusch’. Die darin dokumentierte Begeisterung für den anderen dauert genau so lang wie er anwesend ist und wird dann ausgeknipst wie eine Lampe. Der Klappentext evoziert diesen Ausdruck eines diffusen Konformitätsdrucks, der die reflektierte Überlegung nicht verträgt und ausschließt als Spielverderberei, als Störung der guten Stimmung. Und die stark konturierten Ergänzungen aus dem schon im engeren Sinne politischen Bereich, die dazu genau genommen gar nicht zu passen scheinen, könnte man sie doch gerade als die ausgeschlossene Spielverdreberei erleben, wenn man ein Ohr dafür hat, wie Spielräume eingeschränkt werden, wendet den Konformismus in eine bestimmte politische Richtung.

What’s next: Titel, Autorin, gut, weiter: Widmung, Der Großmutter in Liebe, ein befreites Bekenntnis, alles auf ganz offener Bühne, Acknowledgements (im Plural): Ich danke meiner Frau und meinen Sekretärinnen und allen Institutsangehörigen für ihre Geduld und das zehnmalige Umschreiben des Manuskripts, ohne deren aufopfernden Einsatz es nicht möglich gewesen wäre, dass…,der xyz-Stiftung für die Finanzierung…nein, aber die funktionalen Äquivalente, alles bloß Müten in Tythen, Fiction, ‚´the ‚strong´ Calgary writing community’ (seltsamer Verein, ich dachte SIE schreibt), ‚continued support and always encouragement’, das war wohl nötig, die Autorin wird scheint auf Krücken zu gehen und zusätzlich rechts und links gestützt zu werden, während hinter ihr vorsorglich noch ein Rollstuhl mitgeführt wird, ein Schwarm von Krankenschwestern und Hilfsorganisationen steht bereit, zwei Organisationen, ‚Multikulturalismus und Bürgerschaft Kanada’ und ‚Nationale Vereinigung japanischer Kanadier’ wird gedankt ‚for funding this project’, und schließlich der Japanischen Gemeinde von Calgary.

Was für eine backing group und was für ein road management. Links und rechts die Lautsprechertürme, hinten noch ein riesiger Projektionsschirm für die ganz hinten stehenden Fans; da kann je nichts mehr schief gehen. Hier kommt kein Autor auf einen Leser zu, das ist der Aufmarsch einer geordneten militärischen Formation in breiter Front. Die private Beziehung zwischen Leser und Autor weicht einer Machtprojektion. Hier arbeitet eine Industrie, die ihre Erfolge kalkuliert und ihre Konzepte längst auch auf die kulturell elementare Beziehung zwischen Leser und Text resp. Leser und Autor ausgedehnt hat. Darin kündigt sich aber nicht Kultur an oder stellt sich dar, sondern ihr Ende – als Industrieprodukt und eine Form des Privateigentums von Großorganisationen, die sich professionell mit der Herstellung von ‚beliefs’ und ‚attitudes’ oder ‚behavior’ befassen. Hinter dem privaten Geltungswunsch der Autorin, den der Betrieb in seine Nutzungskalküle einsetzt und als ‚Individualität’ auf einem dafür vorhandenen Markt anbietet, wird die stählerne, bis an die Zähne bewaffnete Maschine der globalen Diktatur der bewirtschafteten Tiergattung Homo sapiens sichtbar, bevor der Leser noch ihren Zerstörungspfad in den Text hinein zu verfolgen imstande war. Das Projekt erweist sich als politisches Projekt, Multikultipolitpop, it ‚heralds a major debut in Canadian literature’, wie es auf der Rückseite noch einmal eindringlichst heißt. Der Noch-nicht-Leser ist nun bestens konditioniert - auf absurdes Theater. Unter diesen Umständen kann der Text kaum halten, was derart versprochen worden ist.

Diese Kommentare sind dem Buch nicht dienlich. Sie unterbieten womöglich das Niveau des Textes und drängen sich während der Lektüre ständig unangenehm auf, und sei es nur, weil der Text sie widerlegt. Sie stellen aufgedrängte Vorurteile in einem Kontext dar, der darauf besteht, dass der Leser in einem bestimmten politischen Sinn vorurteilsfrei zu sein hat, was natürlich ganz unmöglich ist. Denn als letzte Qualifikation des Lesers ist seine ’antirassistische’ Einstellung obligatorisch, vorausgesetzt oder erwünscht. Tatsächlich geht es um all das überhaupt nicht.

3. Vorurteil und Leseerfahrung

Warum ist dies alles nun ganz ohne Belang? Darf der Leser nicht ein Chauvinist, Rassist und politisch ganz anders ausgelegt sein als alle diese Einflüsterungen es ihm vorzuschreiben versuchen? Darf er nicht das Vorurteil haben, dass das ‚komisches Buch’ ist, und skeptisch in Bezug auf das ihm so überschwänglich nahe gelegte Machwerk?

Klar darf er. Er/sie kann gar nicht anders. Von dürfen kann keine Rede sein. Das Vorurteil ist die Voraussetzung aller Lektüre und aller Auslegung von Texten. Außerdem ist der Text weder Japaner noch Kanadier, er hat weder eine Rasse noch eine Nationalität, obwohl er in einer bestimmten Sprache verfasst ist. Für die kommt es aber nur darauf an, dass man einen Zugang zu ihr hat, zu ihrer Syntax und ihrer Grammatik sowie zu ihren semantischen und pragmatischen Dimensionen.

Der Leser, die Leserin befindet sich allein einem Text gegenüber. Ein Text hat ist eine Gestalt der Sprache, genauer eine Gestalt der Sprache in der Bedeutung von ‚parole’. Er nutzt ein Segment, eine Auswahl der Möglichkeiten, die die Sprache bietet, als Struktur verstanden, um sprachlich Darstellbares sprachlich darzustellen. Einer seiner Gegensätze ist die Abbildung oder die Musik, aber dies sind weder kulturelle noch rassische noch sprachliche Gegensätze. Es sind auch keine geschlechtlichen Gegensätze. Ebenso bezieht sich die Enteignung von Bewusstsein und Sprache nicht auf ein Geschlecht oder auf eine bestimmte Menschengruppe.

Die ‚Modernisierung’ hebt diese Art der Organisierung der kulturellen Benachteiligung beschleunigt auf. Sie passt sie funktional an die ‚Systembedürfnisse’ an und erhält sie (mindestens) im Großen und Ganzen, wenn man nicht Anlass hat zu der Meinung, dass sie sie zu verstärken sich anschickt, weil der Bedarf an Gebildeten oder sogar Ausgebildeten angesichts des erreichten Standes der industriellen Maschinerie und der Rationalisierung der Großorganisationen zurückgeht, so dass es nicht länger notwendig ist, ein auf die gesamte Population (gar des Globus) bezogenes Aufklärungskonzept zu propagieren, das die Zwangsalphabetisierung der Populationen rechtfertigt. Tatsächlich gibt es schon Autoren, die diesen ‚Trend’ bemerkt haben und ihn als eine neue ‚kulturelle Entwicklung’ in Richtung auf eine Nachschriftkultur zu legitimieren versuchen, also als ‚Fortschritt’, im Gegensatz zu einer Regression oder einer Stagnation, gar zu einer globalen Barbarei. Das kann hier nicht behandelt werden und dient nur der Hervorhebung des Umstandes, worum es hier tatsächlich geht, jenseits der ‚Interpretation’, die die Sachverhalte zu überlagern versucht, indem sie sie umdeutet. Und das ist die Beziehung zwischen Leser/in und Text, zunächst, und darüber hinaus die zwischen dem Autor/der Autorin und dem Leser.

Was der/die Leser/in können muss ist sich ein Urteil zu bilden. Das setzt Vorurteile voraus. Ohne Vorurteil kein Urteil. Jedes Urteil operiert auf einer Materie. Das sind die Kenntnisse, die zur Bildung eines Urteils vorauszusetzen sind. Kein Urteil kann sich in einem Leerraum bilden. Jedes Urteil hat eine Form. Diese ist prinzipiell sprachlicher Art, auch wenn die Leute ‚mit den Füßen abstimmen’, also etwa, wenn man die Flucht ergreift. Wenn man sich verleibt, ist das Urteil gewöhnlich getrübt, dafür fühlt man sich besser, jedenfalls solange, bis das Urteilsvermögen wiederkommt.

Die Anlässe dazu ergeben sich. An ihnen kann man sehen, was ein Vorurteil ist. Es ist das, was die Erfahrung hinter sich lässt oder bestätigt: Man hat es gleich gewusst, von Anfang an, bzw. man hat etwas dazu gelernt. Der selten gewordene Fall eines Erlebens, das dem/der beschert ist, der/die ganz ohne es ausdrücklich zu wissen eine ihr/ihm kaum vorschwebende Erwartung, von deren Herkunft er/sie nichts weiß, eintreffen sieht ohne dass ihre Erfüllung jemals vergeht, belässt die Grundlage des Urteils und seine operative Aktion zugleich in einer Latenz, die zu keiner Reflexion zwingt und ist identisch mit der reinen Dauer des ungetrübten Glücks. Aber wem passiert das schon noch?

In jedem Fall ist die Leseerfahrung eine der Erfahrungen, die das Urteil aktiviert und seine bisherigen Grundlagen, indem sie diese mit möglichen anderen konfrontiert bzw., weniger militant, zusammenbringt, damit Reflexion, Urteil und ihre Materie sich neu ordnen können. Nicht nur liest der/die Leser/in den Text, auch der Text liest den Leser. Es gehört zur Eigentümlichkeit der Magie der Leseerfahrung, dass sie den Leser verändert ohne dass dieser es gewöhnlich bemerkt. Liest er eine Weile englischsprachige Bücher, dann beginnt es auch schließlich ganz selbständig in ihm Englisch zu denken und sogar zu träumen. Der Text verändert den Leser. Liest die Leserin in der ihr gewohnten Sprache, dann bemerkt sie das gewöhnlich nicht so deutlich, aber da das bemerkte Denken oder Träumen in der noch nicht so gewohnten Sprache ja auch Bedeutungen bewegt und handhabt, geht eben dasselbe auch beim Lesen von Texten in der gewohnten Sprache vor sich. Auf diese Weise wechseln Vorurteil und Urteil unablässig die Stelle.

Vorurteil ist immer das Urteil, das zur Materie des sich neu bildenden Urteils wird, das die sich langsam ansammelnden Materien unablässig miteinander vergleicht und neu in Beziehung setzt. Das ist auch ein rein neurophysiologischer Vorgang, der nicht einmal gewollt werden muss. Man stellt sich das Lernen ganz falsch vor. Man lernt immer sehr viel mehr als gerade ‚vermittelt’ wird. Lernen durch Lesen geschieht absichtslos. Das ist der Vorteil, den der begeisterte Leser genießt, es ist das Geschenk, das ihm seine Neugier, sein Interesse, seine Begeisterung für das Lesen macht, dass er ohne es zu wissen lernt. Man mag das dann einen ‚Prozess’ nennen, aber es ist eher ein vernetzter, über viele verzweigte Kanäle zugleich laufender Vorgang, dem das in der Prozessmetapher gedachte Lineare eigentlich fehlt. Vor allem gibt es keine Angeklagten, keine Verdächtigen, keine Verteidigung und keinen Staatsanwalt, so wenig wie eine Verurteilung, einen Freispruch oder eine Strafe.

Das Urteil des Lesers bildet SICH. Der Leser muss diesem Spiel der Sprache mit sich selbst nur aufmerksam zusehen lernen. Nicht der Leser bildet sich, und wenn, dann anders, als das gewöhnlich gemeint ist. Die Lektüre ‚geht einem durch den Kopf’, verschwindet, man denkt an etwas anderes, bis das Gelesene an ganz anderer Stelle und in ganz unvorhergesehenen Konfigurationen mit anderen Gedächtnisinhalten wieder auftaucht und alles leuchtet dann in einem anderen Licht und manchmal bemerkt man das dann sogar und hält einen Augeblick inne.

Sich einer Lektüre aussetzen heißt die bewusste Erwartung verabschieden, sie zu suspendieren zugunsten einer unbestimmten Offenheit der Erwartung, einem festgehaltenen Blick auf einen Horizont, von dem her das Neue, Unerwartet-Erwartete kommen wird, und zu warten auf jene Momente, in denen der Blick oft starr auf den gar nicht mehr wahrgenommenen Text fixiert ist, während man, entführt von einer aufblitzenden, von der Lektüre ausgelösten Assoziationskette in einer Kaskade von Bildern und Vorstellungen sich verliert ohne es noch zu wissen, oder in dem der Blick über dem Text entlang gleitet, ohne ihn selbst noch wahrzunehmen, während man mit ihm gewissermaßen kurzgeschlossen ist, so dass der Wahrnehmungs  und Lesevorgang verschwindet, während man in den von der Lektüre evozierten Welt ganz unmittelbar gegenwärtig ist. All dies ist die ‚Leistung’ des Lesers, aber er empfindet es nicht so, weder als ‚Leistung’ noch als ‚sein’, insofern Gegenwärtigsein in einer Welt keine Leistung eines Ich ist, sondern reine Gegenwärtigkeit, so wie man beim Blick auf eine Blüte oder Landschaft nicht den Blick oder den Sehvorgang oder das Auge sieht, sondern die Landschaft, die sich vor dem Blick darbietet und einlädt sie zu betreten. So ausgestattet und an diesem Punkt betreten wir die Welt des Textes.

4. Einiges zum Titel

‚Chorus’ ist ein Terminus aus der Fachsprache der Musik bzw. dem Musiktheater, und bezeichnet den Chor, und bezieht sich auf die zum Chor gehörigen Sänger oder auch eine Gruppe von Tänzern oder Tänzerinnen eines Balletts. In Partituren ist die als Chorus bezeichnete Sequenz gewöhnlich ein von mehreren der Aufführenden gemeinsam gesungener Teil eines Liedes oder Gesangsstückes. Die Gemeinsamkeit, die die Gruppe definiert, ist also entweder der Gesang oder der Tanz. Im Deutschen kann man das nicht sinnvoll wiedergeben, und kann, wenn man ‚mushrooms’ als Leitmetapher festhält, am besten übersetzen als ‚Ein Korb mit Pilzen’. Das charakterisiert jedenfalls hinreichend genau und dem Text angemessen metaphorisch bzw. lyrisch die Gestalt des vorliegenden Textes, holt aber den Lyrismus des Terminus Chorus im Titel natürlich nicht ein, insofern der Aspekt des Tänzerischen und des musikalischen nicht ausgedrückt ist.

Ein Korb, wenn er nicht an einen ‚Warenkorb’, und damit an die Ermittlung der Inflationsrate erinnert, erinnert dann vielleicht an Rotkäppchen, und damit sind wir schon bei der kulturellen Determinierung des semantischen Feldes der Sprache. Das Englische befreit uns zunächst von Rötkäppchen mitsamt dem Wolf, der Großmutter und dem Jägersmann, und auch von der drögen bürokratischen Ermittlung der Inflationsrate (alles eh gelogen) und öffnet ein semantisches Feld, in dem sich eine Gruppierung von schmackhaften Speisepilzen (wir übergehen den Einwand, sie könnten ungenießbar oder giftig sein, und halten uns in dieser Hinsicht an den Klappentext, der die Erzählung eindeutig unter die empfehlenswerten Genuss  und Lebensmittel einordnet) zugleich in einem Reigen zeigt, den Musik und Gesang begleiten. Das hört sich doch gut an.

Eine von der Kultur Europas und ihren griechisch-römischen Wurzeln ist allerdings in der Bedeutung von ‚chorus’ = Chor nicht zu eliminieren. Das ist der Ursprung des Wortes und seiner Bedeutung aus dem Kontext der Kultur der griechischen Polis und einer ihrer wichtigsten politisch-kulturellen jährlichen Gemeinschaftsveranstaltungen, den Panathenäen, bei denen Dichtungen, die Tragödien aufgeführt wurden, meist im Wettstreit verschiedener Dichter, die meistenteils auch in der Politik der Polis von Bedeutung waren und gelegentlich sogar aufgrund eines ihrer aufgeführten Werke zu Strategen gewählt wurden, wie z. B. Sophokles, der aufgrund seiner Interpretation der ‚Antigone’ im Jahr 441 v. Chr. Ein wesentliches Element der dichterischen Form der (griechischen) Tragödie war (ist) der Chor. Er repräsentiert die Gemeinschaft der Bürger und ihrer schwankenden Stimmungslagen, Ahnungen und Zukunftserwartungen, aber auch das Übliche, also die kulturell geltenden Normen. Im Einzelnen muss man das den betreffenden Dichtungen entnehmen, denn die verschiedenen Autoren machen von der Möglichkeit, die der Chor technisch darstellt, unterschiedlichen Gebrauch.

Der Chor ist ein archaisches Element der europäischen darstellenden Kunst und verweist auf die Wirklichkeitsschicht und das ihr entsprechende Bewusstsein einer Grundbefindlichkeit der menschlichen Existenz, die weder durch Therapie und Sozialarbeit, noch durch Psychologie und verwaltungstechnische Rationalisierung neutralisiert noch überboten oder außer Kraft gesetzt werden kann, sondern sich gerade spezifisch modern mittels all dieser Veranstaltungen als Wirklichkeit zur Geltung bringt. Anders gesagt: Dieses Wesenselement der menschlichen Existenz ist fortschrittsneutral und kulturübergreifend, wenn auch nicht notwendig kulturübergreifend bewusst verfügbar.

5. Analyse der Einführung des Lesers in die Rahmenhandlung

Sogleich rächen sich die durch die Einführung vorgegebenen Vorurteile am Leser. Er erwartet einen drei-Generationen-Konflikt, aufgebaut nach dem Muster einer Familiensage, Buddenbrocks vielleicht, oder Biblisches, nach dem Muster Abraham, Isaak und Jakob, mit einer Konversion zu Israel, parallel dazu dann die Geschichten von Sarai, Rebecca, Rahel und Leah, oder einer Atridensage, durchtränkt mit dem Zeitgeist der Reflexion, der seine Materialien je nach Vorliebe an das Material heranträgt und damit verwebt, aber nix davon.

Der/die Leser/in stolpert unversehens in ein abgedunkeltes Schlafzimmer und wird zum Zeugen, wenn nicht zum Voyeur oder gar zum Teilnehmer an einer Intimszene. Glücklicher Weise hält sich alles im Rahmen der Zensurregeln Hollywoods, so dass es nicht zu peinlich wird, aber der in protestantischer Ethik bis ins Rückenmark und die efferenten Nervenenden hinein enkulturierte Leser bleibt etwas starr beim Anblick dieser Szene, an der teilzunehmen er eingeladen ist. Selbst wenn es nahe Freunde wären, behielte die Szene etwas für den Betrachter Beklemmendes. Es ist richtig, das zu erwähnen, wo Multikulturalismus derart laut in Anspruch genommen wird, Kommune Eins und Baghwan hin oder her. Die Geliebte, oder vielmehr, die Liebende führt das Wort. „We lie in bed…“ Was, wir alle? Ich also auch. Das ergibt ausgesprochen unbürgerliche Zustände. Menage a trois oder folie a deux? Immerhin, aus dem Internet ist man inzwischen auf Härteres gefasst, man ist gewarnt auf alles gefasst sein zu müssen. Dass Menschen sich lieben ist bekannt, aber das muss nicht auf diese Weise dokumentiert werden. Fehlen hier die Worte? Bekanntlich bedeutet ‚sich lieben’ im traditionellen Wortschatz alles jeweils damit verbundene, und gewöhnlich bleibt es bei der damit verbundenen Unbestimmtheit aus guten Gründen, die etwas mit der notwendigen Exklusivität des Gemeinten zu tun hat, weil die Liebe in praxi nicht jeden einschließen kann, ohne dass das Geliebte um seine Individualität gebracht wird, also vernichtet.

Also gut, machen wir’s uns zunächst im Ungemütlichen gemütlich. Die Unterschreitung der kulturell üblichen Distanzen, die dem sozialen Leben und der Individualität Halt geben, bleibt störend. ‚Ich’, angesprochen als ‚Du’, die rauhe Hand unter einer Brust, die mir gerade noch völlig fremd war, ich kenne sonst keine Japanerinnen. Meine Hand ist nicht rauh, ich lege Wert darauf. Feingliedrige Pianistenhände sind das, die auch elegant und spinnenartig, wie mit Eigenleben begabt Schalldämpfer auf halbautomatische Waffen schrauben können, während meine angenehme und sanfte Stimme dem prädestinierten Opfer leise und sine ira et studio langatmig erklärt, dass jetzt seine Stunde gekommen ist und dann zur Exekution schreitet gerade bevor der Kommissar mit gezogener Waffe eingreifen will. Zu spät, ich habe damit gerechnet, ich habe den Film gesehen, haha. Ein Mythos ist den anderen wert. Warum soll meine Wirklichkeit ‚realer’ sein müssen als die fiktionalisierte Familiengeschichte, die andere mir zumuten?

Ginge nicht auch eine Mutter-Kind-Konstellation? ‚Will you tell me a story“? you ask’. Was, ich? Also gut, ich bin der Leser und Geliebte der Autorin, aber was, wenn ich weiblich bin, dann muss ich mich jetzt einfühlen in die Liebende, sonst…lassen wir das, oder ich könnte mich auch als Mann imaginieren, vorläufig, hypothetisch oder so. Schwierige Lage, weiter.

Ich möchte also eine story hören. Hab ich doch gesagt, sagt sie. Dann beschreibt sie ihre Atemübungen. Dann sagt sie wieder, was ich sage: „Will you tell me a true story?“, sage ich, im Rollentausch des/r Leser/s/in mit dem Geliebten (isses doch, oder?), ich bestehe also darauf, dass die story wahr ist, sagt die Ich-Erzählerin (sie erzählt mich) und kriege prompt die Quittung dafür: „A lot of people ask that. Have you ever noticed?“ Ist mir natürlich nie so richtig aufgefallen. Ein didaktischer Schnellzug rast zu meiner Belehrung heran und ich liege auf den Schienen. Kopf einziehen: „It’s like people want to hear a story, and then, after they are done with it, they can stick the story back to were it came from. You know?” Also hier muss ich mich einordnen. Natürlich sage ich jetzt Blödsinn: “Not really, you say”, sagt sie, dass ich sage, während ich merkwürdige Bewegungen hinter ihrem Rücken ausführe. Oder schaue ich bloß zu dabei? Nichts stimmt hier. Weder habe ich die Erwartung eine story erzählt zu bekommen, noch meine ich, das Erzählte sollte ‚wahr’ sein müssen, eher schon wahrscheinlich in dem Sinne, in dem gilt: Das Wahrscheinliche ist wahrer als das Geschehene (Das ist eine Definition der aristotelischen Poetik, die derart die Dichtung gegen die Historie abhebt und begünstigt als wahrheitsähnlicher.) Und schon gar nicht gilt die Belehrung, die mich schulmeistern will aus einer unangemessenen Übersicht, mit einem daher geholten Vergleich: „It’s like people…“ usw., mit diesem „You know?“ am Ende, das mein Einverständnis schon voraussetzt. Entsprechend muss ich jetzt auch sagen: „Not really“ um mir dann ‚a true story’ erzählen zu lassen, die sich als ‚fiction’ basierend auf ‚contemporary folk tale’ angekündigt hat. Dieses ‚you know?’ verdient eine eigene Betrachtung als ‚Sprachverhalten’, denn als solches ist es in der Tat zu qualifizieren. Der Behaviorismus ist nicht zufällig jenseits Europas als Psychologie entstanden. Er setzt etwas voraus, das dort undenkbar war. Inzwischen importiert es der Kulturimperialismus so gut er kann, und das heißt, mit den Mitteln eines mehrfachen overkills von Finanzkapital.

Das mit der Mutter-Kind-Konstellation war doch keine so gute Idee. Nicht einmal als Erwachsener laufe ich gern in solche Kommunikationsfallen, als Kind bin ich ihnen ausgeliefert ohne sie zu bemerken, und das wird zu einem Teil meines eigenen ‚Kommunikationsverhaltens’ und zu einer Gewöhnung, die fatal sein müsste, denn das lässt man sich dann so gefallen wie man es epidemisch ausstrahlt. Ich bestehe aber drauf: „But will you still tell me?“ Wo ist der Ausgang? Ah, hier. Ich bin gar nicht gemeint. Ich stehe bloß dabei. Also gut, sagt sie, aber nimm Rücksicht auf meine Sprache, mein Japanisch ist nicht so gut wie mein Englisch – das geht mir genauso – und ich werde nicht alles verstehen, was sie sagt. ‚But that doesn’t mean the story is no there to understand’. In die Pflicht des Verstehens also…Müsste man da nicht ein ‘…there to be understood’ erwarten dürfen, im grammatischen Passiv? Denn wer immer ich nun bin in diesem Szenario, ist es nicht meine Sache, wenn überhaupt hier eine Pflicht vorliegt, die Geschichte zu verstehen, und nicht Sache der Geschichte, etwas zu verstehen?

„’Trust me’, you say“, sagt die Erzählerin dass ich sage und dann, nach erneuten Atemübungen: „Here’s a true story“ (87). Aber…ich, will ich sagen, da geht es schon los. Mir schwinden die Sinne. Das Letzte, woran ich mich erinnere ist, dass ich protestieren will, indem ich mich auf die ‚Acknowledgements’ berufe: „In the process of retelling personal myth, I have taken tremendous liberties with my grandmother’s history. This novel is a departure from historical ‚fact’ into the realms of contemporary folk legend. And should (almost) always be considered a work of fiction.”

Das ist wohl ‘dichterische Freiheit’. Aber man muss sich natürlich den Einwand gefallen lassen, dass die Ich-Erzählerin der kursiv gehaltenen Rahmenerzählung natürlich eine ganz ander ist als die Autorin, die ‚Acknowlegements’ schreibt und duldet, dass der Verlag und andere ‚Stimmen’ aus dem off sich hier ganz anders einbringen usw. Das berechtigt aber nicht zu dem Anspruch, dass der Leser solche Widersprüchlichkeiten zu dulden hat. Auch der Hinweis auf ‚verschiedene Sprachebenen’ kann das nicht rechtfertigen. Wie wäre es mit dem Vorschlag, der angesichts der Auforderungen zu Mulitkulturalität doch auch den Leser mitmeinen muss, der der jeweils anderen Kultur angehört: Es ist Zeit die eigene Kultur wieder zur Geltung zu bringen, indem man ihre Mittel gebraucht und deren Leistungsfähigkeit praktisch beweist. Das kann der Kultur auf lange Sicht nur nützen, zumal unter dem Aspekt der vorerst kaum mehr als bürokratischen, militärischen. ökonomischen und adminstrativen, also diktatorischen Form der ‚Globalisierung’. Es sind die kulturell Gebildeten oder niemand, die die Zukunft der Menschheit tragen, wenn sie eine haben soll. Und die sollten offen miteinander zu reden beginnen. Dazu kann das Buch ein Anstoß sein. Die lingua franca oder koinè dieser Unterhaltung dürfte allerdings das Englische sein. Das ist aber ohne Belang. Das Griechische und das Lateinische wurden auch erst mächtig als Kulturidiome als der Glanz der Macht der Imperien nachzulassen begann, die sie verbreiten ‚halfen’.

II. Zur Logik der Relationen Autor-Text-Leser

a) Die Legitimität logischer Untersuchungen eines Textes.

Nur zu leicht lässt sich gegen diese analytischen Betrachtungen der Einwand mobilisieren, es sei nicht angemessen, logische Untersuchungen an einen Text heranzutragen, der nichts sein will als was er ist. Aber wenn noch gar nicht feststeht was er ist diesseits der Erschaffung seiner Bedeutungen durch den Leser, muss es Verfahren geben, die zu ermitteln erlauben, was er ist, indem man die Erschaffung seiner Bedeutungen durch den Leser betrachtet und verstehbar macht. Das bedeutet aber auch, sich ein Urteil zu bilden will darüber, was ein Text ist, und man muss dann muss auch seine Form, seine Struktur einer Betrachtung unterziehen, und diese Betrachtung ist unter Außerachtlassung oder Suspendierung der Untersuchung des Zusammenhangs der Sätze bzw. ihrer Bedeutungen, aus denen er komponiert ist, so wenig möglich wie unter Außerachtlassung der Leser-Text-Relation. Und beides hat seine je eigentümliche Logik, die eine die Logik des Zusammenhangs der Bedeutungen im Kontext, den die Sätze untereinander bilden und der sie gegen eine umfassenderen Kontext abgrenzt, den die Sprache als Ganze bildet, potentiell als langue und aktuell als parole im Sinne Saussure’s, sowie die Logik des Verhältnisses von Text und Leser, die eingebettet ist in eine sprachlich und mittels Handlung vermittelter menschlicher Beziehungen, in deren Horizont auch die Leser-Autor-Beziehung zu betrachten ist, sowie das über Sprachen und Individuen vermittelte Verhältnis von Kulturen zueinander.

Es gibt einen ähnlichen Einwand, der geltend gemacht wird, wenn man Kommunikation oder Interaktion, also den so genannten Alltag einer logischen Analyse unterzieht. Er lautet, man dürfe Logik nicht gegenüber dem Alltag geltend machen. Das ist aber gleichbedeutend mit dem Verbot einer wissenschaftlich angeleiteten Betrachtung und nimmt dafür die ‚Logik des gesunden Menschenverstandes’ in Anspruch, mit dessen ‚vernünftiger’ Autorität dieses Verbot begründet wird. Nun, welcher Kultur immer diese Autorität entstammt, sie ist jedenfalls nicht zu rechtfertigen unter Umständen, unter denen intersprachliche und interkulturelle Beziehungen in Rede stehen und in die Form von Texten bzw. von Relationen gebracht werden, die sich unvermeidlich als Leser-Text-Autor-Relationen konstituieren. Nähme man den Einwand ernst, dann dürfte es all diese Relationen und ebenso wenig ihre Grundlagen, die Texte und die Kulturen geben, also auch keinen Lebensalltag, in dem der gesunde Menschenverstand herrscht, der die Untersuchung des strukturellen Zusammenhangs dieser Formen verbieten wollte, nehmen wir einmal an, er wollte.

b) Das Leser-Text-Verhältnis

Das Verhältnis des Lesers, der Leserin zum Text ist zunächst unmittelbar und nicht-öffentlich. Vermittelt wird es durch den Vorgang des Verstehens. Dies ist Sache des/r Leser/s/in. Dieses Verhältnis wird gestört oder sogar zerstört durch die Trittbrettfahrereien einer parasitär – als ‚Information für den Leser’ und dergl. firmierend – um ihn herum angeordneten Propaganda, die ihrerseits stets meint, den Sinn des Textes schon verstanden zu haben, so als gäbe es das Verhältnis des Lesers zum Text gar nicht, indem sie diesen Sinn als eine Art Ding auffasst, das sich fixieren und feststellen, ‚identi-fizieren’ lässt nach Art einer physikalischen Messgröße, während selbst dort gilt, dass sich eine derartige Dingfestmachung des Objekts nicht bewerkstelligen lässt, insofern der Messvorgang selbst wesentliche Größen, an denen die Messung interessiert ist, verändert durch die Messung. Aber es geht hier nicht um die Geltendmachung eines sprachlichen oder sonst wie gedachten Relativitätsprinzips bzw. eine Unschärferelation, sondern darum, dass der ‚Sinn’, den ein Text ‚haben’ kann, keine ausschließlich dem Text zugehörige feststehende Entität nach Art eines Dings ist, das sich von Hand zu Hand weiterreichen ließe, so wie ein Würfel oder ein Stück Holz oder auch wie die Lösung einer mathematischen Gleichung.

c) Text als Ordnungsform

Hier kann man sich an eine Textstelle aus der Erzählung der Autorin wiederum nur scheinbar anschließen, in der sie darauf hinweist, dass die Antwort auf die Frage nach der ‚Wahrheit’ bzw. Ordnung einer (ihrer) story nicht einer linearen Gleichung gleichgesetzt werden könne. So sagt die Ich-Erzählerin einmal zu ihrem Du, in dem der/die Leser/in stets mit angesprochen ist, indem sie auf seine Mitteilung reagiert, dass ihn/sie ihre Erzählweise verwirrt, nachdem sie zunächst ihre zornige Reaktion darauf wiedergibt, sich dann aber zu einer Antwort meint entschließen zu sollen, weil er/sie gut zugehört hat und der Erzählung teilnehmend gefolgt war: ‚There isn’t a time line. It’s not a linear equation…“ (S. 132), sowie: „This is not a mathematical equation“ (S. 200), und weitet diesen Einsatz mit zwei recht heterogenen, und unter sich komplex vermittelten (wenn überhaupt miteinander vermittelbaren) Vergleichen zu einer ganzen Kaskade von Vergleichen aus, in denen sich der so traktierte Leser wiederum verirren muss. Aber ohne diese Weiterungen zunächst zu betrachten, bezieht sich das Gesagte hier auf die immanente, mehr oder weniger problematisch erscheinende Ordnungsform der Erzählung, und nicht auf den Sinn, den sie in der Relation Text-Leser/in jeweils in jedem Einzelfall gewinnt, in dem sie zu einem – und eben jeweils diesem – Leser in ein Verhältnis tritt, das entfaltet dieser Sinn ist. Diese metakommunikativen Qualifizierungen der Erzählung tauchen typisch in der ‚Rahmenerzählung’ auf (s.u.), einer sich durch den Text ziehenden, in kursiv vom übrigen Textlayout abgesetzten Teil des Textes. Darüber ist noch zu sprechen.

d) Verhältnis von Textstruktur, Leser-Text-Verhältnis und Ich-Erzähler-Kommentar

Der Unterschied zwischen den beiden auf den ersten Blick ähnlichen Formulierungen ist zu beachten: Es ist etwas anderes zu sagen, dass der Sinn einer Erzählung nicht mit der Lösung einer mathematischen Gleichung gleichgesetzt werden kann, und ein anderes, zu sagen, dass die Ordnung einer Erzählung ‚not a linear equation’ ist, ‚not a mathematical equation’,oder: „There isn’t a time line.“ Die Ich-Erzählerin sucht in der gesamten Passage nach etwas, das sie nicht recht ‚dingfest’ zu machen weiß. ‚This is not a mathematical equation’ erscheint auf der Seite 200 merkwürdig unmotiviert, als antworte es auf einen Einwand, etwa die Behauptung eines Lesers oder Zuhörers von der Art: This is a mathematical equation, oder: This should be a mathematical equation’ usw., den niemand erhoben hat oder gegenüber einem literarischen Text erheben würde (oder doch?, und wenn, wer?) Das zeigt die Kaskade der herangezogenen Vergleiche, die sich auf ein selbst sehr unbestimmtes ES (it) bzw. DIES (‚This is not…’) beziehen, das sie ihren Antwortversuchen auf die kritischen Einwände des Zuhörers der Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung zugrunde legt. Setzt man den von ihm gebrauchten Terminus ‚order’ in dieses ‚it’ oder ‚this’ ein, und bezieht es auf den Text der Kernerzählung (s. u.), so ist eine ‚time line’ ja nur ein mögliches Ordnungsprinzip gegenüber einer unbestimmten Pluralität von z. B. räumlichen Ordnungen, während die Ordnung einer Erzählung, obwohl einer Suzession folgend, indem die Sprache eben eine Darstellungsform ist, die einer Sukzession von Sätzen entspricht, keineswegs von der Art einer räumlichen oder zeitlichen Form ist, ihre Struktur also, als Sinn auf ganz anderes verweist als etwa die Gegenstände der Naturwissenschaften es sind. Sinn ist wohl eine Struktur bzw. nur mittels der Erzeugung einer solchen darstellbar, kann daher auch, etwa in der bildenden Kunst, die Form eines räumlich-zeitlichen Objekts haben, oder, als sprachliches oder musikalisches Gebilde, in der Darstellung und Reproduktion dem Gesetz einer Sukzession folgen (müssen).

Das bedeutet aber nicht, dass das darin Dargestellte und Erscheinende, das diese Art der physischen Substrate nutzen muss, um in der Welt erscheinen zu können, selbst von der Art physikalischer Gegenstände und entsprechend auch der Art ihrer ‚Dimensionalität’ wäre. Sinn als Ordnungsform transzendiert die physikalische Welt und ist derart selbst kein Gegenstand in der Welt. Das einfachste Beispiel ist die Melodie eines Liedes, die zugleich auch die Darstellung einer Grenzleistung von Sinn ist, der nicht-sprachlicher Art ist. Dass die Musik allerdings ein Phänomen darstellt, das sich aus dem Umstand ergibt, dass wir als organische Wesen selbst Teil eines Universums sind, dessen Grundlage die Dualität der Materie, ihre Welle-Partikel-Struktur ist, die es uns ermöglicht, einen Teil des Wellenspektrums als Wärme/Kälte, einen anderen als Licht bzw. als ‚die Welt der Gegenstände’ und einen anderen als Geräusche oder Töne wahrzunehmen, legt wieder nahe, einen derart ‚verstandenen’ Sinn als Derivat der physikalischen Struktur des Universums, dessen Teil wir sind, zu reduzieren. Das lässt sich aber wiederum nicht auf ‚Das Wunder der Sprache’ (Das ist der Titel eines Buches, ich meine, der Autor sei Günther Patzig) so ohne Weiteres übertragen.

III. Ein Vorgriff auf Sinn

Die Passage auf dieser Seite hat überhaupt eine Schlüsselfunktion für die ganze Erzählung, wenn man beachtet wie sie ausläuft, indem die Ich-Erzählerin, die sich dem Einwand, ihre Erzählung habe keine rechte Ordnung und verwirre den Zuhörer zunächst ärgerlich und dann mit einer Verteidigung zu entziehen versucht, die ihr die insistierende Antwort einträgt: „Wow, that’s sounds like some mind bend. Some people might call it madness“, sich erneut verteidigt: „Yeah, I guess, but some might call it magic“, was ihr erneut eine Kritik einträgt, deren Vortragsstil sie zunächst lichen macht, das dann schließlich in Weinen umschlägt.” Sie verfällt also auf zwei ineinander umschlagende (und Umschlagenkönnende) Grenzreaktionen, die auch die Reihenfolge anlassbedingt vertauschen können: Lachen und Weinen, Reaktionen jenseits eines ausdrückbaren oder dem Bewusstsein verfügbaren Sinnes. An dieser und vergleichbaren Stellen ist der/die Leser/in dem Sinn der Erzählung indessen am nächsten. Das wird noch zu zeigen sein, weil auch daran deutlich werden kann, warum die politische Propaganda, in die die Erzählung eingezwängt ist, diesem Sinn nicht einmal entfernt nahe kommt und ihn mit Irreführungen überlagert.

Aber das ist später erst zu erläutern, nachdem vordringliche Analysen anderer Art durchgeführt sind. Zunächst muss als kaum begreiflich erschienen, dass der (mögliche Zugang zum) Sinn der Erzählung sich an einer Textstelle ergeben soll, an der die Ich-Erzählerin selbst auf eine Weise ‚reagiert’ auf die ihr vorgetragenen Einwände gegen ihre Erzählweise (und deren Inhalt, insofern etwas, dem die ‚Struktur’ mangelt, eben auch den derart mitgeteilten Sinn in Frage stellt. Es gab einmal eine Literaturzeitschrift mit dem Titel ‚Sinn und Form’, die den ‚Strukturbegriff’ mittels des aristotelischen Formbegriffs ausgedrückt hat.), indem sie auf Grenzreaktionen menschlichen Ausdrucks ‚verfällt’, die sich auch als Grenzbegriffe von ausgedrücktem Sinn erweisen, so dass der derart sinnverlassenen Ich-Autorin der ebenso sinnverlassene Leser entspricht und die Leser-Text-Relation eine Leerstelle, einen Mangel, ein Fehlen oder einen Ausfall konstituiert an der Stelle, an der sich der Sinn konfigurieren müsste.

Man kann das auch so formulieren, dass man fragt, wie weit Verstehen reicht. Die Antwort darauf ist auch zunächst zugunsten vordringlicher Aufgaben zu verschieben, sollte aber nicht vergessen werden, so wenig wie das bedeutsame Problem, das wir soeben entdeckt haben. Wenn diese Grenzreaktion auf eine Kommunikation, die der Ich-Erzählerin geschieht, ein punktuelles Ereignis ist, an dem sich die Grenzen von Sinn zeigen, soweit er sprachlich vermittelt und intersubjektiv ist, so entspricht dem ein ebensolcher, allerdings den Innenraum der gesamten Erzählung durchdringenden Schicht, die ebenfalls, aber mit positiver Bedeutung, in die Grundlagen von Sinn verweist. Während die Ich-Erzählerin der Rahmenhandlung gewissermaßen auf den Punkt stößt, an dem die sprachliche Kommunikation ihre Leistungsfähigkeit erreicht hat und versagt, dabei aber auf ein Jenseits von sprachlich vermitteltem Sinn verweist, insofern Lachen und Weinen als menschliche Grenzreaktionen ja gleichwohl erfahrbar und verstehbar sind, also durchaus nicht ohne Sinn, so durchdringt die Kommunikation des Kindes Murasaki mit der Großmutter Naoe den Innenraum der Erzählung wie den Raum einer Kugel.

Während Lachen und Weinen auf ein Jenseits von sprachlichem Sinn verweisen, an dessen Grenze sich dieser negiert, kollabiert, stellt die Art der Kommunikation von Murasaki mit Obachan Naoe ein alles durchdringendes Diesseits der sprachlichen Kommunikation dar, die ihre Voraussetzung in vorsprachlichen Erfahrungsschichten hat, und im Kosmos der Erfahrung von sprachlichem Sinn eine Art schweigenden Hintergrund darstellt, der allgegenwärtig ist in jeder Kommunikation und diese trägt.

In der Erzählung selbst ist das ‚konstruiert’ in der empirisch einigermaßen unwahrscheinlichen Form, dass Murasaki die Sprache von Naoe (Japanisch) gar nicht versteht, während Obachan Naoe kein Englisch spricht bzw. versteht, und der Vater von Murasaki Japanisch lediglich lesen, aber nicht sprechen kann, ein Umstand, der zunächst gar nicht offenbar wird, und die Mutter von Murasaki, die Tochter von Naoe, ausschließlich Englisch sporicht und das Japanische angeblich weder spricht noch versteht, bzw. sich sich dem einen und dem anderen verweigert, ohne dass dieses ‚handicap’ die Kommunikation zwischen Großmutter und Enkelin behindert, während es die Kommunikation zwischen der Großmutter von Murasaki und ihren Eltern völlig abschneidet. In beiden Fällen ist sprachlicher Sinn jeweils negiert ohne dabei als Möglichkeit vernichtet zu sein, jedoch im letzteren Fall von den nicht sprachlichen Voraussetzungen von sprachlichem Sinn her, und im ersteren von den sprachlichen Voraussetzungen sinnhafter Kommunikation her. Zugleich ist von Bedeutung für die Erzählstruktur, dass sich die letztere als punktuelles Ereignis in der Rahmenerzählung findet, während die erstere den tragenden Hintergrund der Kernerzählung bildet.

Überlegungen zur Makrostruktur der Erzählung

  1. methodische Vorfragen

Es ist hier schon zu sehen, dass man die Begriffe, die einer Erzählstruktur zugrunde liegen, nicht selbstverständlich einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Methodologie entnommen und appliziert werden können. Sie sind von der Analyse am Text ggf. zu entwickeln. Man müsste ja sonst davon ausgehen, dass Autoren entweder die Methodologien gelesen hätten und nunmehr selbst bloß deren Bekleidung vornähmen, indem sie entlang von diesen Vorgaben erzählen. Dann wäre die schriftstellerische Arbeit ebenfalls lediglich Applikation der Methodologie und Aufgabe des Lesers wäre es, dem ‚Geheimnis’, das der Autor in seinem Text versteckt hat auf die Spur zu kommen. Oder man muss unterstellen, dass schriftstellerische Arbeit darin besteht, in jedem Fall unbewusst eine solche standardisierte, der Sprache gewissermaßen strukturell immanente Methodologie zur Anwendung zu bringen, so dass die Texte, die man als Literatur empfindet und akzeptieren kann, dieser Methodologie eben genügen und daher Literatur sind. Das trüge aber der Tatsache nicht Rechnung, dass die Menge möglicher literarischer Erzählstrukturen nicht einfach einem – sei es auch virtuellen - Katalog zu entnehmen wären, der sie inventarisiert. Denn das schlösse die nicht antizipierbare Möglichkeit der echten erzähltechnischen Innovation aus, die stets darin besteht, die schon vorhandene Liste der empirisch existierenden Paradigmen von Erzählstrukturen zu transzendieren, indem sie sie um eine neue Form erweitert.

Bevor nun die Frage beantwortet werden oder sinnvoll gestellt werden kann, mit welchen Methoden der Betrachtung (Analyse) der Text erschlossen werden kann, ist sie – das mag überraschen – stets schon in einer gewissen Weise beantwortet, wenn der/die Leser/in den Text liest bzw. gelesen hat. Die bewährte Methode der Betrachtung und der Erarbeitung des Verständnisses eines Texts ist seine Lektüre. Der nächste Schritt, der dem geübten Leser mit dem ersten stets schon wenigstens teilweise kongruent sein mag, ist, dass man herauszufinden versucht, was man und wie man verstanden hat, und was man und warum man nicht verstanden hat, bzw. ob das, was man verstanden zu haben meint auch tatsächlich ‚richtig’ verstanden ist und was ‚richtig’ hier eigentlich heißen kann. Ist etwa alles, was einem bei der Lektüre ‚einfällt’ auch schon Teil des Sinns des Texts, so wie er sich in der Leser-Text-Beziehung erschließt oder erschafft? Ist es möglich, dass dem Leser etwas unerschlossen bleibt, das er für unbedeutend hält oder als solches Unerschlossenes gar nicht bemerkt? Ist es möglich, dass er einen Sinn aufzufassen meint, wo er einen hineindeutet, der sich bei genauer Prüfung gar nicht bewährt? Alle die damit angesprochenen Probleme verdienen Beantwortung, doch lässt sich diese verschieben, wenn man zunächst die Gliederung eines Textes genauer betrachtet und deren Ordnungsprinzip explizit macht. Diese Einteilung und Gestaltung eines Texts kann man seine Makrostruktur nennen.

  1. Die Makrostruktur der Erzählung

ba) Die Rahmenerzählung

Die Unterscheidungen der Rahmenerzählung und der Kernerzählung ist schon eingeführt worden ohne dass gesagt wurde, warum sie eingeführt wurde und wozu sie dienen soll. Das muss jetzt ausgeführt werden.

Beginnt man die Lektüre unbefangen entsprechend der Gewohnheit, eben der Nummerierung der Seiten zu folgen, wie man das gewöhnt ist, dann stößt man doch früher oder später auf die Besonderheiten des Schriftlayout und der eigenartigen ‚Kapiteleinteilung’ des Buches. Es ist daher sinnvoll sich darüber eine genauere Vorstellung zu verschaffen.

Zunächst ergibt sich eine Grobeinteilung in zwei Textgruppen, deren eine in Kursiv von der anderen abgesetzt ist. Der kursiv abgesetzte Text ist verteilt über den gesamten Text und zieht sich wie eine Ader durch das Buch. Durch kursiv gehaltenen Schriftlayout vom übrigen Text abgesetzte Passagen finden sich auf den Seiten 1 und 2, 12, 28, 55, 78, 87, 107, 132, 169, 182, 186, 200, 220 eines Texts, dessen quantitativer Umfang 220 Seiten ausmacht. Man kann sehen, dass der Text der Rahmenerzählung, der in einem Fall zwei Seiten, in einem anderen sechs Zeilen lang ist, relativ gleichmäßig über die Gesamtmasse des Texts verteil ist.

Es verschafft dem Leser eine erste Orientierung, diese Textteile als Einheit einer Rahmenerzählung aufzufassen und das ist wohl auch die Absicht der Hervorhebung durch den Schriftlayout. In der Tat bildet die Gesamtheit dieser Textabschnitte eine inhaltliche Einheit schon dadurch, dass sie ein Paar Liebender in der Abgeschlossenheit einer Beschäftigung mit sich selbst unter Ausschluss des Lebensalltags und in der ausschließlichen Beschäftigung mit sich selbst zeigt, eine dyadische Exklusivität von der Art der Mutter-Kind-Beziehung, die als mehr oder weniger bewusste Phantasie jeder Liebesbeziehung unterliegt und sich in der Weltvergessenheit der Liebenden als Neuauflage wiederholt (mit vielen Verbesserungen usw.)

Der Innenraum dieser abgeschlossenen Dyade wird nun mit der von der Ich-Erzählerin auf Verlangen ihres Geliebten und Zuhörers mit der sich entfalteten Kernerzählung ausgefüllt. Periodisch wird aus der sich schrittweise entfaltenden Kernerzählung zurückgeschaltet auf die Rahmenerzählung, zu einem mehr oder weniger kurzen, mehr oder weniger dialogisch in der Kommunikation zwischen der Ich-Erzählerin und ihrem Zuhörer und Geliebten entfalteten Kommentar. Danach schaltet die Erzählung wieder unvermittelt um auf die weitere Entfaltung der Kernerzählung. Zur Betrachtung des Texts und seiner Bedeutung im Verhältnis zu der Kernerzählung ist später noch etwas zu sagen.

bb) Die Kernerzählung

Die ‚Kernerzählung’ macht formal den ‚Rest’, tatsächlich die Hauptmasse des Texts aus. Er ist in mehrfacher Hinsicht gegliedert, und zwar zunächst einmal in Five Parts, von denen einer eine Seite lang ist (Part Three, S. 159), während der längste Textabschnitt der Kernerzählung (Part Two, von Seite 79 – 157) 76 Seiten lang ist. (Die Differenz zwischen der Anzahl der Seiten und der tatsächlichen Seitenzahl, die der Text einnimmt ergibt sich nach Abzug der drei eingestreuten Seiten der Rahmenerzählung).

Die Kernerzählung ist darüber hinaus weiter untergliedert nach Abschnitten, die entweder die Überschrift ‚Naoe’ oder ‚Murasaki’ tragen. Eine weitere Untergliederung ergibt sich dadurch, dass die so überschriebenen Textabschnitte nochmals untergliedert werden, indem ein Textabschnitt, der die inneren Monologe der betreffenden ‚Personen’ wiedergibt, oder auch dialogisch gehaltene Erinnerungen an Situationen, Wortwechsel, Freundschaften, vergangene Lebensabschnitte usw., i. w. S. biographische bedeutsame Lebensabschnitte und Ereignisse betreffen, abgesetzt sind von anderen, in sie eingebetteten, die durch die Formel ‚Mukashi, mukashi, omukashi’, die jeweils den Übergang in die Erzählung einer ‚story’ durch die mit der Überschrift des jeweiligen Hauptabschnitts gekennzeichnete Person markieren, und Passagen, die durch drei Punkte abgesetzt sind von den inneren Monologen oder den eingeschachtelten Erzählungen, die sich mit Beschreibungen der inneren Vorgänge der Personen aus einer distanzierten Erzählerperspektive befassen oder mit allgemeinen Beschreibungen, die von einem anonymen Erzähler dargestellt werden und sich auf die Personen, von denen gesprochen wird, oft in der dritten Person beziehen, etwa Seite 81: „She closed the door behind her.“, oder Seite 83: „She walked with an easy pace,…“ Man kann in dieser Ordnung der Textstruktur mit einiger Generalisierung das Prinzip einer mehrfachen Schachtelung erkennen.

bc) Shinto als Kern der Konstruktion der Erzählung

In dieser formalen Struktur sind nun eine Reihe von ‚tales’ eingestreut, die sich bei näherem Hinsehen als folk tales aus der Folklore Japans identifizieren lassen. Für wie viele dieser ‚tales’ das zutrifft muss eine genauere Recherche ergeben. Einige jedenfalls lassen sich leicht als solche identifizieren. Man muss hier zunächst gar nicht vollständig und erschöpfend sein, um zu erkennen, dass dieser Einbau von Geschichten aus dem ‚Märchenbestand’ der Kultur Japans eine konstitutive Bedeutung haben muss für die Erzählung und ihren Sinn. Es ist einerseits ihre Herkunft, und andererseits die Art der Auswahl sowie die Art des Gebrauchs, der von dieser gemacht wird, der für die weitere Analyse der Erzählung von Bedeutung ist.

Zunächst fallen ‚die Geschichte von Izanami und Izanagi’ (S. 29ff) und ‚Issun Boshi’ (S. 70 ff), die Geschichte von Yamanba (115 ff) direkt ins Auge. Fasst man den kulturellen Kontext näher ins Auge, in dem diese Geschichten stehen, dann erweisen sie sich als Elemente der japanischen kulturellen Tradition, deren allgemeinen Oberbegriff man in der Bezeichnung und Materie des ‚Shinto’ findet. Es wäre falsch diese Volksreligion der japanischen bäuerlichen Kultur als ‚Shintoismus’ zu bezeichnen, insofern die Charakterisierung kultureller, durch Sprache und Handlung vermittelter kultureller Bestände als ‚–ismus’ eine Abwertung implizieren kann, die diese Bestände unter den in Europa mit den Ideologien entstandenen Ideologieverdacht stellt und in eine Reihe zu stellen neigt mit dem Wortfeld, das mit diesen Endungen gebildet wird, vom Nationalismus, über den Kommunismus bis zum Alkoholismus.

Shinto bezeichnet die Bestände der mehr oder weniger kodifiziert überlieferten Kultur Japans. In diesem Sinn kann man davon sprechen, dass die Erzählung ‚A Chorus of Mushrooms’ in ihrem inneren Kern konstruiert ist mit den kulturellen Mitteln des Shinto, auf die die Autorin bewusst zurückgreift, um, ja – um was zu tun? Denn welchen Sinn soll der Gebrauch dieser Medien haben?

Von Bedeutung ist ferner Genji Monogatari, The tale of Genji (S. 165 f erwähnt).

bd) Der latente Konflikt von (kapitalistischer) Zivilisation und Kultur (im traditionellen Verständnis eines kollektiven Konzepts des ‚Menschen’)

Zugleich ergibt sich nun aus dem Stand der Betrachtung auch ein inhaltlich bestimmbarer Gegensatz zwischen der Rahmenerzählung und der Kernerzählung. Während die Rahmenerzählung sich nämlich auf einer kulturellen Ebene bewegt, die sich dem/r Leser/in als ‚modern’ im Sinn eines durchaus, zumal aus der Perspektive Europas, ‚amerikanischen’ ‚life-style’ anbietet, deren Kern eine verdinglichte Handhabung der von der Fortpflanzung und der Generationenfolge abgelösten, insofern zum Industrieprodukt ‚erhobenen’ und verselbständigten ‚Sexualität’ ausmacht – man vergleiche etwa den Roman ‚Dreams die first’ von Harold Robbins, aus dem Jahr 1977, deutsch unter dem Titel irreführenden Titel ‚Träume’, Scherz Verlag, Bern und München 19791 - stellt die innerste Schicht, der Kern der Schachtelung der Textmasse der Kernerzählung Sinngehalte mythischen Alters und religiöser Intensität dar, die nicht zuletzt durch ihre kulturelle Fremdartigkeit das Interesse des/r Leser/s/in wecken müssen, und die conditio humana einbinden in eine Weltsicht, die als Schöpfung und Zeugung verstanden das Schicksal des Individuums in eine zyklische Zeitvorstellung einbindet, der die lineare Offenheit in eine nur als Tod vorzustellende Zukunft fehlt, die die moderne hypothetische Physiko-Theologie der Atombombenbauer – es handelt sich hier nicht mehr um empirisch überprüfbare Hypothesen, und entsprechend ist diese Hypothesenbildung von einer erkenntnistheoretischen Rotverschiebung begleitet, die ans äußerste Ende des Universums flieht, um ihre rationalistische Wendung zu untermauern, nachdem im Namen ihres Empirismus zunächst die Sozial  und Geisteswissenschaften, die Philosophie, die philosopische Anthropologie und die Religionen bzw. die Theologie sowie die Psychoanalyse zerstört worden waren, die man nun nicht etwa rehabilitiert, weil und sofern sie auf rationalen Voraussetzungen des Denkens bzw. auf ‚essentials’ der conditio humana aufsetzten, sondern eher zu vergessen und zu verdrängen bemüht ist, auch eine Art des wissenschaftlichen Fortschritts, als Mode nämlich, und im Rhythmus der technologischen Innovationszyklen - etwa nach dem dafür viel weniger als angenommen repräsentativen Stephen Hawking anzubieten hat.

Das Wenigste ist zu sagen, dass sie nicht unbedingt jedem – zumal Angehörigen der westlich-europäischen Kultur ohne Weiteres geläufig sind. Was der Text in einer konflikthaften Konfrontation inkompatibler Komplexe zeigt, die hier hilfsweise zunächst als (moderne) Zivilisation und (traditionelles Verständnis von) Kultur bezeichnet werden (in dem Bewusstsein, dass es interessierte Bemühungen gibt, diese Unterscheidung aus dem ‚wissenschaftlichen Sprachgebrauch’ zu eliminieren, eine Bestrebung, die indessen auf den angesprochenen Konflikt selbst zurückführbar ist und ihn nicht erledigt durch terminologische Kosmetik) enthält möglicher Weise wenigstens die kritische Masse, die für die Herbeiführung des Endes der Moderne und der Postmoderne ausreicht.

Es ist notwendig, die Argumente eines Autors so stark zu machen wie möglich, bevor man sie einer kritischen Destruktion zu unterziehen unternimmt. Ein von vornherein verkleinerter und marginalisierter Antagonist ist nicht geeignet, die Leistungsfähigkeit und den Sinn der Kritik und der Analyse unter anschaulichen Beweis zu stellen. Daher ist hier eine Hervorhebung der Kontraste ausgearbeitet worden, die das Maß der potentiellen Konfrontation zeigt, das der möglicher Weise täuschend harmlos erscheinende Text birgt, vielleicht sogar kaschiert oder mit einer gewissen Unentschlossenheit darstellt. Das Potential dieser Konfrontation ist indessen immens, besonders angesichts der verwaltungstechnischen Liquidation der Kulturen durch die Herrschaft einer globalen totalitären Bürokratie, die hinter der Kulisse gegenstandslos gewordener Partizipationsgarantien für die ohnmächtigen Populationen immer unbefangener mit reinen Bewirtschaftungskonzepten über der Biomasse des Homo sapiens operiert. Der Text versteht sich nicht ‚von selbst’. Er spricht einen Leser an, der die Darstellung nicht für das Ganze nimmt, und dieser selbst dort, wo sie fragmentarisch bleibt, den gemeinten, den intendierten Sinn entnimmt, als gemeinte Mitteilung, den die Darstellung möglicher Weise nicht erreicht, weil er die Gründe dafür, dass dieses Ziel mehr oder weniger ein Ausblick bleibt, selbst noch der Darstellung entnehmen imstande ist. Das geht aber nicht nach dem Muster einer ‚Leistungsbewertung’. Es ist zunächst richtig das hervorzuheben.

V. Zwischenbilanz

Die Analyse ist jetzt an einem Punkt angelangt, der es erlaubt, eine Zwischenbilanz zu ziehen, bevor die Mikroanalyse der Textstruktur weiter in die Rekonstruktion des Sinns der Erzählung vordringt.

Zunächst kann es überraschen, dass die noch relativ formale Strukturanalyse, die nur an wenigen Punkten im Inhalt ‚aufsetzt’, schon zu Ergebnissen führt, die einen weiteren Vorblick auf das mögliche und denkbare Ergebnis der Analyse ermöglicht. Die Analyse hat eine Schachtelung als organisierendes Prinzip der Textstruktur entdeckt, das Textelemente konzentrisch wie Schalen um einen inneren Kern ordnet, der seinerseits komplex ist und aus heterogenen elementaren Formen besteht. Einige davon sind aufgezählt und identifiziert worden und konnten einer kulturellen Überlieferung zugeordnet werden. An einigen Punkten ließ sich zeigen, dass der Text nicht nur eine makrostrukturelle Komposition ist aus einer Rahmenerzählung und einer Kernerzählung, die sich wie Hülle und Kern zueinander verhalten, sondern dass diese Strukturen auch einen inhaltliche, den Sinn der Erzählung wesentlich mitkonstituierenden Bedeutung haben. Zugleich waren diese Strukturen als antagonistische identifizierbar. Sie stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, dessen Eigenart die anschließende mikrostrukturelle Analyse weiter nachzugehen und herauszuarbeiten haben wird. Im Vorgriff darauf konnte gezeigt werden, dass sich der Sinn des Textes zwischen zwei Limites einspannen lässt, innerhalb deren die Formierung des Sinns sich abspielt.

Das waren die Grenzreaktionen des Weinens und Lachens angesichts der Möglichkeit des Scheiterns der Konstituierung dieses Sinnes als einer intersubjektiven, sprachlich vermittelten Gestalt, die einer intelligiblen Ordnung genügt, ohne die Sinn nicht ist oder an die Grenze dessen gerät, was sich einem Sinn zuordnen ließe. Angesichts der Möglichkeit des Scheiterns der sprachlichen Darstellung von Sinn in der Kommunikation mit dem paradigmatischen Zuhörer – der in der Rahmenerzählung des paradigmatischen Leser repräsentiert - scheint sich der Rückbezug auf die unerschöpfliche Fülle eines präsymbolischen Sinns, der zugleich als Rückbezug auf einen Kern ist, dessen innere Komplexität immer neue Konstellationen zu ermöglichen scheint, die in gewisser Weise unabhängig sind von dem lediglich äußerlichen Problem der Mitteilung, insofern sie selbst in mehrfacher Hinsicht dialogisch auf eine Weise erscheinen, die das Problem der Verständigung immer schon überwunden hat, weil sie sich diesseits der Spaltung in Ich und Du, diesseits der symbolischen Repräsentation und der Brechungen der Intersubjektivität und der kommunikativen Beziehungen organisiert in einer Bewusstseinsschicht, die die Probleme der Verständigung nicht kennt, als eine überlegene und viel versprechende Alternative anzubieten.

Der Nachteil, dass sich diese präsymbolische Fülle selbst doch auch wieder nur mittels einer symbolischen Repräsentation darstellen lässt, scheint bewältigt werden zu können dadurch, dass die Form dieser Repräsentation ein hohes Maß an Unbestimmtheit und Unschärfe annimmt, mit der Folge, dass der Vorteil, der die Fülle des präsymbolischen Erlebens erhält gerade indem die symbolische Repräsentation die Festlegung auf Eindeutigkeit umgeht oder vermeidet und dies als Vorteil betrachtet, der sich in der Verschmelzung der Pole der Kommunikation und der Aufhebung der Unterschiede in einer alles umgreifenden Identität bewährt, die die Probleme der Kommunikation aufhebt, wird aber sogleich wieder dann als Nachteil virulent, wenn der unvermeidliche Anschluss an die den Lebensalltag selbst der gegen die Welt abgeschotteten Liebe bestimmende Kommunikation diese Pole in dem Moment rekonfiguriert, wenn die Erzählung sich darauf einlassen muss, sich der sprachlichen Vermittlung und Konstituierung von Sinn zu stellen. Die Rahmenerzählung zeigt ja, dass selbst die bemühteste Umarmung diese Differenz nicht aufheben kann. Sie kann sie nicht einmal zum Schweigen veranlassen, denn die Ich Erzählerin muss sich eingestehen, dass ihr Geliebter und Zuhörer sich geduldig schulmeistern und belehren lässt, dass er zuhört und Anteil nimmt an der Geschichte, so dass es ihm auch zugestanden werden muss, dass er seine Verwirrung mitteilt und um eine Orientierung nachsucht. Die Kaskade der Suche nach einem passenden Vergleich sagt eher, was ‚it’ nicht ist, und das ist bekanntlich eine Form der Bestimmung, die nichts bestimmt, indem sie nur etwas ausschließt, also die schwächste denkbare Form von ‚determinatio’. Denn zwar gilt: Omnis determinatio negatio est, aber das ist stets nur eines der Merkmale einer determinatio, und ihr allgemeinstes. Wenn man weiß, dass ein Baum kein Frosch ist, weiß man nicht auch schon, was ein Baum oder ein Frosch ist. ‚“It is not a linear equation“. “This is no mathematical equation”, das sind tatsächlich keine zureichenden Bestimmungen. Dieser Kritik muss man sich anschließen. Andererseits besagt das nicht schon, dass wir nicht einen Sinn ausmachen könnten, indem die weitere Analyse ihn voraussetzt und rekonstruiert.

Wir stoßen aber zunächst auf den überraschenden Befund, dass wir zwei Limites haben, die die Grenzen von möglichem sprachlich vermittelbarem Sinn markieren. Den einen finden wir innerhalb der sprachlichen Kommunikation, als Grenze der intersubjektiven Mitteilbarkeit von Sinn mittels eines Minimums an Ordnung, die dem zur Darstellung kommenden Sinn angemessen sein muss einerseits, und einer anderen Grenze, die in der präsymbolischen Schicht der Erfahrung wurzelt und am Übergangspunkt in die symbolische Repräsentation eine Fülle von immer neuen Kombinationen zugleich mit einem hohen Maß an inneren Übergangsmöglichkeiten zwischen verschiedenen Bedeutungen zu ermöglichen scheint, die zugleich die mögliche antagonistische Polarität der Struktur intersubjektiver Kommunikation unterläuft und auflöst, jedoch den Vorteil dieses Rückbezuges sogleich als einen Nachteil erscheinen lässt, wenn der Rückbezug von dort aus auf die lebensweltlichen kommunikativen Strukturen intersubjektiver, sprachlich vermittelter Kommunikation sei es auch unter der Grenzbedingung der dyadischen Struktur einer Liebesbeziehung gewagt wird.

Was sich so ergibt, könnte man einen ‚Oszillator’ nennen, der im Rahmen dieser Grenzbedingungen schwingt. Angesichts der Risiken des Scheiterns der intersubjektiven, sprachlich, also über symbolische Repräsentation vermittelten intersubjektiven Kommunikation, zumal in der oben besprochenen sozialen Form (Murasaki spricht mehrmals von der Erfahrung einer ‚agricultural hell’ und ‚cowboy purgatory’, in einer bewussten oder unbewussten Anspielung auf Dante [S. 124f, 175], dem ‚Instinct born of fear’ [125], alles im Zusammenhang riskanter Kommunikationsversuche) scheint der jeweilige Rückgang, der Rückbezug auf ein in jeder Hinsicht anderes, zugleich ‚offeneres’ und ‚geschlosseneres’ Paradigma der symbolischen Ordnung der Welt, wie es die Kernerzählung zu repräsentieren versucht eine nur zu verführerische Alternative. Nur dass sie das auf andere Weise in Schwierigkeiten bringt, nämlich die einer Isolation von der ‘sozialen Kommunikation’, deren strukturelle Perversion, deren asoziale und antisoziale Implikationen Murasaki allerdings so deutlich herausstellt, dass man zu der Ansicht kommen kann, dass das kaum einen nennenswerten Verlust, sondern eine Entlastung darstellen müsste, wenn die regelmäßige ‚Partizipation’ sich nicht als alltägliche Lebensnotwendigkeit immer wieder aufzwingen würde, mit der Konsequenz einer erzwungenen Anpassung an das sich darin durchsetzende ‚Regelsystem’ bzw. die damit verbundene strukturelle Gewalt, die diese Regeln chronisch überschreitet.

Murasakis Formulierung: „I can’t speak for all the small towns, but most places that are small, there isn’t much to do except drink and have sex” (123), die im Übrigen mit den Analysen im Zusammenhang von frühen Schwangerschaften bei Jugendlichen bestätigt sind, und auch im Kontext von Untersuchungen, die unter dem Titel ‘America alone home’ die Folgen der Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen in Familien beschreiben, in denen beide Elternteile arbeiten, eine Problematik, die durch die hierzulande noch propagierten Mittel zu ihrer Behebung nicht gemildert werden, wie sich schon gezeigt hat, und die insgesamt darauf hinauslaufen, dass die kulturelle Kontinuität, die über die Eltern-Kind-Beziehung vermittelt wird, reißt, ohne dass die Professionalisierung der kapitalisierten Erziehung das im Ernst langfristig zu kompensieren vermag, widerspricht auf auffällige Weise, zumal in dem beschriebenen Kontext dem, was die Ich-Erzählerin mit ihrem Geliebten über die gesamte Rahmenhandlung hin mehr oder weniger ausschließlich beschäftigt.

Die verabscheute Hölle scheint in die soziale und zivilisatorische ‚Identität’ der Ich-Erzählerin der Rahmenhandlung eingewandert zu sein, während Murasaki, ein Ich der Kernerzählung, sie kritisch ablehnt. Man kann darin auch eine konformistische Anpassung an die Bedingungen sehen, unter denen ‚Bestseller’ in Nordamerika derzeit produziert werden. Aber das ginge dann sogar zu Lasten der Autorin, nicht nur der ‚Identitäten’, die ihre Erzählung vorstellt.

Zugleich sind die Grenzen, innerhalb deren der Oszillator operiert mit unterschiedlichen kulturellen Mustern besetzt, die sich in einem ungeklärten Verhältnis zueinander befinden. Die Divergenzen scheinen eher zu wachsen in dem Maß, in dem der Hiatus zwischen den kulturellen Mustern klarer wird. Dieses herauszuarbeiten ist ja Sache der noch ausstehenden mikrostrukturellen Analyse. Und diese müsste die für diese Arbeitshypothesen erforderlichen Belege noch ins Einzelne gehend erarbeiten.

Es ist aber nicht so, dass diese Befunde in der Luft hängen. Sie sind an der Struktur  bzw. der punktuellen Inhaltsanalyse, so wie sie bisher vorliegt, belegt. Es ging ja gerade darum, diese Analyse auch unter ökonomischem Gesichtspunkten, also mit einem Minimum an Belegen zu einem Ergebnis zu führen, zu einer ‚working hypothesis’. Man muss das nicht für endgültig halten, um damit zunächst etwas anfangen zu können.

Das will ich jetzt tun um in einem weiteren Vorgriff auf den analytisch zu bestimmenden Sinn der Erzählung und damit auf das mögliche Ergebnis der Analyse dieses zusammenfassend vorzustellen.

VI. Ein mögliches Ergebnis der Textanalyse von ‚A Chorus of Mushrooms’

Glaubst du denn nicht auch…dass die Menschen des Guten gegen ihren Willen verlustig gehen, des Schlechten dagegen freiwillig? Ist es nun nicht ein Übel, um die Wahrheit betrogen zu sein, ein Gut aber die Wahrheit zu besitzen? Platon, Politeia, Buch III, 19)

1. The Lonely Crowd

David Riesman hat vor nunmehr mehr als 30 Jahren – meine ich ‚aus dem Kopf’ – ein Buch geschrieben mit dem Titel ‚The Lonely Crowd’. Er beschreibt darin das durch die sozialen Verhältnisse Amerikas erzwungene Durchschnittsschicksal des Individuums. Das Buch diagnostiziert nur mit soziologischer Präzision – das gab es damals noch, und ist nicht vergleichbar mit dem Orwellschen Neusprech des unter dem Titel ‚Soziologie’ inzwischen gewöhnliche gewordenen bezahlten Verwaltungsjargon, den sich eine totalitäre Bürokratie herstellen lässt zur Legitimierung ihres Tuns -, was schon von amerikanischen Autoren literarisch bearbeitet vorlag. ‚Früchte des Zorns’ etwa, von John Steinbeck behandelt das Schicksal der amerikanischen Kleinfarmer der Great Plains, die von den Staubstürmen entwurzelt werden, die in der Folge der landwirtschaftlichen Nutzung der Prairien die Humusschichten des aufgebrochenen Bodens verwehen. Riesman betrachtet die proletarischen und die vermeintlichen Mittelschichten der Städte Amerikas. In ‚Sex and the city’ und ‚Ally Mc Beal’ sind diese Analysen längst zur Propaganda eines life-style herunter gekommen, der dieses Durchschnittsschicksal der Folge progressiver sozialer und kultureller Zerstörung mit den Mitteln der verordneten Propaganda des ‚positiven Denkens’ als Gewinne an Freiheit feiert, eine Variante totalitären Denkens, die sich aus der Verfügbarkeit der so genannten Massenmedien ergibt, und den unmittelbaren sozialtechnologischen Eingriff in die Rechte einer Population – so sie welche hat – durch eine als Kultur auftretende, normierte Propaganda ersetzt, die sich als ‚Unterhaltung’ tarnt.

Weder die Ich-Erzählerin noch Murasaki noch, muss man schließen, die Autorin entkommen dem geschlossenen Horizont des allgegenwärtigen, von keinem Subjekt gesteuerten Verhängnis, das alle Subjektivität zu vernichten trachtet, so weitgehend, dass der angebliche Untergang des Subjekts selbst zu einer Form der Metapropaganda über dem Vorgang akademisch die venia legendi hat erobern können. Das ist aber lediglich eine Iteration dessen, was vorgeht, nicht seine Reflexion. Insofern ist es richtig, zu sagen, dass das Subjekt keine akademische Repräsentation mehr hat. Das aber nimmt nicht Wunder, ist es doch verständlich, dass dieselben Bürokratien, die das Management dieser Vorgänge betreiben, Subjektivität nur noch in der Form ihrer propagandistischen Selbstnegation zulassen können. Alles andere wäre inkonsequent. Derart bestätigt die ‚Theorie’ mit ihrer Inversion gegen ihren eigenen Sinn nur, was ihre Auftraggeber praktizieren.

2. Identitätsprobleme

Ihre Identifikation mit der japanischen Großmutter bleibt projektiv: Auf Seite 183 sagt der japanische Geliebte zu Murasaki: I’d like to speak with your Obachan some time“. Die Erzählerin, hier als Murasaki ‚verkleidet’, kann sich den Seitenhieb nicht verkneifen, ihn das ‚drowsily’ sagen zu lassen. Spräche man sie darauf an, würde man mit Sicherheit belehrt werden, dass das ganz anders gemeint sei, und hätte erneut den Schwarzen Peter. „You are“ (speaking with my Grandmother, muss man ergänzen), antwortet die Erzählerin, aber da ist ihr Baby schon sanft entschlafen. Gut, es mag die Erschöpfung sein. Man kann aber ebenso vermuten, dass der Geliebte sich dem Konflikt dadurch entzieht, dass er einschläft. Denn man kann sicher sein, dass diese Identifikation Murasakis immun ist gegen eine Reflexion, die sie auflösen könnte. Im Übrigen sind die Ich-Erzählerin und Murasaki als Erzählerin nicht wirklich voneinander getrennt. Das gilt dann auch für den anonymen Erzähler der Abschnitte, die durch drei Punkte vom Rest des Texts abgetrennt sind, die die Überschriften ‚Murasaki’ und ‚Naoe’ tragen.

Das macht die Bedeutung dieses technischen Arrangements wiederum ausgesprochen fragwürdig. Denn wenn dieser nicht leistet, was der Erzähltechnik nicht gelingt: die verschiedenen Identitäten gegeneinander abzugrenzen, dann werden sie zu Symptomen einer Hilflosigkeit gegenüber der drohenden Überschwemmung des Ich der Autorin durch die nicht zu ordnenden, aber gegen seine Grenzen andrängenden assoziativen Materialien. In der Rahmenerzählung (Seite 196) lässt die Ich-Erzählerin ihren Zuhörer sagen: „’You mean your Obachen took over your body?’, you ask“, und antwortet darauf: „No, that’s not it at all. It wasn’t a thing of taking over - more of a coming together. Or a returning. I don’t know. I might even be making this all up as I go along“. Dann sucht sie nach Zigaretten. Das erinnert an den Rat, den man Rauchern gelegentlich in therapeutischen Sitzungen gibt: ‘Versuchen Sie einmal herauszufinden, was gewöhnlich in Ihnen vorgegangen ist, wenn sie zu einer Zigarette greifen. Anders gesagt: Das Verhalten ist von symptomatischer Bedeutung. Sie findet keine. Die Situation eskaliert. Der Ton scharf: „A pack of smokes. I know I had a pack of smokes in here.” Der Geliebte nimmt das zu leicht. „I might have smoked them…” Die Ich-Erzählerin fährt aus der Haut: „I spin around. ‚What do you mean, `I might have`? You did or you didn’t Unless you’ve put some in yourself and smoked your own”. Der Diskurs entgleist, auf das Niveau eines Szenegesprächs über die Droge. Wie weggeblasen ist die sanfte, Geschichten erzählende Obachan. Jetzt muss auf einmal alles ganz präzise und logisch geordnet sein. Es geht um die sofortige Befriedigung eines keinen Aufschub duldenden ‚Bedürfnisses’, des Bedürfnisses der Ich-Erzählerin – nach einer Zigarette. Da ist weder Sanftheit noch Rücksicht angesagt. Die Ich-Erzählerin gerät an den Rand einer bedenklichen Verwirrung. Das verlangt genaue Orientierung und duldet nichts Ungefähres. Es rechtfertigt auch die Verletzung des Geliebten. Es ist eine ebenso abrupte wie symptomatische Umkehrung ihres eigenen Verhaltens gegenüber dem Zuhörer, der gerade noch sich hat abspeisen lassen müssen mit diesen in einem ‚I don’t know’ (anderswo ist es das Einverständnis heischende: You know?, das man kaum mit einem ‚No’ beantworten dürfen wird.)

3. Suchtstrukturen

Die Suchtstruktur wird auch an anderer Stelle unverkennbar, wenn sie im Anschluß an ihre Abfertigung des ‚eating at exotic restaurants’, that ‚is not even worth the bill paid’ (201) ihre enthusiastisch vorgetragene Vorstellung von Essen vorträgt: „A place were growth begins. You eat, you drink, and you laugh out loud. You wipe the sweat off your forehead and take a sip of water. You tell a story, maybe two, with words of pain and desire”, während die weitere Beschreibung der nun sich ausweitenden Szene zu einer orgiastischenVerschmelzung aller herbei Eilenden, des gesamten beschörbaren sozialen Ensembles, sich um die Erzählerin (Murasaki) Versammelnden führt, der ihrerseits zunehmend die Sinne schwinden, bis die die Beschreibung der Szene ausläuft in der Formulierung: „You are drunk and it is oh so pleasurable.“ Hier bezieht sie sich auf die Droge Alkohol. Der Verlust, die Aufgabe der Selbstkontrolle wird hier wie in allen orgiastsichen Phantasien als Gewinn für das vorübergehend entlastete Ich ganz richtig verstanden und dargestellt. Es ist das Kontrastbild dessen, was die Selbstkontrolle einem Ich zumutet, die unter dem eingangs geschilderten Verhängnis des Verlustes des sozialen Status und des gesamten angehäuften Eigentums an eine feindselige soziale Umwelt groß wird, als der (fiktive?) Urgroßvater auf einen Trick der Dorfbewohner herein fällt und betrunken gemacht sein Familiensiegel unter seine Selbsteineignung setzt. Wir erinnern uns an die Formulierung, die die Sequenz einleitet: „Food to begin to grow“, die ebenso den Anbau von Lebensmitteln meinen kann wie das Wachstum aufgrund des Verzehrs von Lebensmitteln. Die Verwandtschaft mit den oft unscharf symbolisch repräsentierten Phantasien, die sich in den Geschichten darstellen liegt auf der Hand. Das Geschichtenerzählen, das die Erzählerinnen faktisch monopolisieren, ist ein Äquivalent, es hat eine ähnliche Funktion wie die Drogen.

Das erklärt nebenbei wieso Fernsehen tatsächlich eine Sucht sein kann und faktisch eine Massensucht ist, wenn nicht die verbreitetste und zugleich in mehrerer Hinsicht systemfunktionalste. Denn er erlaubt die beliebige Infiltration des nach Ablenkung süchtigen Ich mit systemkonformer, repressiver Propaganda [Liebesfilm, Montagskrimi, pausenlose Verbrechensbekämpfung, anders gesagt: Verfolgung des zur Identifikation mit dem Verbrechen verleiteten Ich] und zugleich erhält es und verstärkt die Strukturen, die nach der Droge verlangen, und die Verstärkung der Dosis. Das Bilder aufnehmende Nervensystem ist anders strukturiert als das Sprachgehirn, und weit wehrloser, eben wegen der ‚logischen Probleme’, die mit den Bilderfolgen verbunden sind. Das kann hier nur angedeutet werden. Es betrifft das Verhältnis von sprachlicher und ‚visueller’ Kommunikation. Die Erzähltechnik der Autorin hat aber eine Affinität zur Evokation von Bildern, und nutzt die Sprache, das Medium des Diskursiven Denkens um Bilder zu erzeugen bzw. darzustellen oder zu reproduzieren, und verteidigt sich in der Tat gegen furios gegen jeden Einwand gegen diesen Gebrauch der Sprache: „ I want to just ignore you. You with your dry biscuits and expectations“ (133). Unvermittelt fühle ich mich angesprochen.

4. Eigenartige Koinzidenz

(Denn tatsächlich – Es ist nicht zu fassen und man kann’s nicht glauben !!, daher genaue Belege - esse ich, während ich dies schreibe italienische Bisquits und trinke dazu Instantcappucino (Bisquits: COCCARDI, BISCOTTI ALL’UVO, CON UOVE FRESCHE PASTORIZATTE, SENZA GRASSI AGGIUNTI, von BISTEFANI, Ideali per dolci fatti in casa e perr una leggere prima colazione, BISTEFANI S.p.A Casale Monferrato (Italia), Stabilimento di Villanova Monferrato (AL) – S.S. 31 n. 3 – Tel. +39-0142-3331, http://www.bistefani.it. Cappucino: Typ ‚Classic Cappucino’, Melitta, herrlich cremig mit milden Kaffeegeschmack, ® Registrierte Marke eines Unternehmens der Melitta Gruppe, www.melittacappucino.de Melitta Kaffee * Bremen) Aber das nur nebenbei, oder? Hat die Autorin oder ihre Heldin gewußt, dass ich, an dieser Stelle der Lektüre angekommen, Kaffee trinken und Bisquits essen würde, während ich mit der 'trockenen Betrachtung' ihres Textes befasse? Ich kann nicht verneinen, dass mir die überraschende Koinzidenz imponiert. Ist auch lustig, irgendwie.

5. You know there’s a problem

Es ist dieselbe Stelle, an der die Ich-Erzählerin in Tränen ausbricht angesichts der kritischen Einwände ihres japanischen Geliebten ‚fresh-off-the-boat’ (S. 54), also offensichtlich eines in Japan, jedenfalls in Asien groß gewordenen, mit der Kultur vertrauten Mann, der fünfzehn Jahre älter ist als sie, also die Projektionsfläche für eine Vaterimago abgeben kann. Aber auch hier ist die Murasaki schon: „No Freudian shit for me“. Dieselbe Verachtung der Vaterimago der fremden Kultur verdient sich denn auch die zum Geliebten gewählte Vaterimago aus der eigenen Herkunftskultur. Dabei geht es aber wie immer. Sie – ob Murasaki oder die Ich-Erzählerin kennt die Einwände immer schon, die ihr gemacht werden können und beantwortet sie präventiv und ganz entwertet sie ganz unverkennbar, und mit ihnen die Personen, die sie vortragen (könnten). Eines der Mittel dieser Entwertung ist es, die Menschen zu verlassen, die ihr seelisches Gleichgewicht stören könnten. Das wird dann aber zu einem Verhalten, insofern der Quellpunkt dieses Verhaltens, der Problemlösung in ihr selbst liegt. Der Geliebte, ihr Zuhörer, ist schon prädestiniert dazu verlassen zu werden. Einerseits wird er von der Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung dazu aufgefordert ihr zu vertrauen: „Trust me“ (87, 186). Die Entscheidung, den Geliebten zu verlassen, fällt denn auch im Gefüge multipler Persönlichkeitsfragmente Murasaki. Damit trifft die Ich-Erzählerin keine Schuld. Betrachtet man das genauer, dann sind die Motive dafür aber eher in den von der anonymen Erzählerin, die ja sowohl die Kontur der Ich-Erzählerin als auch die ihres Zuhörers und die Liebesbeziehung zwischen ihnen gestaltet, dargestellten Situationen zu finden, die die Rahmenerzählung ausmachen, deren Form und Bedeutung oben schon versuchsweise bestimmt worden ist.

Wie Hohn wirkt es, wenn die Ich-Erzählerin altklug und schulmeisterlich den Geliebten diszipliniert, indem sie sein Unbehagen über ihre Verfügung über eine mögliche gemeinsame Zukunft und Lebensplanung in einer von ihr in die Erzählung eingebaute, von Murasaki erlebte ‚love story’ mit der Ausführung beantwortet: „When I’m finished my story, you can start another if you want. I will listen as politely as you have listened.“ Es wird dazu indessen nicht kommen. Auch das lässt sich nicht nur der Erzählung als Ganzer entnehmen. Es ist in der projektiven Identifikation mit Obachan präfiguriert, die ständig redet und redet, indem sie ‚mit dem Wind kmäpft’, d.h. vollkommen ohne Rücksicht auf ihre soziale Umgebung und auch ganz ohne eine eigentlich kommunikative Absicht, es sei denn man wollte unterstellen, dass diese darin bestünde, ihre Umgebung zu quälen. Das ist aber eher den Reaktionen der Mutter von Murasaki zu entnehmen als der Einstellung Murasakis oder denen der Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung, insofern hier ja stets eine positiv imaginierte Identifikation mit Obachan vorliegt.

Es wird nicht dazu kommen, dass im Rahmen der Erzählung tatsächlich ein anderer eine Geschichte erzählt als die in der Geschichte in die Identifikation mit Obachan eingerückten weiblichen Imagines – außer SUN, dem Sohn des Cowboys, den Murasaki zu einem One-night-stand unterwegs begegnet, nachdem sie ihren Geliebten, der mit dem der Ich-Erzählerin nun identisch ist, verlassen hat. Hier brechen die Abgrenzungen zwischen den beiden fiktiv unterschiedenen Identitäten Murasakis und der Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung zusammen und beide fusionieren. Damit werden aber auch andere Unterscheidungen und Abgrenzungen fragwürdig und es ist klar, dass hier autobiographisches Material eindringt, das sich gegen die poetische Bearbeitung direkt durchsetzt. Die Autorin tritt uns direkt entgegen, wo nicht im Detail oder als Person, so doch in der Form des Materials, das die der innerhalb des Erzählrahmens aufgeschütteten Dämme überflutet.

6. Migrationstrauma

Die Traumatisierung des Ich wird exakt beschrieben auf den Seiten 198f, aber die Genesis des Traumas ist der Beschreibung entgegen gesetzt. Korrekt ist die Reihenfolge: „It was easy when I was innocent. I could swallow everything I was told.“ Das entspricht der Setzung der Traumaquellen, wie man das auch von sexuell missbrauchten Kindern kennt. Sie sind nicht imstande das ihnen zugemutete als die Ungeheuerlichkeit zu erkennen, die es gemessen an einem angemessenen Verständnis des Generationenverhältnisses, so wie es ihm Rahmen einer Kultur interpretiert ist, darstellt. Erst mit der Fähigkeit zum Vergleich und zum eigenen Urteil, das sich zu einer Bewertung des Verhaltens der Umgebung versichern kann, ereignet sich die Traumatisierung: „Life is hard in Canada, once you come to an age, when you find out that people think certain things of you just because your hair is black…I feel a lot of bitterness about how I was raised, how I was taught to behave. I had a lot of questions about my heritage but they were never answered. The place were I lived didn’t foster cultural difference. It only had room for cultural integration. If you didn’t abide to rules of cultural conduct, you were alienated as an other, subject to suspicion and mistrust.”

In diesen Formulierungen erscheint die Traumatisierung des Ich und seine Quelle: die Lebensumgebung des Einwanderungslandes. Aber es erscheint noch mehr. Das Ich ist gar keines. Die letzten beiden Sätze qualifizieren die ‚Kultur’ des Einwanderungslandes als sozialen Anpassungsterror, der für die Genese eines ‚Ich’, das den Namen verdiente, gar keinen Raum lässt. ‚Integration’ gibt seinen buchstäblichen Sinn ganz nebenbei preis: Im mathematischen Sinn, also in dem Bereich, aus dem Wort und Bedeutung stammen, ist ‚Integration’ z. B. ein Vorgang, bei dem alle Punke einer Fläche, die zwischen einer Kurve und den Achsen eines Koordinatensystems ‚integriert’ werden und zu einem numerischen Wert zusammenschmelzen, der die Größe der Fläche darstellt, die durch die Integration aller Punkte gemessen werden soll. Anders gesagt: Jeder einzelne Punkt geht im Flächenmaß unter, er verliert seine Identität. Die Wahl dieses Terminus durch die Verwaltungsbehörden staatlicher Administrationen ist kein Zufall. Er gibt exakt wieder, was von den Individuen tatsächlich verlangt wird. (Man kann sich die Ausreden stundenlang anhören, die das widerlegen, wenn man erst einmal darauf aufmerksam gemacht hat. Aber damit rechnet im Ernst niemand, und wenn doch, dann kann das einfach ignoriert werden. Das ist eine Methode der Iteration von ‚Integration’, und überschreitet bereits die ‚multikulturelle’ Debatte, denn es geschieht allen.

Der soziale Terror, der sich daraus entwickelt und sich auf die von Murasaki zu Recht erwähnten ‚rules of conduct’ bezieht, ist blind und bewusstlos. Was der von den anderen ausgehende Anpassungsterror, die Hänseleien und die Gewalttätigkeit, das im buchstäblichen Sinn Gemeine und Bösartige daran ausmacht, ist in Wahrheit nicht als Maß von Kultur aufzufassen, sondern als das Maß ihrer Abwesenheit oder ihrer Zerstörung. Was Murasaki nicht einfällt ist, die stillschweigende Akzeptierung dessen, was sie derart ‚angesprochen’ hat und ‚anspricht’ als ‚Kultur’. Das kommt zweimal in dem ausschnittweise zitierten Text vor: „…I came to realize that I came from a specific cultural background that wasn’t occidental”. Und weiter unten: “The place were I lived didn’t foster cultural difference”. In beiden Fällen benutzt und akzeptiert die den Terminus ‘cultural’ für den Ingegriff ‚sozial’ agierter Barbarei, der die gesamte Kommunikation in einer Population vergiftet, und sich gegenüber dem phänomenologisch Fremden stets in derselben Weise zeigt. Denn dies ist stets nur der Anlaß dafür, dass die Bestie auf andere losgeht. Derart aber lastet sie der occidentalen Kultur an, was sie der allgemeinen Barbarei anzulasten hätte, die in dieser wütet wie allerorten.

7. Die eigene und die fremde Kultur

Es kann kein Zweifel daran sein, dass Murasaki, die Ich-Erzählerin und endlich auch die Autorin hier die Grenzen ihrer Fähigkeit erreichen, die eigene und die fremde Kultur in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu setzen. Ihre Mittel verlassen sie, bzw. sie verfügt nicht über sie und bemerkt es nicht. So gesehen wird ihre Ankündigung, dass sie nie aufhören wird, Fragen zu stellen und zu zweifeln wenig nützen. Es ist nichts anderes als das Ergebnis des bewusst gewordenen Traumas, und wird dieses wird, technisch gesprochen, agiert. Man kann sich daher nichts davon versprechen, dass sie sagt: „I am not finished asking questions and I never will be“. Es kommt nicht darauf an, Fragen zu stellen an eine Umgebung, die ‚Integrationsdruck’ blind ausübt. Die Antworten, die sie erwarten kann, werden alle im Rahmen exakt dieses blinden Terrors liegen und ihn rechtfertigen. Auch hier ist es der Mangel an Selbständigkeit, der auffällt. Sie wird sich mit ihren Fragen an genau die Instanzen und Imagines wenden, die ihr angetan haben, was sie endlich als Angetanes zu verstehen gelernt hat.

Aber indem sie sich an den anonymen Terror wendet, der das eingebildete ‚Ich’ der ‚sozialen’ oder ‚kulturellen’ Umgebung erobert hat und besetzt hält, das derart eigentlich zur Festung geworden ist, von der aus der Terror der alltäglichen Barbarei seine unablässigen Ausfälle organisiert, bleibt sie blind abhängig von dem, was sie zerstört hat. Das Trauma erlaubt ihr nicht, sich darüber zu erheben und bestätigt die Macht des Verhängnisses, das sie als ‚cultural’ blind akzeptiert, wie die übrigen ‚sozialen’ Agenten, in denen es nach Art eines Virus lebt, parasitär und auf Kosten ihres Lebens. Einzig in der Geschichte von SUN, dem namenlosen Cowboysohn, und in der Geschichte von TENGU tauchen Ahnungen davon auf, dass der Terror, den sie als ‚Kultur’ durchgehen lässt, und dessen Verfassung und Struktur ihrem Urteilsvermögen derart entgeht, dass sich herausstellen muss, dass es gar keines ist, sondern Moment dessen, was sie lediglich an bestimmten Details, also dort wo es IHR wehtut, und SIE betrifft, ihren Egoismus, wahrzunehmen imstande ist, aber eben nicht von der Position aus, die Kultur und Urteilsvermögen synthetisiert und als ein nur in dieser Synthese überhaupt Wirkliches erkennbar werden lassen könnte.

Mit einem gewissen Instinkt greift sie ein für das Christentum Nordamerikas typisches Sündenbekenntnisritual an, aber ihr Spott greift nicht. Das kann man gegen alle kulturellen Idiosynkrasien geltend machen, von einem genügend ‚intellektualisierten’ Standpunkt aus. So wie sie nicht begreift, inwieweit der von ihr beklagte Terror, den sie als Kultur nach wie vor akzeptiert – damit macht sie sich schon wehrlos – in sie selbst eingewandert sein könnte, so oberflächlich bleibt ihre Betrachtung der Umgebungskultur. Im Hintergrund erscheint das Bild einer kulturellen Erbschaft, die ihr vorenthalten worden sei, und die jetzt Gegenstand ihrer Fragen ist: „I had a lot of questions about my heritage, but they were never answered“. Dabei taucht diese Erbschaft durchaus auf, in der Form der Reminiszenzen an die japanische Besetzung Chinas während des Zweiten Weltkrieges, an der ihr Onkel oder Großvater beteiligt war, als Ingenieur, der meinte, Brücken zu bauen für die chinesischen Brüder, bis ihre Familie den Rückzug antreten musste unter Hinterlassung des alten Großvaters angesichts der bevorstehenden militärischen Niederlage des Kaiserreiches Japan. Ebenso taucht die atomare Katastrophe auf, die den Krieg für ihre Herkunftskultur beendete.

Was nicht einmal erwähnt wird, sind die Folgen einer durch die militärische und politische Propaganda sowie durch die Kriegsfolgen bewirkten ‚Einstellungsänderungen’ der Population gegenüber Japanern und allgemein Asiaten, sowie der Umgang Kanadas und der USA mit den Teilpopulationen, die aus diesen Ländern vor dem Kriege schon eingewandert oder importiert worden waren. Hier wären Erbschaften aufzuarbeiten, die nicht die Freiheit von Ambiguität haben, die die Identifikation mit Obachan zu bieten scheint. Die Ausklammerung dieses Kontextes der Gegenwart des Verhältnisses zwischen den Kulturen, das eben auch ein politisches ist, rächt sich ebenso wie die Betrachtung der Wirklichkeit einer bäuerlichen Kultur, deren Schlichtheit, so wie sie in Märchen erscheint, oder eben in ‚folk-tales’, auch ein Hinweis darauf sein kann, unter welchen Lebensverhältnissen diese Menschen zu leben hatten, nämlich keineswegs als Partizipanten an der (gottkaiserlichen) Hochkultur, die nicht Teil ihrer Erbschaft war, sondern Teil des über ihrer Existenz waltenden Verhängnisses irrationaler Gewalt.

Dass sie selbst exakt in der Weise agiert, die sie anklagt, zeigt sich auch an der Parallelisierung der Handlungen Murasakis mit denen der Großmutter. Die Großmutter hat das Haus verlassen, Murasaki verlässt es. Die Traumatisierung der Eltern erkennt sie nur vage. Also auch, dass sie Erbin eines Traumas ist, schon bevor sie selbst taumatisiert wird durch ihre ‚Freunde’ oder das sogenannte ‚soziale Umfeld’, an dem buchstäblich nichts sozial ist, sondern alles asozial und antisozial, blinde Konkurrenz ohne ein anderes Ziel als die präventive Zerstörung des Anderen. Der Vorteil soll ja der aller sein, insofern so Eliten ausgewählt werden. Sie wird den Geliebten verlassen. Das ist schon angekündigt in einem noch ganz neutral wirkenden Teil an, gewissermaßen im Kleingedruckten (S. 190) an, wenn sie im Wanderprediger verkündet: „Do you know your neighbor? Do you even want to? Will you ever? If you leave your home and start walking this road, I’ll meet you somewhere“.

Das wird Naoe Obachan in den Mund gelegt. Sie hat ja kein Trauma, oder? Aber wen will sie da treffen, wem gilt dieses Versprechen? Mursasaki kann das nicht sagen. Sie hat ihre Nachbarn kennen gelernt. Ihr Trauma spricht seine eigene Sprache. Aber es spricht eben auch die Sprache der Desorientiertheit, der Verwirrung, der Inkonsistenz des Anerlebten. Dabei hat sie durchaus ein Gefühl dafür, dass sie für die Worte, die sie ausspricht verantwortlich ist: „Obachan away when my words are born so I’m responsible fort the things I utter“. (S. 98) Aber es ist doch typisch und eines der schwerwiegendsten Missverständnisse, die man sich gegenüber der Sprache leisten kann, das Geäußerte für ‚things’ zu halten. Und das Gefühl der Verwantwortlichkeit ist nicht schon deren Wirklichkeit selbst, als kulturelle Identität. Auch die poetische Umschreibung von ‚language as a living beast’ (99) ist nicht treffend. Immerhin stellt er Sprache dar mit der Ambiguität eines Ausdrucks, der sowohl auf ein gefährliches, nicht zu zähmendes oder zu beherrschendes Raubtier oder aber auf ein bedauerliches Haustier verweisen kann und macht derart etwas deutlich, nämlich die Unausgewogenheit des Verhältnisses von Murasaki zur Sprache, die ihr je nach Identifikation so oder so erscheint. Insgesamt überwiegt aber in der Passage der Eindruck der nicht gezähmten und nicht zu zähmenden Bestie. In jedem Fall wohl stellt die Passage die Schwierigkeiten dar, die Murasaki angesichts des konfusen Umgangs mit Sprache innerhalb ihrer Familie haben muss. Es verweist auf das oben der Analyse vorangestellte Motto, nämlich dass sie ihre Lebenstragödie durchaus, wenn auch nur unklar kennt. Der Text stellt sie dar als eine kaum auflösbare Verstrickung.

8. Life-style und Kultur

Bleibt noch zu zeigen, wie Murasaki und die Ich-Erzählerin die Liebe handhaben um auch daran die Verstrickung deutlich werden zu lassen, die vereitelt, dass der Text die Bestie in den Blick bekommt, deren Gestalt er zu erfassen sucht. Nicht erst in der oben zitierten Passage (S. 190) geht die Erzählung in ein ‚road-movie’, diese standardisierte Form der Illusion des Entkommens und der Freiheit, der zum life-style Amerikas gehört. Der Terminus ‚life style’ wird von Murasaki allerdings eindeutig negativ zitiert: „If you want a child to have a normal and accepted lifestyle, you have to live like everyone else“. Das lässt sie ihre Mutter Keiko sagen, ebenso wie sie sie den Terminus ‘cultures’ im Satz zuvor benutzen lässt als Synonym für ‚lifestyle’. Sie selbst benutzt den Terminus in der folgenden Passage, aus der schon zitiert wurde, nicht.

Aber sowohl die Ich-Erzählerin als auch Murasaki sind Kinder dieses lifestyle. Sie leben wie jedermann sonst. Die Ich_Erzählerin erklärt: „The journey begins inside my head“ (192). Man will es ihr glauben. Die Großmutter ist schon abgereist, in einem Blizzard. Anhalter auf dem Highway, wird mitgenommen, das Abenteuer beginnt. Und mit ihm das Glück. OH, IZZATSO? Es war schon gesagt worden, dass die Grenzen zwischen Murasakis und der Identität der Ich-Erzählerin sich zunehmend auflösen. Man kann dazu die ganze Passage 175 bis 192 nehmen, an deren Ende die faksimilierte Postkarte von Obachan an Keiko wiederum in eine Verschmelzung beider mit der Imago von Obachan übergehen. Es ist nur konsequent, wenn nun auch Murasaki sich dazu entschließt, ‚wegzugehen’: „I’m going away soon“ (198). Als die Mutter meint, dass sie Obachan nicht finden würde, meint sie: „I’m not looking, I’m just going, you know?“ und erklärt dann, dass sie den Geliebten nicht mitnehmen kann: „He just got here, but he has to arrive. You can’t move until you’ve arrived. I’ve finally arrived and now I can go“. (189) Als die Mutter konsterniert ob dieser sophistischen Meisterleistung der Verkehrung aller Bedeutungen verständnislos erklärt, dass sie nicht versteht, wovon da die Rede sein soll, erhält sie die Erklärung, dass auch sie nicht, im Gegensatz zu ihrer Überzeugung: „I arrived over thirty years ago“, sich eines besseren belehren lassen muss: „No Mom, you’re arriving still“. So kann man sich zur Mutter seiner Mutter machen, und zur Meisterin des ‚Geliebten’. Nur die Kosten sind halt hoch, vorausgesetzt, man reüssiert damit nicht als Schriftstellerin. Dann sind die Kosten zwar genau so hoch, aber das wird ausgeglichen durch den Erfolg.

9. Beziehungskisten

Die Sophismen, mit denen die Ich Erzählerin ihren Zuhörer durch den Text treibt, erreichen in dieser Passage einen Höhepunkt. Und sie sind in der Tat sehr amerikanisch. Es ist die sprachliche Repräsentation eines lifestyles des American way of life, die hier indiziert, dass Murasaki tatsächlich angekommen ist, es ist aber fraglich wo. Derart ist sie dann vermutlich tatsächlich reif zur Abreise. Der Geliebte, der als geduldiger Zuhörer die Aufgabe hatte, ihrer Befriedigung zu dienen und ihren rhetorischen Übungen zu lauschen bzw. als Sparringspartner immer das Falsche zu sagen, das die unproblematische Übung an einem mit dem Angebot von Sex gezähmten Kritiker ermöglichte, hat ausgedient. Das war sein Schicksal von Anfang an. Zynisch klingt derart, dass Murasaki Worte über die Herrschaft über die Zukunft in den Mund gelegt werden, die nicht bedenken, dass sie sich zum Schicksal anderer macht, die sie lieben und nun zu Zeugen ihrer Herrschaft über die Zukunft werden, indem sie ihr Schicksal aus ihrem Verhalten auf sich zu nehmen haben. Vergeblich der Einwand des Geliebten: „I am not just a story…If you hit me it will hurt. If you leave me I will cry. You can’t just erase those things.” Die Antwort entspricht dem schon üblich gewordenen: „I’m not erasing, I’m re-telling and re-creating“.

Das ist ein Gefecht, in dem ein Mensch niedergerungen wird. Das Sparring geht zu Ende, der wirkliche Kampf findet auf dem Markt statt, gegen einen Gegner, den man den Leser nennt. Der soll das alles auch schlucken, ohne es zu bemerken. Unversehens geht das zur Schau gestellte Leiden in blanken Karrierismus über. Die lebende Bestie, das ist nicht die Sprache, das ist die, die sie benutzt. Denn noch ist der Gegner nicht k.o.: „There’s no talking to you when you are like this.You’re the hardest person I’ve ever loved“. Und nun kommt der knockout, hinterhältig, bösartig und unter der Gürtellinie: “Past tense?”, und der Gegner ist geschlagen. Die Meisterschaft der Verdrehung der Bedeutungen, die meint unbemerkt durchgehen zu können, ist eine Form der Bewältigung des Traumas. Sie entspricht dem amüsanten Schluss des Films ‚Tanz der Vampire’, der das Liebespaar zeigt, das, von dem Vampir angebissen, den Vampirismus in die ganze Welt hinausträgt. Der gesamte kursiv gesetzte Text trägt die Male dieses sich entfaltenden rhetorischen Kampfes, der langsam eskaliert bis zu diesem Punkt. Symptomatisch eine Stelle 186, wo sich diese Form schon sicher eingespielt hat und die Ich-Erzählerin keine Mühe mehr hat damit, ihren Gesprächspartner nach Belieben zu kontrollieren: „I don’t know if we should be messing around with our future.“ (Es geht hier immer wieder darum, dass der Geliebte ihr ein Heiratsangebot macht.) „’It might be unlucky’, you say earnestly“, lässt die Ich-Erzählerin ihren Geliebten sagen, um darauf zu antworten: „Luck has nothing to do with it. Well, maybe a little bit, but mostly we hold the power to change our lives for ourselves. I don’t want to rely on fate.”

Typisch die Verdrehung, die ansetzt bei einer nur als vorsätzlich zu betrachtenden Verkehrung des Sinnes des benutzten Wortes ‘unlucky’. Es könnte uns Unglück bringen. Ist gemeint. Er weiß noch nicht, dass das Unglück seine Sache sein wird und dass es ihn schon ereilt hat. Er hält es noch für sein Glück. Der Sprecher beschwört schon vergeblich eine Gemeinsamkeit, die gar nicht existiert. Sogleich wird er beschieden, dass das nichts mit ‚it’ zu tun hat, wobei hier die Bestimmung dessen, um was es gehen soll taktisch vermieden wird. Dann kommt der Sprecherin das wohl doch zu brutal vor und sie scheint ein wenig auf den Gesprächspartner zuzugehen: Well, maybe a little bit. Aber dieses quantitative Zugeständnis besagt nichts, denn es ist zugleich durch ein ‚vielleicht’ entwertet, abgesehen davon, was dieses ‚kleine Bisschen’ dann bedeuten soll angesichts einer Alles-oder-nichts-Situation. Aber dann geht sie doch entschlossen zur Überwältigung des Gegners über, die Entspannung diente nur der besseren Vorbereitung des letalen Angriffs: „…but mostly we hold the power to change our lives for ourselves.

Die dreimalige Wiederholung des Plurals des Personalpronomens ist der Lage gar nicht angemessen. Die Formel ist unter allen Umständen problematisch. Die Usurpation des Anspruchs, für den Anderen, der doch hier ausgeschaltet werden soll, mit zu sprechen, ist deshalb geradezu zynisch, weil sich hier nicht nur die Geister längst geschieden haben, sondern vor allem, weil sich die Macht des einen, sein Leben zu ändern gerade anschickt, das zum Schicksal des anderen zu erheben. Dem setzt die Schlussformel die Krone der Gemeinheit auf. Denn es ist gar nicht möglich zu sagen, man wolle sich nicht auf das Schicksal verlassen, insofern Schicksal’ gerade das Unverfügbare ist, wie der Gesprächspartner eben gerade am eigenen Leibe erfährt. Der Rest entspricht der Art wie man ein ängstliches Kind zum Schweigen bringen mag. „Trust me“, ist der Schlussakkord dieses Songs. Das hatten wir schon. Einmal schläft er ein, ein andermal wird ihm der Finger auf die Lippe gelegt, was haben wirr noch, ah, hier, Seite 183.

Gerade hatten wie die Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung. Nun ist Murasaki am Zug. Die Unterschiede zwischen den Personifikationen sind kaum nennenswert. Es ist das am ehesten als fiktional zu Bezeichnende am Text. Es geht darum, dass nun Murasaki die Personifikation ist, die aus der ‚Beziehung’ eine ‚love-story’ für ihre Erzählung machen will: „’This is great’, I muffled, through sweet purple rice. It’s almost as good as what Obachan made form me, that one time.” Das ist durchaus geeignet, die Besessenheit zu illustrieren, an der Murasaki leidet oder leiden lässt. Die Unterhaltung wälzt sich fort. Dann erklärt die Heldin: „I decided that we could have a love story and be very proud of it“. “Does this mean that we will be married?” Der Gesprächspartner geht wieder in eine Falle: „Of course not. ‚Love story’ and ‚marriage’ side by side would be an oxymoron. Why not linger in a love story? You would hate being married to me.” Die Verdrehung verkehrt die Verhältnisse ins Gegenteil. Der Ausgang entspricht dem schon beschriebenen knock out, aber de Gegner begreift gar nicht, dass und wie er geschlagen und missbraucht wird. Er hält sich für den Geliebten der Geliebten, die hier als Murasaki firmiert. Das erlaubt eine weitere Eskalation. Der Geliebte kommt gekrochen und entschuldigt sich (Alles Folgende 191): „I’m sorry…I hope I didn’t put you off. I guess I am still a little old fashioned“. Sie stellt ihm erneut eine Falle: „Me too“.

Jetzt kann man sehen, wie sie das Opfer beobachtet: „’You’re old fashioned too?’, he said, sounding hopeful.“

„No, I mean I’m sorry. Though I may be at that. I suppose I’m old fashioned about some things” (ihre gehätschelten Kulturmythen), “but not about the marriage thing”. Das Heiratsding ist nicht ihr Ding. “That doesn’t mean I’m messing around, but the institution of marriage isn’t my idea of what a commitment is about. I could be committed to you from ten thousand miles away, you know?” Man muss einen Sinn für das Verständnis dessen haben, was Perfidie ist, um das zu begreifen. Das Opfer ist fast schon passiviert, jedenfalls gelähmt: „Are you planning on going somewhere?“ “The idea’s been on my mind lately.” “Oh.” Was dann folgt ist eigentlich nur noch als Symptom der sadomasochistischen Struktur der ‚Beziehung’ verstehbar. Sie vergewaltigt im Reitersitz erbarmungslos, aber sanft das weinende geschlagene Kind, das sie verlassen wird.

Sie ist der Reiter, nicht das Gerittene. Das vorauszusetzende Einverständnis des Opfers – genauer: die Widerstandslosigkeit – in dieser Konstellation ist unproblematisch zu bestätigen. Es ergibt sich aus der Komplementarität sado-masochistischer Beziehungen, bzw. aus den bewusst nicht unbedingt verfügbaren Grundlagen der Objektwahl. Nicht zuletzt wird der Vorgang der Unterwerfung ja auch ganz aktuell als ‚lustvoll’ erlebt. Und in der gemeinsam erlebten Lust scheinen sich die Unterschiede von Sieg und Niederlage ja aufzuheben, wenn man den Vorgang isoliert als ‚sexuelle Interaktion’ auffasst. Es ist indessen der semantische Kontext, der diese ‚Interaktion’ unvermeidlich als kulturellen Vorgang qualifiziert, von dem abhängt, was erlebt wird und was das bedeutet. Es ist unerträglich, sich zuerst diesen ‚Dialog’ anhören zu müssen, und dann zum Zeugen einer sexuellen Interaktion gemacht zu werden, die die Abhängigkeit des unterworfenen Liebesobjekts derart ausnutzt für eine Befriedigung, die nicht zu trennen ist von der vorangegangenen Verletzung des Liebesobjekts und seiner Unterwerfung, mehr noch, seiner Kapitulation, die mit der Widerstandslosigkeit und dem Einverständnis des Geschlagenen rechnen kann.

Denn niemand, der noch seiner Sinne mächtig und seiner selbst und der Situation inne ist, wird hier mitspielen, um den Preis einer derart erkauften ‚listvollen’ Befriedigung. Man wird der derart zur Domina sich erhebenden Protagonistin in Erinnerung an die zuvor ausgebreitete Larmoyanz angesichts dessen, was ihr von ihrer Umgebung und der Immigrationskultur angetan worden ist, den mit dokumentierten Genuss dieses Sieges in der sexuellen Lust getrost abnehmen können. Jetzt verstehen wir, was es zu bedeuten hat, dass sie meint, dass sie angekommen ist, während er erst noch anzukommen hat dort wo sie ist, bei der Auffassung der von den ‚sonstigen’ menschlichen Eigenschaften abgelösten und zum Konsumartikel, zum Unterhaltungsprogramm der Kultur einer imperialen Soldateska umgedeuteten ‚Sexualität’ in der Form von SEX. Das Verhalten gegenüber dem ‚sex’ ist das des Konsumenten. Das erinnert an Vance Packards Buch, ‚The waste makers’, insofern diese Konsumhaltung gegenüber den sexuellen – geschlechtlichen – Eigenschaften menschlicher Individuen – bzw. der Gattungsexemplare der Tierart Homo sapiens – unvermeidlich auch die Haltung einschließt, die der Konsument gegenüber den Überbleibseln seines ‚Verhaltens’ von vornherein hat, nämlich die gegenüber dem Müll, dem gegenüber er bestenfalls zur Haltung der Mitwirkung an der verantwortlichen Entsorgung veranlasst werden kann. Das schlägt aber zurück auf den Anfang, die Bedingungen, unter denen solche ‚Beziehungen’ dann insgesamt stehen, indem sie a priori unter das Vorzeichen der Vorläufigkeit, des Zufälligen und des alsbald durch Anderes Substituierten geraten, bei identischer struktureller Verwahrlosung, bezogen auf den Sinn von Sexualität und Partnerschaft für das menschliche Leben, das unter dem Gesetz der Generationenfolge steht. Die jeweils erwachsenen Individuen sind ja in gewisser Weise nur Repräsentanten der genetischen Substanz, die sie verkörpern, wie Pilze z. B. nur die ‚Körper’ sind, die die Sporen tragen und verbreiten helfen, die das unterirdisch ausgebreitete Myzel, das der ‚Pilz’ als Ganzes ist, mit ihrer Hilfe verbreitet.

Die zivilisatorische Perversion ist derart ganz ihrerseits, Murasakis. Man sollte auch noch einmal die Passage Seite 184 lesen, wo Murasaki den Gesprächspartner verhöhnt, indem sie seinen Heiratswunsch mit Tiervergleichen paraphrasiert: „I Thought this was a partnership for life“, sagt dieser, und erhält zur Antwort: „Like Canada geese huh? Like Mandarin ducks“ (184). Was sie damit meint, wird klar, wenn man weiß, dass diese Spezies gewöhnlich komplexe Werbungsverhaltsensformen zeigen, die der Art der Partnerbindung entsprechen, die gewöhnlich lebenslang dauert bzw. wenigstens bis zum Tode eines der beiden Partner. Hier gebraucht Murasaki kulturelle Paradigmen (Musterbeispiele) aus beiden Lebenswelten als Vergleichsgrundlage für die Art der Partnerschaft, die sich ihr Partner vorstellt.

Kaum zufällig erscheinen in der Bezeichnung der Spezies die beiden Kulturkreise, Kanada (hier mit dem Englischen, also dem Anglo-amerikanischen als sprachlichem Boden, nicht dem Französischen, von dem im Kontext der gesamten Erzählung nicht einmal eine Erwähnung vorhanden ist) und Asien (hier mit dem Japanischen als sprachlicher Grundlage). Ein übergreifender Vergleich, etwa unter Bezugnahme auf den Albatros, der ‚kulturneutral’ wäre, insofern dieser Seevogel zwar ähnliches Paarungsverhalten hat, aber keine kulturspezifischen Assoziationen weckt, weil er in gewisser Weise beide Kulturkreise überfliegt, wird nicht vorgenommen. Das ist von Bedeutung, weil dies ihre endgültige Festlegung ankündigt, einen ‚Paradigmenwechsel’ um das Modewort auch einmal zu nutzen. Im Unterschied zu den genannten Spezies wird sie ihren ‚Partner’ – gemäß den Regeln der Lebensunterabschnittspartnerschaftenkonzepte - verlassen. Ihre Bezugnahme auf diese Vergleiche ist – durch die Form der rhetorischen Frage – abwertend, eine Tendenz, die durch das an die erste Frage angeschlossene ‚häh?’ ganz eindeutig wird.

((Zugleich kann man daran sehen, dass Paradigmenwechsel nicht notwendig zum Besseren führen müssen, wenn auch vielleicht zu einer ‚Identität’ oder zu einer Identifikation. So gesehen muss man die kluge verbreitete Wortwahl anstelle ‚Wechsel’, ‚Reform’ usw. bewundern. Keiner will sagen, dass es besser würde, nur unbestimmt und drohend anders.))

10. Ein Sattelpunkt

Es wird noch zu zeigen sein, dass das von Bedeutung ist. Murasakis Einsatz von Bildern und Metaphern ist hier verändert. Den gesamten ersten Teil des Buches hören gebraucht die Autorin eher Bestände aus der Herkunftskultur. Hier ist nun der Gleichgewichtspunkt, an dem zugleich beide Lebensräume den benutzten Vergleich liefern. Erkennt die Heldin die Vergleichbarkeit der Kulturen? Oder sogar Identisches, das beide miteinander gemeinsam haben?

Zu erinnern ist daran, dass Murasaki ja sagt: „I decided that we could be a love story and could be very proud of it.” (183). Die Gestaltung macht dann aber eigenartige Probleme, so als müsse eine love story ganz selbstverständlich das Leiden der Liebenden aneinander zum Inhalt haben, also in diesem Sinne ‚dramatisch’ verlaufen. Dabei ist es doch so, dass die glücklichsten Liebesgeschichten vermutlich ganz undramatisch verlaufen, was dazu verleiten könnte, das dann mit ‚langweilig’ gleichzusetzen. Jedenfalls kann das ein Anlass sein, auch angesichts der Erwähnung von ‚Romeo und Julia’, darüber nachzudenken, welchen Sinn die Autorin bzw. Murasaki mit der Bezeichnung ‚love story’ eigentlich verbindet, und ob das obligatorisch ist.

11. Roadmovie

Der Übergang auch Murasakis ins Roadmovie ist damit eingeleitet. Auch sie ‚geht’ nun, entsprechend dem zum Klischee einer Zigarettenmarke gewordenen Slogan vermutlich West. Die Identifikation mit der schon auf die Reise geschickten Obachan garantiert die Legitimation. Das kann hier nur gestreift werden. Die faksimilierte Postkarte, die den Beweis für Obachans Reise darstellen soll, kann nicht von ihr sein. Sie kann kein Englisch und schon gar nicht kann sie es schreiben. Die Schrift scheint eher eine Handschrift einer jungen Person, die in einer Schule die Druckschrift schreiben gelernt hat, über die mehr und mehr Amerikaner es nicht hinausbringen zu einer fließenden Kursivschrift, die in Europa noch immer die Handschrift darstellt (S. 192). Man kann ahnen wozu hier die ‚Fiktion’ eigentlich den Vorwand abgeben muss: Für die Unbelangbarkeit. Es handelt sich um Phantasien im Kontext der Klärung des Problems der kulturellen und der Geschlechtsidentität im Verhältnis zum anderen Geschlecht.

Dies alles bereitetet den Höhepunkt vor, der unvermeidlich und ganz brav allen Sinn einmünden lässt in die amerikanische Trivialmythologie. Part Five. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Einteilung in Parts einen Sinn hat, auf den wir jetzt zurückkommen können, in diesem Fall Part Three, der genau genommen aus den Sätzen besteht: „An Immigrant story with a happy end…Everything that is missing or lost or caught between memory and make believe or forgotten or hidden or sliced from the body…Or a longing desire for…Part three. The missing part.“

Man kann sich an ‚…caught between memory and make believe…“ halten, und den Kontext von “An Immigrant story with a happy end…” heranziehen, um den Part Five entsprechend zu verstehen. Die Phantasie muss das Ausbleiben des gesuchten happy end ersetzen. Das aber mündet dann auf ganz gewöhnliche Art und Weise in den amerikanischen Alptraum, hier spezifiziert als ‚agricultural hell’, aber das ist eine Täuschung aus zu großer Nähe. Es ist die ‚industrial hell’ der Profitwirtschaft, die hier regiert. Aber das betrifft nicht den kompensatorischen Größentraum Murasaki-Naoes, den und die Autorin zum Abschluss serviert. Wir betrachten ihn später noch ein wenig.

12. End of a ‘love story’?

Murasaki’s bzw. der Sieg der Ich-Erzählerin der Rahmenerzählung ist damit vollständig. Sie sind nun bereit zu gehen. Nicht nur sind die zunächst erzähltechnisch auseinander gehaltenen Teilpersönlichkeiten Murasaki, Obachan und die Ich-Erzählerin sowie die anonyme Erzählerin der durch drei Punkte abgegrenzten Passagen miteinander verschmolzen (Seite 188, die uns noch eine Szene der Art von Seite 191 serviert, und zwar nach allen diesen Auseinandersetzungen, aus der Perspektive der/des anonymen Erzählers/in – in dieser Textgruppe ist, im Gegensatz zu allen anderen nicht feststellbar, ob der Erzähler männlich oder weiblich ist.) Auch die bisher abgespaltenen, auf die Exponenten der ‚fremden Kultur’ projizierten sadistischen Anteile (die ‚Cowboys’[103. Sie rettet da einen Salamander vor den Jungen, die mit dem in dieser Gegend Kanadas nicht heimischen Tier herumspielen und sie erschrecken wollen. Später vergleicht die den Penis des Geliebten mit einem Salamander.], die Typen die ‚oriental sex’ mit ihr haben wollten (122), die sie mit gehässigen Reimen verhöhnten als ‚Chinesin’ – sie verteidigt sich: But I am not Chinese, als ob es darum ginge –) sind in der Auseinandersetzung mit dem Geliebten, der zwischen verschiedenen Instanzen hin und her gereicht wird, erfolgreich integriert. Er verkörpert die ‚eigene Kultur’, die sie als ‚heritage’ reklamiert. Allerdings zeigt sich, dass es offenbar einen Unterschied macht, ob die eigene ‚heritages’ nun in der Form von ‚Obachans’ Mythen und derart gewissermaßen als ‚Bestände’ oder als reale Person auftreten.

Der erfolgreiche Rollentausch, der die gelingende Identifikation mit der bisher vehement abgelehnten fremden Kultur (der des Immigrationslandes) ermöglicht und lustvoll erlebbar werden lässt, mach zugleich die Herkunftskultur zur unterlegenen, aber dies wird nun abgespalten und externalisiert in der Form des im Geschlechtsakt in jeder Hinsicht unterlegenen Partners, der auch verbal die Position des Verlierers einnimmt. Die Trennung besiegelt die um den Preis der Abspaltung gelingende Integration, die Identifikation mit dem Angreifer. So kann die nunmehr integrierte Gesamtheldin am Ende des Texts zugleich die angenommene Kultur des Immigrationslandes als dominante akzeptieren (von Dominus und Domina), indem sie selbst in dem kulturellen Modell die Domina wird. Die Herkunftskultur wird in der Form des männlichen Partners zur inferioren, und kann so auch in ihre Persönlichkeit integriert werden. Das anschließende Roadmovie beschert ihr in der Gestalt von SUN einen ersten Partner, die die Immigrationskultur vollständig verkörpert (ohne Rücksicht auf seine ethnische Abstammung), der aber ebenfalls ein Verlierer ist, der mit ihr die Erfahrung der Demütigung durch die Immigrationskultur teilt, die für die Heldin nun keine Gefahr mehr darstellt, nicht zuletzt deshalb, weil sie auch diesen Gelegenheits  und Sparringspartner auf dem Weg zur kulturellen und intellektuellen Emanzipation sofort wieder aufgibt, indem sie ihm die Loseraspekte mitgibt. Sie macht sich darüber lustig, dass er den Abschied bedauert, also noch menschliche Regungen zeigt, d.h. aus den vergangenen Demütigungen offenbar nichts gelernt hat (die Identifikation mit dem Angreifer als Rollenstereotyp zu assimilieren).

13. Die Integration des Selbst

Man muss beachten, wie die Textstrukturen ab Seite 190 geordnet sind. Die Identitäten von Obachan und Murasaki sind hier längst ineinander übergegangen und die Ordnung des Textes unterstützt das. Man kann nicht mehr genau sagen, welche der beiden Identitäten, Obachan oder Murasaki hier mit dem Partner interagiert. So ist es nicht mehr von großer Bedeutung, wer hier spricht, wenn die Trennung von ‚my cowboy friend (202) kommentiert wird: „He looked so sad when he dropped me off, men with their affinity for unhappy endings. No need to make a tragedy out of every encounter. That doesn’t mean that I don’t like to listen (!) to Prokovieff’s Romeo and Juliet.” Die Bildungsreminiszenz erscheint zugleich neutralisiert als ‘listen to’. Die Anspielung auf die dramatische Form der Tragödie missversteht ein Bedauern angesichts einer Trennung von einem Menschen, den man gern hat willkürlich und ohne eigentlichen Bezug zur tragischen Form, die hier gar nicht berührt ist. Die Äußerung von Trauer bei einer Trennung sagt nichts darüber aus, dass die Trennung ein gleichbedeutend sein müsste mit einem ‚unhappy ending’. Die Art sich über den Cowboy lustig zu machen, zumal als ‚men with their…’, also in dieser verallgemeinernden Form einer Schwadroniererei, ist kaum kaschiert verächtlich.

Das alles ist mit dieser Art des ‚encounter’ vereinbar. Auch hier ist der sadistische Unterton nicht zu überhören, obwohl er nicht die Drastik der zuvor beschriebenen Interaktionen hat. Die Aggression ist zum Spott gemildert, weil sich keine Erwartungen entwickeln haben können, wie sie aus einer länger dauernden Beziehung sich leicht ergeben können. Das Experiment mit dem Cowboy hat die Identifikation mit der dominanten Kultur gefestigt. Auch diesem Typ ist die Heldin jetzt gewachsen. Sie hat ihn überwunden und hängt nicht mehr von ihm ab. Die Begegnung hart ihr bezeigt, dass sie diesen Partner nicht (mehr) braucht um sich ‚integriert’ zu fühlen, und dass sie ihm auch nicht (mehr) ausweichen muss, weil sie sich unterlegen fühlt. Sie braucht ihn nicht kompensatorisch und muss ihn nicht vermeiden, um ihr Ich-Balancen zu erhalten.

Derart vorbereitet kann’s dann ins Finale gehen.

VII. The Lone Ranger or ‘Riding the Bull’

  1. Ein amerikanischer Trivialmythos und das archaische Größenselbst.

Hi ho silver, away”. (The Lone Ranger)

Die gelungene Integration der abgespaltenen Teile des Selbst und die Identifikation mit der fremden Kultur sowie die Integration der ‚Erbschaft’ in der Form des Gegenbildes der dominanten Kultur, die zugleich die Stabilisierung der gefundenen Geschlechtsrolle im Verhältnis zu möglichen Partnern wie immer problematisch stabilisert und ausbalanciert hat, führt zu einem sich schon in der Überwindung der Partner ankündigenden Triumph, der den gefeierten Siegen folgt. Die Apotheose des neu gewonnenen Selbst entlädt sich in einer Größenphantasie. Nachdem sie die Partner unterworfen hat, kann sie nun den Bullen reiten. Wenigstens in ihrem Größentraum. Dieser ist zugleich vollkommen konform mit der zuvor angeklagten ‚agricultural hell’. Man kann daran sehen, wie gut die aggressiven, zuvor in der Form der Ablehnung der Immigrationskultur und der Ablehnung ihrer männlichen Verkörperungen ihrer Peergroup abgespaltenen Persönlichkeitsaspekte nun integriert sind in ein Selbst, das die Geschlechtsrolle definiert und die Einstellung zu möglichen Partnern, auf deren ‚Aggressivität’ dieses Selbst nun eingestellt ist derart, dass es sich nicht nur auch mit ihnen zu identifizieren vermag. Die den Schluss bildende Phantasie vom Ritt auf dem Bullen überbietet diese Identifikation noch durch die Vorstellung einer erfolgreichen Konkurrenz im Kampf um Erfolg.

Freilich, die Bullenreiterin ist maskiert. Die Imago, die sie annimmt, ist verdoppelt, einmal tritt sie auf als ‚the Purple Pask’, eine mythische Inkarnation von Obachan/Murasaki (Vg. S. 174), die sich ja auch ‚Purple’ nennen lässt von ‚Tengu’, der sich in SUN verwandelt in der ihm als ‚biographisch’ zugeordneten Geschichte von dem Sohn des Cowboys (und seiner ‚Freundin’). „The misteeeeerious bullrider, who gives bullriding a whole new meaning. No one knows who he is, where he comes from“. (217) Das kann man bis auf die Rittersagen zurückverfolgen, mit Sicherheit auch auf Japanische. Da ist das dann der maskierte Samurai, vermutlich. Ein Ritter ohne Furcht und Tadel, unbesiegbar, eine Legende. „Like that other masked wonder, who rode that Hi Ho Silver horse, I can’t remember his name.” Ich kann: Es ist THE LONE RANGER, sein mythisches Pferd ist SILVER, und stets sagt er am Ende – nach seiner jeweils letzten Heldentat, zu diesem: “Hi Ho Silver, away”, und reitet in den Sonnenuntergang.

The Lone Ranger ist der Held eines Comics aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, einer der amerikanischen Trivialmythen, auf den sie sich bezieht, und den sie nun in ‚The Purple Mask’ variiert. Andere derartige rurale Inkarnationen des amerikanischen Superhelden waren Hopalong Cassidy und Roy Rogers, aber die trugen keine Maske. Zorro ist zwar maskiert, aber eher eine hispanische, antiamerikanische Variante aus dem von den USA annektierten Nordmexiko, von Texas bis Kalifornien, nutzt aber den amerikanischen Mythos um ihm einen Antagonisten auf seinem eigenen Boden entgegen zu stellen. Die Zielgruppe lässt grüßen. Die übrigen sind städtische Helden, von Superman über Batman zu Spiderman, denen dann auch die entsprechenden weiblichen ‚Assistentinnen’ zugeordnet werden können. Dieser Aspekt ist aber kein Bestandteil des ruralen Trivialmythos. Der lässt das Weibliche (als ‚chicks’, Hühner) nicht zu, ist also ‚Macho’ as can be. Ein Supergirl aber gibt es jedenfalls, während Lois Lane, die Alltagsgefährtin Clark Kent (alias Superman) seine wahre Identität nicht kennt, obwohl ihr gelegentlich schwant, ihr ‚Kleiner Feigling’ lönnte am Ende Superman SEIN, eine sich dennoch angesichts überzeugend vorgewiesener Angepasstheit sich immer wieder erledigende Vermutung, die derart als Produkt eines Wunsches erscheint, ihr Kollege möge doch Superman sein, damit Lois ihn denn auch lieben könnte. So bleibt der blasse Brillenträger und Bürotyp denn immer auf der Schwelle zum attraktiven MANN hängen, als enttäuschender Versager.

The Purple Mask ist also eine Reinkarnation einer ruralen Variante des amerikanischen Superhelden. Aber es ist die Variante, die zuleich am reinsten ‚Macho’ ist (Zu der Bezeichnung ‚Macho’ das Buch ‚Die spanische Inquisition’, wo das in einer Anmerkung ausführlich hergeleitet wird). Dieser Typus ist ja auch noch Gegenstand der Präsentation in der einschlägigen Zigarettenwerbung, jetzt allerdings in einer Antiwerbung auch mit der Sprechblase: „I got lung cancer“. Das wäre dann die Entmythologisierung des Trivialmythos und belegt die Übernahme der Mythenerzeugungsmaschine durch andere organisierte Interessen, die das Heldenbild an eine bestimmte Vorstellung von Gesundheit anpassen, das sich eine mobile Gesellschaft verschreiben muss, die die Investitionen in Arbeitskraft optimal nutzen will. Die Helden, die die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts bestritten, waren auf kurzfristigeren Verbrauch angelegt und das Rauchen war gewöhnlich nicht ihre entscheidende Todesursache. Das konnte man anders anlegen. Das Aufgreifen eines bereits verblassenden Trivialmythos der Männlichkeit durch die Autorin ist bemerkenswert, weil sich die Heldin, wie man jetzt sagen kann, Murasaki/Obachan, jetzt mit der zum Heldentypus überhöhten Verkörperung der Männerrolle der ‚agricultural hell’ identifizieren kann. Damit verliert diese Hölle aber den Charakter der Hölle, den sie hat, solange ihre abgespaltenen aggressiven, sadistischen Impulse auf diese Umgebung projiziert waren. Die Omnipotenzphantasie, die diese Aggression reintegriert, versöhnt sie mit der ‚fremden Kultur’, der sie sich bisher hilflos ausgesetzt sah und unterwirft sie sich – mitsamt der männlichen Rolle des Helden in der Gestalt, die nun die Gestalt des Bullen annehmen, den die Helden in ihrem Ritt beherrscht wie sie den Geliebten beherrscht im sexuellen Akt.

Als The Purple Mask, die The Lone Ranger reinkarniert, macht sie sich zur Herrin der fremden Kultur, zu ihrem steuernden Subjekt. Zugleich wird hier auch die Identifikation mit Yamanba (115ff) integriert, aber es ist bezeichnend, dass die japanischen Mythen ihrer ‚heritage’, ihrer Herkunftskultur jetzt alle absorbiert sind in der Phantasie, deren dynamische Grundlagen wohl dieselben bleiben, während ihre Einkleidung nun die Formen der nun doch als andere eigene Kultur akzeptierten Immigrationskultur annehmen. Der Umschlag ist hier vollendet. Die Immigrationskultur hat sich als identitätsstiftendes Medium durchgesetzt und bietet dem integriertes Selbst das Material für seine Selbstidentifikation. Sie wird nicht länger als Hölle erlebt, sondern als beherrschbare und lustvoll steuerbare Kraft, mit der das Selbst eine dynamische Einheit bilden kann wie mit dem eigenen Organismus und der durch ihn vermittelten Geschlechtsrolle.

2. Der Triumph des integrierten Selbst

Über die psychosexuellen Konnotationen muss nicht mehr eigens geredet werden, da sie im Rahmen der Erörterung der Art der Partnerbeziehungen schon hinreichend deutlich gemacht werden konnten. In der Form der kulturellen Sublimierung symbolisiert er den schriftstellerischen Erfolg, der das integrierte Selbst zugleich siegreich über die ‚agricultural hell’ und die Cowboys sowie über die Kränkungen der Kindheit erhebt. Zugleich bleibt die Phantasie aber dieser Welt verhaftet. Sie erhebt sich nicht über sie. Man kann in ihr eine früh entstandene Identifikation infantiler Art erkennen, die das Selbst später gequält haben mag angesichts der offensichtlich werdenden Unerreichbarkeit ihrer Realisierung, aus Gründen der Geschlechtsidentität und aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, vielleicht auch aus Gründen der physischen Ausstattung. Schließlich wird auch nicht jeder blonde weiße Junge in Amerika ein Bullenreiter. Das Selbst musste sich also zunächst von der Materie der Phantasie trennen, und lernen, dass es andere Möglichkeiten der Besetzung von lohnenden kulturellen Zielen geben kann, die zugleich kompatibel sind mit der Geschlechtsidentität, und der seelisch-intellektuellen sowie der physischen Ausstattung entsprechen. Zugleich damit wird die orgastische Potenz als gesichert phantasiert. „It makes me laugh and the bull is still beneath me. And I find it, I find it…” usw., bis zum Ende der recht schönen Passage (S. 219).

3. Defizite

Die Geschlechtsrollenidentität ist gefunden. Nicht alles ist gelungen. Das Selbst hat eine vorläufige Kompensation gefunden und damit zunächst eine Balance. Diese Lösungen haben aber ein bestimmbares Verhältnis zum Begriff der Kultur, das hier nicht mehr besprochen werden kann, und das deutlich machen kann, worin die Lösung besteht und warum sie genau genommen misslungen ist, wenn man die an bestimmten Standards misst. Das kann aber hier auch nur angedeutet werden. Man kann also trotz der zuzugestehenden Lösung bestimmter prekärer und unausgeglichener Lagen nicht von einer im eigentlichen Sinn befriedigenden kulturellen Lösung sprechen.

Der Griff nach dem Firmament der Kultur ist misslungen. Aber das macht so vielen Leuten gar nichts aus und sie wissen auch so wenig davon, dass das subjektiv zufrieden stellend sein kann und auch nicht unbedingt auffallen muss, es sei denn positiv, insofern es doch als Erfolg in einem bestimmten Sinn schon herausragt – aus was?

Bezeichnend ist, dass hier eine Phantasie vorgeführt wird, in deren Rodeowirklichkeit sich der verstorbene Superman-Darsteller das Genick gebrochen hat, mit der Konsequenz, dass der Held zwanzig Jahre vom sechsten Halswirbel an querschnittsgelähmt dahinsiechte. Man muss den Kontext der Superhelden des Actionkinos Amerikas hier mit sehen, der im Übrigen in der Übernahme des Roadmovieschemas auch schon erkennbar ist, also die Trivialmythen der Bewusstseinsindustrie Amerikas und ihre Bedeutung für die Analyse das Sozialcharakters.

4. All’s well that ends well?

Auf Seite 220 stellt sich das Realitätsverhältnis des Selbst wieder her. Der Partner ist offensichtlich unbeschädigt geblieben. Die aggressiven Phantasien sind leidlich integriert und das Selbst hat seinen Realitätsbezug wieder gewonnen. Zugleich damit zieht es seine Phantasmen von dem Liebensobjekt ab und konsolidiert dessen Realität als alter ego. Sie kann ihn anerkennen und dankt ihm und verlässt den Raum, in dem diese Phantasien als ‚lingering echoes’ noch nachhhallen. Zugleich ist die Identifikation mit der Immigrationskultur abgeschlossen. Die Herkunftskultur tritt als ‚heritage’ zurück. Es war schon darauf hingewiesen worden, dass sich das in der Struktur der Partnerbeziehung anbahnt und wiederholt, die den Inhalt der Rahmenerzählung ausmacht und schließlich in der Identität Muirasaki/Obachan/Ich-Erzählerin aufgehoben und konsolidiert wird, im dialogischen Geschehen, das die Autorin protokolliert, und sich ausformt nach dem Muster eines parallelen, nun aber auf verschiedene Personen (Rollen) in der Form des dialogischen Geschehens abgebildeten Prozesses, der die Relation dieser als Personifikationen konzipierten Pole ausgestaltet auf dem Hintergrund von bestimmten Stereotypen, z. B. Geschlecht, dominante kulturelle Identität, in der Kultur aufgewachsen, eingewandert usw. Der Partner ist also männlich, seine dominante kulturelle Identität ist japanisch, er ist gerade eingewandert. Die Partnerin ist weiblich, ihre dominante kulturelle Identität ist anglo-amerikanisch (kanadisch), sie ist in Kanada aufgewachsen. Der Partner muss erst noch ankommen, sie ist angekommen (und kann deswegen gehen) usw. Hier kann man sich schon recht einfach an die von der Autorin selbst vorgenommenen Kategorisierungen und Klassifizierungen halten, ohne überhaupt Eigenes, den Neigungen des Lesers Entstammendes an den Text herantragen zu müssen. Eine entsprechende Parallele lässt sich bilden anhand der Beschreibung der Art der sexuellen Interaktion der Partner.

Die weibliche Partnerin nimmt eine Position rittlings über dem Partner ein, die Über  Unterordnung – deren Struktur als Herrschaftsverhältnis der literarische Feminismus stets betont hat -, die das sich konsolidierende und endlich das konsolidierte Verhältnis der Herkunfts  und der Immigrationskultur, die als ‚aufnehmende Kultur’ auch charakterisierbar ist, wiederholt, endlich das Auslaufen der Konsolidierung des Selbst in einer Integration, deren Resultat im Inhalt der triumphierenden Größenphantasie deutlich wird im Anschluss an den Mythos des omnipotenten (amerikanischen) Helden, macht einerseits die Art der Konsolidierung durch die Festlegung des Verhältnisses der Kulturen (die der politischen globalen Realität und der tatsächlichen aktiven und passiven Unterwerfung der japanischen Kultur unter die amerikanische Zivilisation kongruent entspricht deutlich: Es ist eine projektive Identifikation auf der Grundlage einer infantilen Omnipotenzphantasie, die dem Sozialcharakter als einem Massenphänomen zugrunde liegt, das sich auf der Grundlage des zunächst von Murasaki noch als Konformitätsdruck, als heteronomer Zwang qualifizierten Enkulturationsmusters konstituiert und den Status dieser ‚Kultur’ qualifiziert. Damit ist zugleich der defizitäre Charakter dieser Konsolidierung einer Identitätsbildung hervorgehoben. Murasaki/Ich-Erzählerin bleibt eine Kompensation eines defizitären Vorgangs, der nicht zu Ende gekommen, sondern auf der Stufe einer konventionalistischen Anpassung durch die Identifikation mit dem Angreifer eingefroren wird. Der Rest von Rebellion, der dazu gehört, (Ich werde nicht aufhören, Fragen zu stellen. Dabei ist doch klar, dass der Adressat, an den dies gerichtet sein wird, keine Antworten geben wird, die weiter führen können. Denn entweder es ist die Immigrationskultur, dann ist bestenfalls eine Modifikation von deren Selbstdarstellung in Richtung auf ‚Toleranz’ und ‚political correctness’ zu erwarten, nebst ihrem Komplement, der Verweigerung oder der Gleichgültigkeit des Sozialcharakters gegenüber den übergestülpten ‚Anordnungen einer politischen semantischen Kosmetik, oder die Fragestellering stößt auf die komplementären Anpassungsbereitschaften einer adaptiven Vorwärtsverteidigung, wie sie sich in einem übersteigerten, politisch ausgesprochen problematischen Hyperpatriotismus ausdrückt, der auf den unvermeidlichen politischen Gegner wie ein rotes Tuch wirken muss, wo und weil er mit den politischen Mächten in einer Weise zu kooperieren bereit scheint, die als Folgen die Population als Ganze zu ihrem Nachteil treffen können.) ist Ausdruck dieses Kompromisses.

In jedem Fall ist die beschriebene Identität im Ergebnis kein Subjekt einer möglichen Kultur, sondern ein Objekt von Umgebungsprozessen, deren Inbegriff dem Individuum als Kultur im Modus des Artefakts und der Bestände entgegentreten, deren Verkörperungen in den durchschnittlichen Individuen – zunächst noch als Barbarei wahrgenommen – dann nur eine Art von Abweichung von den durch Idealisierung zum ‚Eigentlichen’ diesen gegenüber stilisierten Beständen darstellen, die den defizitären Status dieser Individuen gegenüber der Idee der Kultur markieren, denen gegenüber die in der platten Identifikation mit dem infantilen Größenselbst mit diesem zusammenfließenden Trivialmythen herausgestellt werden als Kulturbesitz, der nicht zufällig anstelle des Prinzips der Subjektivität das ökonomische Schema des angeeigneten Eigentums annimmt, und sich mittels eines Überbietungsreflexes und im Konkurrenzkampf mit anderen entsprechend dem sozialen Karriereschema als Aneignung materialisiert, die der Mühe enthebt, die Quelle und die Reflexionsinstanz der Kultur zu sein. Als könne, was derart angeeignet wurde, sein, was der Aneignungsvorgang schon verfehlt, und was das Angeeignete von sich her nicht gewährleisten kann, insofern es bloßer Bestand ist, zu schweigen davon, dass Subjektivität und Kultur in ihrer Existenz unverzichtbar aufeinander verwiesen sind, und erst in dieser Form aus einer Möglichkeit zu einer Wirklichkeit sich zu erheben vermögen.

Die projektive Identifikation versucht die Subjektivität zu ersparen, indem sie sie mittels eines Kurzschlusses durch eine Kompensation ersetzt, die eine Identifikation mit dem Angreifer versucht, derart diesen abwehrt durch die Überbietung, die zu einer Hyperanpassung führt, die im Kern sich zwischen dem archaischen Größenselbst einerseits und seinen in die Form von Trivialmythen einer Bewusstseinsindustrie, die als ‚Kultur’ falsch identifiziert ist, projizierten semantischen Beständen andererseits konfiguriert, die den Sozialcharakter konstituieren, der sich im Alltag dann als ‚herrschende Kultur’ aufdrängt und den Anpassungsdruck ausübt, in dem jeder zum Verfolger aller wird, die ihrerseits die Verfolger von jedem sind, und mit dessen millionenfachem Echo die Omnipräsenz der ‚Medienwelt die Individuen unablässig millionenfach verstärkt durchdringt, in der unablässigen Erneuerung einer informationstechnologisch systematisch propagierten globalen Pandemie, gegen die es kein Heilmittel zu geben scheint.

Aber wie sind dann diese Überlegungen möglich geworden? Das, lieber Leser, ist eine Frage, die jenseits der Reichweite der Formulierung liegt, die die Autorin an den Schluss ihrer Erzählung setzt: „You know you can change the story“. Denn wer sollte das und warum wollen, wenn es in der Tat um etwas ganz anderes ginge, das sich im Bereich der Variationsbreite möglicher Geschichten von dieser Struktur und diesem Inhalt gar nicht fände?

Das ist eine Kurzfassung.

Ich habe mir den Scherz erlaubt, keine Unterscheidung anzugeben, die erkennbar werden lässt, in welchem Verhältnis zur Realität die analytischen Ausführungen stehen, und wenn, was diese Realität sein soll. Es ist ja von einem Text-Leser-Verhältnis die Rede gewesen, und nicht von einem Leser-Realitäts-Verhältnis.

Die Bearbeitung des mittleren Teils des Texts, der das Material der ‚folk-tales’ verwendet, ist noch zu machen.

Gleichwohl treten in dem Text, in jedem Text Elemente auf, deren Verhältnis zueinander ganz unabhängig davon beurteilt werden kann, auf welche Realität sie verweisen könnten. Das sind solche Elemente bzw. Verhältnisse, die in sich selbst eine Form haben, die ein Urteil über sie möglich macht. Es ist unerheblich ob einer Darstellung eines Dialogs von Personen eine Realität dieser Personen und der Situation jemals entsprach, wenn man die Struktur der Situation und des dargestellten Dialogs ins Auge fasst als Form menschlicher Beziehungen. Wer für das Dargestellte die Verantwortung hat oder übernimmt, wer das Subjekt ist, dem dies alles zugerechnet werden muss oder sollte ist dabei zunächst unerheblich. Es geht um die Textstruktur und das was sie darstellt. Entzieht sich ein Autor der Unterscheidung von Tatsachenbericht und Phantasie, dann entpflichtet das auch den Analytiker des Textes, der dann eben Textrelationen untersucht, und deren möglichen Realitätsgehalt. Ebenso sind normative Beziehungen, die ein Text darstellt, etwa im Rahmen einer Erörterung des Problems der Kultur(en) und ihrer Beziehungen zueinander beurteilbar, indem sie am Begriff Kultur gemessen werden. Das ist nur zur Orientierung gesagt.

Weiter kann ich das jetzt nicht mehr behandeln. Das Problem der Kultur, also die bloß relative Emanzipation ist nicht mehr zu explizieren, und vieles andere auch nicht. Außerdem tauchen jetzt schon wieder neue Gesichtspunkte auf, die die Verhältnisse verschieben. Das muss mindestens warten.

Das sind stehengebliebene Notizenreste. Liebe: Murasaki 54, dann die Ich-Erzählerin 55 Liebe als Sucht, Konsumartikel, 185, wo sie (Murasaki) ihm (dem Geleibten) n einem Wortgefecht eine Falle stellt. Dabei wird sie ihn verlassen (191) Und wieder vögeln, nachdem es ihr gelungen ist ihn zu verletzen. Sado-masochistische Beziehung. Do you have to ask? 182, 188. 192 antizipiert sie (die Ich-Erzählerin) die Argumente. Sie kennt sie. Die Geschichte der Großmutter, die auch das Haus verlässt, muss das legitimieren. Dabei hat die Großmutter ihre Aufgabe lebensgeschichtlich gelöst, nicht so Murasaki (oder wer immer).

Und hier ist jetzt einfach willkürlich zunächst Schluss. Das Meiste bleibt ungesagt. Viel Spaß damit Rebecca-Eva, mein goldener Schatz. Ich hab es nicht nochmals durchlesen können. Es können deshalb noch ein paar Unregelmäßigkeiten darin stehen. Ich habe buchstäblich nur zum Schreiben Zeit gehabt und mir keinen Blick zurück oder zur Seite leisten können und mich darauf verlassen müssen, dass mein Denkapparat funktioniert, und sich keine unerkannten diametral entgegen gesetzten Behauptungen leistet im Laufe von ein paar Tagen. Soweit ich mich erinnere ist das nicht der Fall. Aber das wirst Du sicher sehen, ob das auch richtig ist. Der letzte Teil des Textes ist daher auch nicht detaillierter gegliedert. Ich hatte keine Zeit dazu und auch nicht damit gerechnet, dass es so lang wird. Dabei ist das alles nicht erschöpft. Die Verwendung des Texts überlasse ich Dir. Du könntest ihn ja auch als Diskussionsgrundlage einbringen, von Unbekannt, aber dann kannst Du ihn nicht mehr anderweitig nutzen, vielleicht. Du musst eben sehen. Ich finde, ein paar Sachen sind ganz gut gelungen und es gibt auch eine gute Grundlage ab dafür, wie man überhaupt an literarische Texte herangehen kann. Einblick in meine Methoden. Bis dann…

VIII. Vorläufige Nachbemerkungen

„’Nicht zu unverständiger Ergötzung die Musen zu gebrauchen, sondern die ungeordneten Bahnen unserer Seele zur Ordnung und in Einklang mit sich selbst bringen zu helfen’, ist die eindringliche Mahnung Platons“. (Timaios 47 d, zitiert nach Julius Stenzel, Über zwei Begriffe der Platonischen Mystik, in: Kleine Schriften zur Griechischen Philosophie, Darmstadt - Wiss. Buchges. - 19572, S. 23

1. Where does one thing end and another begin?

Das ist eine Frage, die die Autorin dem Leser mehrmals stellt. Sie hat eine ähnliche Funktion wie die andere, ebenfalls mehrmalige Aufforderung, selbst eine Geschichte zu erzählen, nachdem man sie die ihre hat vollständig zu Ende erzählen lassen, und wie die Mitteilung an den Leser (bzw. den Geliebten): „You know you can change the story“.

Bevor man die innere Zusammengehörigkeit der drei ganz unterschiedlichen Sätze aufzeigt (einer Frage, einer bedingten Aufforderung und einer als bekannt unterstellten Proposition) ist es nötig, die Sätze der Reihe nach zu untersuchen.

Where does one thing and another begin? (Belegstelle) . Da es eine Frage ist, ist es richtig sie zu beantworten. Es hängt einerseits von der Art und der Methode der Kategorisierung ab, andererseits von der Art des zu klassifizierenden Objekts, der Beschaffenheit dessen, was einer Kategorisierung unterworfen werden soll. Dass es das auch soll, ist in der Frage schon impliziert. Denn sonst wäre sie als rhetorische Frage zu qualifizieren, auf die der/die, die/der die Frage stellt, gar keine Antwort erwartet. Davon kann man aber nicht ausgehen, denn das würde bedeuten, man unterstelle der Fragestellerin einen strategischen Umgang mit dem Leser. Damit würde sich aber sogar die Lektüre des Buchs erübrigen, und ebenso jeder Versuch es verstehen zu wollen. Es würde den Leser von der Verantwortung entlasten, sich zu dem Text n irgendeiner Weise zu positionieren. Da dies als Versuch missverstanden werden könnte, sich davon stehlen zu wollen durch den Rückzug in eine Haltung, deren Indifferenz am Ende Problematischeres verbirgt, das sich nicht mitteilen lässt ohne dass sich daran berechtigte Kritik anschließen lassen könnte, ist also davon nicht auszugehen.

Die Fragestellung ist nicht neu. Eine der möglichen Behandlungen des Problems ihrer Beantwortung steht in der Form der ‚Cognitive Science’ zur Verfügung, und es ist ein Entgegenkommen gegenüber der Autorin, wenn man diejenigen Antworten heranzieht um die Frage zu behandeln, die in dem ihr in einem gewissen Sinne vertrauten Kultur  und Sprachraum, der auch das weniger Schätzenswerte einschließen mag, schon zur Verfügung stehen, als positive und beachtenswerte Bestände, zumal dann, wenn sie sich ihrerseits bewusst in einer wenigstens in großen Zügen nicht verleugneten kulturellen Tradition stehend auch von dieser her bestimmen, ohne ihre eigene Leistung deshalb unterbelichten zu müssen meinen.

Dass das Ende eines Dinges von dem Anfang eines anderes sich aufgrund der Beschaffenheit von Objekten selbst ergeben kann, ist an den Gegenständen des Alltags leicht zu zeigen. Wo der Tisch endet und der ihm umgebende Raum beginnt, ist von ähnlicher Art wie Grenzen und Umgebung eines Gefäßes auszumachen sind, oder eines Würfels, einer Kugel, eines Blattes Papier etc. Noch schärfer ist diese Differenz auszumachen bei der Unterscheidung gerader und ungerader ganzer Zahlen, weil sie nicht so sehr von dem Verhältnis von umgebendem Raum und dem Raum abhängt, den ein in bestimmter Weise umgrenztes Objekt einnimmt in diesem, sondern von der Eigenschaft des Objekts selbst (Teilbarkeit oder Nichtteilbarkeit durch zwei). Ein Vogel ist von einem Menschen kategorial schwieriger abzugrenzen, weil erst die Gleichzeitigkeit mehrerer signifikanter Merkmale eine hinreichende Unterscheidung ergibt, semantisch betrachtet, während die Phänomenologie den Unterschied gewissermaßen augenfällig unmittelbar darbietet. ‚Zweifüßigkeit’ ist nicht ausreichend als Merkmal zur zuverlässigen Unterscheidung, aber ‚zweifüßig und `mit Federn`’ ergibt schon eine hinreichende Unterscheidung des Vogels vom Menschen. Das Beispiel, das der Intention der Frage der Autorin näher liegen dürfte, ist gegeben durch die Eigenart der Farbe(n). Physikalisch gesehen ist ‚Farbe’ ein Sample aus dem Bereich der kosmischen Strahlung, und zwar ein Sample, das sich in dem Ausschnitt aus dieser Strahlung konfiguriert, die u. a. von Menschen als ‚Licht’ wahrgenommen werden können.

Die Grenzen dieses Ausschnitts sind definiert durch das Infrarot (das wiederum als Wärme, aber von einem anderen ‚Sinn’ wahrgenommen werden kann) und das Ultraviolett (das wenigstens anhand des Sonnenbrandes oder der Hautbräunung teilweise in Erscheinung tritt). Es ist bekannt, dass dieser Ausschnitt der wahrnehmbaren Strahlung, der sich bei Lebewesen über zwei Sinne erstreckt, wenn man die Wellenform des Schalls einmal ignoriert, die spezielle Umgebungsbedingungen zu ihrer Wahrnehmbarkeit braucht, nämlich ein leitendes Medium, das in mechanischem Kantakt steht mit dem Wahrnehmungsorgan, physikalisch gesehen ein Kontinuum von Wellenlängen (Frequenzen und Amplituden) darstellt, die nach ihrer ‚Länge’ bzw. Dichte unterschieden werden können. Wahrgenommen werden aber nicht diese, sondern eben ‚Farben’. Diese bilden ein kontinuierliches Spektrum, in dem sich dennoch einige, klar voneinander unterscheidbare Grundfarben ausmachen lassen: Grün, Rot, Gelb, Braun, Blau, Orange, Violett, Rosa, Weiß und Schwarz und Grau. (Weiß und Schwarz sind hier als Farben ausgefasst.

Das entspricht dem Sprachgebrauch der wissenschaftlichen Untersuchung. Manche Maler sehen das anders.) Violett, Orange, Grau mag man sofort als erkennbare Mischfarben identifizieren. Es ist bekannt, dass die semantische Ordnung der Farben und auch ihr Grad der Differenzierung von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist, also auch das semantische Feld, das Farben identifiziert und ordnet. Und ein Maler mag eine Fülle von Abstufungen benennen können, die nach Intensität und Helligkeitsgrad differenziert sind sowie im Bereich der Farbübergänge liegen, die zwischen den von einer Kultur semantisch benannten Hauptfarben liegen. Andererseits belegen Untersuchungen, dass die Hauptfarben kulturübergreifend ohne Rücksicht auf das semantische Feld der Ordnung der Farben mit größerer Sicherheit identifiziert werden, was darauf hinweist, dass hier der Sinnesapparat derart ist, dass die Wahrnehmung der Identität der als Objekte wahrnehmbaren Hauptfarben bestimmte Wellenlängen gesichert ist, indem er sie eben als solche Objekte identifiziert unabhängig von dem semantischen Feld, in dessen Rahmen eine Kultur (oder Sprache) Farben Namen zuordnet.(Gardner, Dem Denken auf der Spur, Klett-Cotta, Stuttgart 1989, Kapitel 12, 356 ff).

Die Antwort auf die von der Autorin gestellte Frage, wo ein Ding endet und ein anderes beginnt, wäre dem Befund entsprechend, dass die ‚Identität’, die etwas Wahrgenommenes als Ding – oder eine Art Ding – erscheinen lässt, von der Verfassung unseres Sinnesapparats abhängt – der einen bestimmten Ausschnitt des Wellenspektrums der kosmischen Strahlung als ‚Licht’, Wärme oder Schall wahrzunehmen ermöglicht, oder bestimmte Lebensformen dazu verurteilt, diese derart wahrzunehmen [anstatt anders oder ‚so wie sie sind’] oder das zu ersparen [Gäbe es ein Medium, das den Raum zwischen Sonne (oder den Sternen) und der Erdoberfläche einnähme und die Eigenschaften der Luft oder des Wassers hätte, Schallwellen zu übertragen, dann wären wir einem unerträglichen Lärm ausgesetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass Lebewesen dann Ohren entwickelt hätten, es sei dann auch hier wäre das wahrnehmbare Spektrum auf eine Weise begrenzbar durch die Konstruktion bzw. den Design des Organs, die einen ökonomischen Sinn machen würde für das Überleben und die Orientierung.] Das ist eine mögliche Antwort auf die Frage. Aber sie ist nicht erschöpfend, denn das ‚eigentliche’ Interesse der Autorin gilt ja einer Frageabsicht, die sich auf einen ‚semantisch erschlossenen Raum’ beziehen dürfte.

Obwohl sie ganz wörtlich genommen, ja nur nach den Grenzen eines ‚Dings’ fragt, kann man davon ausgehen, dass ihre Frage sich auf semantische Formen bezieht, und zwar zunächst auf die, die ihr Text selbst zur Darstellung bringt und damit auch zur Erscheinung für den Leser. Sie bezieht sich also auf symbolische Repräsentationen einerseits und auf symbolische Mechanismen, die solche Strukturen ordnen und identifizieren (könnten). Eine Antwort darauf bedarf einiger vorbereitender Überlegungen angesichts der Komplexität des Bezugsfeldes, auf das diese Frage hindeutet, während die Frage nach den Grenzen des Dings bzw. nach der Unterscheidung des einen vom anderen den einfachsten Fall darstellt, der klassisch beantwortet wird mit: Die Grenzen eines Dings – als Körper – sind durch die Fläche(n) definiert, die ihn begrenzen, also durch seine Oberfläche. Die mathematisch exakt beschreibbare Form der Kugel z. B. ist die Beschreibung durch ihre Oberfläche. Man kann da wohl genauer werden und z. B. nach der Oberfläche eines Atoms fragen usw. Aber auch hier gibt es, wenn auch komplizierte Lösungen. Aber man kann die Frage, trotz der eingeschränkten Formulierung, die sie auf ‚das Ding’ beschränkt, auch so auffassen, dass man sie als Frage nach der Identität von Personen, dem Anfang oder Ende eines Geschehens in einem Kontinuum auffasst usw.

Da ist zunächst die Eigenart des semantischen Feldes, in dem sich das Gesagte stets auf das Ungesagte bezieht und zu diesem in einem komplexen Verhältnis steht.

Dann ist der Umstand von Bedeutung, dass das Meiste, was von Menschen, und in der Literatur, also auch der Autorin gesagt wird, nicht von der Form und Art der Proposition ist. Aber zunächst gibt es einfache Möglichkeiten, eine Antwort auf die Frage in dem Text der Autorin selbst zu identifizieren. Dazu ist es nur nötig, die ihre eigenen Klassifizierungen zu betrachten. Zu erinnern ist an Oben schon in einem anderen Zusammenhang Gezeigtes: Der Partner ist der Rahmenerzählung, dann Murasakis, ist männlich, seine dominante kulturelle Identität ist japanisch, er ist gerade eingewandert. Die Partnerin ist weiblich, ihre dominante kulturelle Identität ist anglo-amerikanisch (kanadisch), sie ist in Kanada aufgewachsen. Der Partner muss erst noch ankommen, sie ist angekommen (und kann deswegen gehen), im Unterschied zu dem Partner, der gerade eingewandert, aber noch nicht angekommen ist, und den Eltern, die zwar schon lange eingewandert, aber auch nicht angekommen sind usw. Hier kann man sich schon recht einfach an die von der Autorin selbst vorgenommenen Kategorisierungen und Klassifizierungen halten, ohne überhaupt Eigenes, den Neigungen des Lesers Entstammendes an den Text herantragen zu müssen. Es sind die einfachsten Entitäten, auf deren Identität sich die Autorin stützen muss, um überhaupt ein semantisches Feld konstituieren zu können, über den dann der Fluss der Erzählung fließen kann. Das ist aber nur dann möglich, wenn nicht ‚alles fließt’. Letztlich können für eine Antwort auf diese Frage eine sehr große Menge von Beständen in Anspruch genommen werden, die sie mit Sicherheit intelligibel und so gesehen unabweisbar machen, indem sie auf die unvermeidlich von der Autorin selbst in Anspruch genommene Klassifizierungen und Identifizierungen hinweisen, die dann auch die Ausgangspunkte für eine Analyse sein dürften, die die semantischen Beziehungen, die sich zwischen diesen Polen konstituieren und die Prozesse zu identifizieren erlauben, deren Insgesamt den dem Leser vorliegenden Text ausmachen.

Dieser ist nun einerseits sowohl im Hinblick auf die zu seiner Konstruktion verwendeten semantischen Bestände und Techniken (Mythen, Erzählformen) einerseits und andererseits im Hinblick auf die in ihm verwendeten und zu seiner Analyse tauglichen ‚symbolischen Mechanismen’ zu untersuchen, die besonders den bisher um einer Vorwegnahme einer möglichen Rekonstruktion des Sinnes der Erzählung willen übersprungen worden waren. Insgesamt ist dazu zu sagen, dass die Autorin sich hier zu weit vorwagt, in ein Gebiet, das sie nicht beherrscht, und zugleich in ein im Zuge der Geschichte der abendländischen Denkradition bis hin zur Cognitive Science, die man nicht unbedingt als zweifelsfreien höchsten Gipfel des Problembewusstseins betrachten muss, recht gut untersuchtes. Das Fazit der Betrachtung der Ergebnisse, die hier vorliegen, ist jedenfalls, dass die Antworten auf diese Frage, so vielfältig und verwickelt sich das Problem auch darstellen mag, ebenso vielfältig sind wie praktisch immer schon gegeben und gehandhabt. Und das gilt, soweit die Praxis betroffen ist, in jedem Fall auch interkulturell und damit ganz generell, weil und insofern die Kategorisierung, sei es in ihrer ‚schwachen’ oder ihrer ‚starken’ theoretischen Variante, eine der menschlichen grundlegenden Fähigkeiten darstellt, ob man sie nun in der Sprache oder im visuellen Vermögen wurzeln lässt, oder auf je eigene Weise in jedem dieser Vermögen auf je ihre eigentümliche Art und Weise.

(Dazu Zitat Gardner, Dem Denken auf der Spur, Klett-Cotta, Stuttgart 1989, S. 258).

2. Weitere Problemkomplexe

Zur (unbewussten) Intention 256: „Der Geist, der Selbstkonfrontation ausgesetzt…“

Abfall des Denkens aufbewahren 258

Zum Gegenstand des Mythos: Rohes, Gekochtes, Gerüche, Geräusche, Licht/Dunkel 255, und Claude Levi Strauss, Das Rohe und das Gekochte.

Über  Unterbewertung von Verwandtschaftsbeziehungen 254.

Symbolische Natur menschlichen Handelns 260, Kulturen 261

Wo befindet sich die psychologische Realität? Chinese Room Experiment 265 (dazu besonders MITECS)

Logik, Wissen, Tun 266, Sprache 266 f

Anthropologie und Literaturwissenschaft 269

Denken interkulturell 270, Wahrnehmungsklassifikation 271

(Alles in Howard Gardner, Dem Denken auf der Spur, Der Weg der Kognitionswissenschaft, Klett-Cotta 1989, ISBN 3-608-93099) Englisch: The Mind’s new Science, A History of the Cognitive Revolution, Basic Books 1985), weitere Informationen zu den Cognitive Sciences: The MIT (Massachusets Institute of Technology), Encyclopedia of the Cognitive Sciences [MITECS], edited by Robert A. Wilson and Frank C. Keil, Cambridge Mass./London England 1999, ISBN 0-262-73124-X.)

Die Schlussformel („You know you can change the story“) ist zu besprechen, ebenso das diesem Text vorangestellte Motto.

Was ‚die Liebe’ betrifft, den Eros, so wäre der vom ‚Sex’ (als Konsumartikel) abzusetzen. Die Umstände wären zu behandeln, unter denen sich subjektive Verfassungen ergeben, die einen derartigen Artikel nachfragen bzw. anbieten auf einem Markt. Der Vergleichsgesichtspunkt ergibt sich nicht von ‚Romeo und Julia her. Das ist die Geschichte einer an der Feindschaft der Umgebung gescheiterten Liebe. Ein Vergleich mit Platons ‚Symposion’ wäre angemessen. Im Text wird dreimal Shakespeare erwähnt, einmal eine Vertonung von Romeo und Julia durch Prokovieff, der die Ich-Erzählerin gerne zuhört. Der Bezug auf Shakespeare wird wenigstens in diesem Fall nicht durch Lesetätigkeit vermittelt. Wenn hier zum Thema etwas in Frage käme, das die Autorin hätte verwenden können, wenn auch vielleicht nur um sich davon im Namen von ‚Modernität’ abzusetzen, dann wären das die Sonette. Die Erwähnung Shakespeares macht im Übrigen stets den Eindruck einer Bildungsreminiszenz, der keine wirkliche Kenntnis des Autors bzw. seiner Werke entspricht. Das kann man z. B. der Erwähnung des Stücks ‚Richard III.’ entnehmen, das in keinen Kontext überhaupt passt, den die Autorin herstellt mittels ihres Textes, wenn man davon absieht, dass es der Winter als Jahreszeit ist, den sie in diesem Zusammenhang erwähnt (‚Richard III. in his winter’). Was das Stück oder auch nur der darin figurierende Akteur im Kontext ihres Texts zu suchen haben könnte, bleibt völlig unklar, während klar bleibt, dass es sich um einen Missgriff handelt, wenn man sich vor Augen hält, worum es in diesem Stück geht, um einen ausgemachten Schurken, vielleicht die negativste Figur Shakespeares überhaupt. Dasselbe gilt für die Obachan in den Mund gelegte Äußerung: „Ich könnte mich auf den Kopf stellen und Shakespeare zitieren und niemand würde mich hören“. Es ist schlicht eine Clownerie, die sich mit Bildung brüstet, als einem in Konkurrenzen geltend zu machenden Mittel, das Anspruch auf Überlegenheit anmeldet. Auch hier operiert die Autorin auf dem Niveau eines bestimmten Habitus, der den Sinn von Bildung gänzlich missversteht, als ‚Kompetenz’, und damit Überlegenheit über Andere, die auch mit einigem Geschick durch ihre erfolgreiche Simulation ersetzt werden kann, oder durch den Gestus der Bildung. Der Umstand, dass das eine gewisse Verbreitung hat, schließt auch dieses Verhalten an an konformistische Muster, die sich in einem Einverständnis über die Scharlatanerie gefunden haben, indem sie einander nachahmen ohne noch eine Kenntnis des Nachgehamten zu haben. Es genügt das einvernehmlich einander abgesehene Verhalten.

„Wenn jede Ethik von der Einsicht ausgeht, dass der Mensch anders handeln soll, als er aus eigenem spontanem Antrieb handeln soll, dann ist die Gerechtigkeit die reinste Form eines ethischen Verhaltens. Nach einem alten Satze, auf den auch unser Dialog sich zuweilen flüchtig bezieht, besteht sie darin, dass sie ‚das Gute für den anderen’ sucht. Ihr Wesen ist es, gerade nicht dem eigenen Interesse, sondern gegenläufig gegen dieses Interesse dem Interesse des Partners zu dienen – natürlich nicht irgendwelchem Interesse, sondern (genau genommen) so zu handeln, wie es für den Partner gut ist“. (Platon, Jubiläumsausgabe Sämtlicher Werke zum 2400. Geburtstag, eingeleitet von Olof Gigon, Artemis, Zürich und München 1974, Band IV, Der Staat (Politeia), Einleitung, S. 7)

In diesem Sinne hat die Autorin keinen Begriff von Kultur. Das ist gerade anhand der Art erkennbar, wie sie ihre triebhaften Interessen geltend macht und an der Art, wie sie diese Geltendmachung als ihr natürliches Recht verteidigt. Zwar hat sie offenbar eine Vorstellung davon, dass man eine solche Ethik zu berücksichtigen hat, dieses Wissen wird ihr aber lediglich Anlass zu einer perfiden Rabulistik, die vorgibt, das wohlverstandene Interesse des Partners zu vertreten, um das Gegenteil von dem zu begründen, was dieser will. „You would hate to be married to me“ als Antwort auf seine (indirekte) Frage, ob sie ihn heiraten wolle, ist von dieser Art. Gestützt wird das durch ein metakommunikatives Manöver, das dem so verstandenen Partner seine eigenen Begriffe im Munde verdreht. Als er davon spricht, dass es sie seinen Eltern vorstellen will und Verbindlichkeit erwartet, die das tatsächlich bestehende Verhältnis konsolidiert (er spricht von ‚commitment’), dreht sie ihm buchstäblich das Wort im Munde herum, indem sie behauptet: “That doesn’t mean I’m messing around, but the institution of marriage isn’t my idea of what a commitment is about. I could be committed to you from ten thousand miles away, you know?” Das obligatorische ‘you know?’ notieren wir hier nur. Es ist eine ganz und gar amerikanische Berufung auf einen Konformismus, mit dem nicht einverstanden zu sein schon ‚deviant behavior’ bedeutet. Bemerkenswert ist immerhin, dass derart Konformismus und Kultur je ihrem Begriff nach sogar in einen Gegensatz geraten können, und dass abweichendes Verhalten dem entsprechend etwas ganz anderes bedeutet, wenn es auf Kultur und wenn es auf einen Konformismus bezogen wird, dessen Verhältnis zur Kultur ihrem Begriff nach ganz ungeklärt bleibt. Der Zusatz, die Heirat “isn’t my idea of what a commitment is about” erklärt gegen eine kulturelle Institution, die genau dieses commitment darstellt und institutionalisiert, deren Bedeutung also nicht zur Disposition des Individuums steht, genau diese Disposition übe sie und macht dagegen eine private ‚Idee’ geltend auf eine Weise, die letzten Endes im Namen der ‚Freiheit des Individuums’ den Rahmen der Kultur sprengt.

Die Entwertung der kulturellen Institutionen zugunsten privater Willkür des Individuums im Namen von dessen Freiheit definiert Freiheit als diese Willkür gegenüber den Institutionen der Kultur, und damit zugleich als das Recht auf asoziales und antisoziales ‚Verhalten’. Dieses beansprucht nun seinerseits, als Definiens von Kultur praktisch und ad hoc gelten zu können. Faktisch ist das aber das Ende von Kultur. Was sich einspielt ist etwas anderes, denn dieses Verhalten der Individuen, das sich ja immer noch an den einmal institutionalisierten Formen abstützt, um sich mit seinem Eigenrecht negativ gegenüber ihnen nach Bedarf zu behaupten – jede Übereinstimmung damit wird rein zufällig – versucht wohl, die Bedeutung von ‚Kultur’ an sich zu reißen, aber das entspricht nur einer allgemeinen Tendenz, den aufgelassenen Sinn der Termini einfach durch das jeweils Faktische zu ersetzen und ggf. als ‚Bedeutungswandel’ zu rechtfertigen. Damit ist einerseits angezeigt, dass das schon qualifizierte asoziale Verhalten, das gewissermaßen auf der mikrosozialen Ebene den Prozess der ‚Säkularisierung’ fortsetzt, der den modernen Staat hervorgebracht hat, indem es dessen makrostrukturelle Strategien auf der mikrostrukturellen Ebene der Kultur des Alltagslebens parallel dazu wiederholt, andererseits, dass dieses Verhalten sich nicht gern als asozial und antikulturell identifizieren lassen möchte, und deshalb immer neu den Begriff der Kultur für die jeweils zustande gekommenen Resultanten wie für dieses Verhalten insgesamt reklamiert, und dass über eine metakommunikative Strategie verfügt, diese Verhalten zu rationalisieren, indem sie, wo es dennoch bemerkt wird, den Begriff des Bedeutungswandels einführt, um einerseits der Reflexion, die das registrieren könnte den Boden zu entziehen, indem sie sie ständig auf die gerade wieder an das Faktische angepasste Bedeutung verweist – die Kongruenz von Bedeutung und Faktizität, die derart hergestellt wird, ermöglicht keinen normativen Vergleich an einem Horizont von unveränderten Beständen, anders gesagt, die kulturphilosophische Reflexion ist in der Lage von jemandem, der etwas messen will in einer Welt, in der sich ständig alle Maße (sagen wir) verlängern, und hat das Problem, das das auch für die Maßstäbe gilt - und andererseits zur Sicherung der Geländegewinne doch noch, für alle Fälle, eine Rechtfertigung parat zu haben, die dennoch möglichen Einwänden die Grundlage entzieht, indem sie sie auf den ‚Bedeutungswandel’ verweist.

Vor diesem Hintergrund ist die Debatte um die Bedeutungen der Begriffe ‚Kultur’ und Zivilisation’ denn auch zu verstehen, die bemüht ist, den einmal geltend gemachten und zum Zweck einer Unterscheidung eingeführten Bedeutungsunterschied einzuschmelzen und den ersteren als den alles hinreichend umfassenden zu etablieren. Will man gegen diese wissenschaftspolitische Strategie nicht polemisch anrennen, dann muss man den dennoch geltenden Unterschied, wenn man ihn festhalten will, anders, notfalls unter Verzicht auf einen Begriff, dessen Bedeutung verdreht werden kann durch ‚Wandel’, darstellen. In jedem Fall ist die Differenz zwischen einer auf erkennbaren allgemein geltenden Normen und Einrichtungen, die das gesellschaftliche Leben ordnen, beruhenden Kultur und einem zivilisatorischen Gefüge, das sich in stets höherem Maße von verwaltungstechnologischer ‚Kreativität’, individueller Willkür auf privater Ebene, der Politik von Großorganisationen in Wirtschaft und Staat sowie den Massenproduktionen einer Bewusstseins  und Verhaltensindustrie unablässig neu geformt sieht, einfach faktischer Art, weit mehr noch als unter den Umständen, unter denen einmal die Differenz der Bedeutung der Begriffe ‚Kultur’ und ‚Zivilisation’ sich herausbildete, um eine Unterscheidung zu treffen, die damals erst in Umrissen sichtbar war, und die sich auf Umstände zurückführen lässt, die nicht im genauen Sinne kultureller Art sind. Und es sind diese Umstände und den von ihnen generierten Folgen, die den Typus des Individuums geformt haben, der als Massenprodukt dann ein Verhalten zeigt, das von der oben ersichtlichen Art ist, ohne dass dieses Individuum sich dieses Zusammenhangs seiner subjektiv erlebten ‚Freiheit’ mit seiner stereotypen – asozialen und antisozialen – Prägung bewusst zu werden vermag mittels einer Reflexion, die den möglichen Ausgangspunkt zu einer Entwicklung darstellen könnte, die das zunächst zufällige Individuum und Gattungsexemplar der Tiergattung Homo sapiens, so wie es gewöhnlich hergestellt wird mit den Mitteln einer verstaatlichten Erziehung und unter den Bedingungen des sozialen Atomismus, zum Subjekt einer Kultur erheben würde.

Die Einleitung mit der sie sich gegen einen Vorwurf zunächst und präventiv verteidigt, den niemand erhoben hat – es sei denn es sei die Stimme der Kultur, die sie verwirft, gegen die sie sich verteidigt - : „That doesn’t mean I’m messing around…“, kann man nur beantworten mit: Oh, doesn’t it? Was sie tatsächlich produziert, jedenfalls soweit die Darstellung dieser Partnerschaft betroffen ist, ist ‚a mess’. Bedenkt man dazu die platonische Definition der Gerechtigkeit als ‚Gesundheit der Seele’, (a. a. O., S. 17 und 251) und den Bezug auf die Struktur der übergreifenden Kultur, die im Unterschied zu einem Handlungszusammenhang intersubjektiver Beziehungen, also nicht eo ipso im Sinne der modernen Soziologie gedacht wird, dann ist klar, dass die Autorin keinen Maßstab anbieten kann, anders gesagt, und deshalb vielleicht besser verständlich erscheinend, kein Paradigma von Kultur, auf dessen Hintergrund sich die Figuren derart abheben bzw. konturieren ließen, dass sich ein von den Zufällen des jeweiligen Dafürhaltens des Lesers, der Autorin oder der mehr oder weniger fiktiven Personae, die im Text interagieren, unabhängiges Urteil über die Vorgänge bilden ließe, es sei denn, man ziehe die Grundlagen, also ein derartiges Paradigma extern heran. Das ließe sich dann aber stets unter Hinweis auf multikulturelle ‚Ansätze’ abweisen. Angesichts dieses Problems genügt es – und dafür finden sich auch genügend Anhaltspunkte – indessen, die immanenten Probleme des Textes selbst zunächst ins Auge zu fassen und zu zeigen, dass die Autorin Probleme hat mit der Organisation der Konsistenz des ihrem Text zugrunde liegenden kategorialen Systems einerseits, und den von ihr respektive ihren Figuren angestrebten Bezugnahmen auf einen geltenden kulturellen Rahmen für ihr Verhalten, und ebenso damit, dass Widersprüchlichkeiten auftreten, die schwer erträglich sind und Probleme aufwerfen, die die Bewertung des Textes in verschiedener Hinsicht insgesamt betreffen.

Derart verfällt sie wie ihre ‚Personae’ ( damit sind die mehr oder weniger fiktiven Personen gemeint, die den Text bevölkern) dem, was sie an der ‚fremden Kultur’ anklagt. Ihre Larmoyanz gilt der Absicht der Durchsetzung ihrer Interessen. Diese sind wiederum auf einem eher triebhaften Niveau formiert und semantisch einfach nur mit den Mitteln der Abwertung der ihnen entgegen gesetzt erscheinenden Widerstände repräsentiert. In der antagonistischen Form, in der sie sich organisieren, sind sie aber strukturell identisch mit dem, im Gegensatz wozu sie sich formulieren. Es sind rivalisierende Machtinteressen, die sich hier konfrontieren. Das entspricht denn auch der Struktur der miteinander konfligierenden Kulturen, um die es hier vordergründig zu gehen scheint. Der Imperialismus Japans ist dem der Nordamerikaner zwar unterlegen, aber deswegen nicht strukturell entgegen gesetzt. Die Frage der Unter  oder Überlegenheit ist eine von quantitativen Aspekten im Bereich der Mittel, die über den Ausgang ausgetragener Rivalitäten entscheidet, nicht von qualitativen Aspekten im Bereich der Struktur abhängige Frage.

Der Autorin entgehen vollständig die ethischen Probleme der von ihr in Anspruch genommenen Kulturdebatte. Sie hat nicht einmal eine Vorstellung davon, dass dergleichen existiert. Die von ihr in Anklage und Verteidigung in Anspruch genommene Moral hat den strategischen Sinn der Durchsetzung eigener Vorstellungen im Rahmen und mit den Mitteln dessen, wogegen sie sich durchsetzen will. Dass das richtig ist, einen ‚eigenen Weg’ – um das leere Klischee zu benutzen – zu suchen oder zu gehen, soll nicht bezweifelt werden, aber der Verzicht auf oder die Unfähigkeit zu einer Reflexion dessen, was die Substanz einer Kultur ausmachen soll, lässt sie schließlich in einem Einverständnis mit der Barbarei enden. Der Aufstand hatte nur den Sinn, sie selbst in die Position des Stärkeren zu bringen, die die Voraussetzung für den Erfolg unter ansonsten akzeptierten Bedingungen ist. Das ist eine der Definitionen dessen, was man auf dem Niveau des Journalismus immer unter ‚westlichem Individualismus’ gern verstanden hat und versteht.

IX. Nachweise von Textstellen, die als ‚Folie’ für die weitere Interpretation von Bedeutung sind:

1. Shakespeare’s Behandlung der Liebe

z. B. im ‚Merchant of Venice’, und den Sonetten. Das bemerkenswerte an den Sonetten ist, dass sie sich alle mit dem Thema der Liebe befassen, dass die Liebe stets als ein ALLE menschlichen Beziehungen umfassendes Medium betrachtet wird und dass es von der intergenerationellen Existenzform des Menschen nicht getrennt werden kann. Der Adressat kann einmal ein (eigenes) Kind sein, dann der/die Geliebte, ein ‚beliebiger’ Mensch, der dadurch, dass er derart angesprochen wird, eben diese Beliebigkeit (des Gattungsexemplars) verliert und als einzigartig wahrgenommen dargestellt wird (esse est percipi, das erkenntnistheoretische Motto Bacons ist hier richtig als soziale Bedingung der Existenz des Menschen [im Unterschied zum so oder so ausgestatteten oder mit skills begabten, als Gegenstand eines Bewirtschaftungskonzepts nutzbaren Gattungsexemplar der Tierart Homo sapiens] verstanden und vorausgesetzt), die ‚Sexualität’ taucht als solche gar nicht auf (als Konsumartikel, als Element von life-style), sondern ist eingebunden in das allgemeine Verständnis der menschlichen Existenz. Wo etwas dergleichen auftritt, wird es exemplarisch abgebügelt, wie z. B. in ‚The merry wives of Windsor’. Falstaff ist die Verkörperung dessen, was ‚modern’ als ‚life-style’ läuft und wird entsprechend, wenn auch mit Nachsicht präsentiert: Er leidet an Übergewicht, ist nicht fähig sich sozial zu integrieren, verbringt sein Leben in Kneipen, lebt von Beutelschneidereien (modern Versicherungsbetrug, Steuerhinterziehung, Unterschleif, Veruntreuung, kleinen Deals, aber es kämen auch große in Frage, er träumt davon, ist ein Gauner, Prasser, Alkoholiker, und hat auch in Bezug auf den ‚Sex’ das Verhalten des Süchtigen. Es kann kein Zweifel daran sein, dass Shakespeare das mißbilligt als Verfehlung, obwohl er es mit viel Nachsicht darstellt. In keinem Fall lässt er den Ausgang offen, der die kulturellen Normen in ihrer Geltung stets bestätigt. Falstaff stellt sozusagen den Symptomenkomplex der Psychopathologie das Alltagslebens als ‚life-style’ dar, er ist die ganz buchstäblich zu verstehende ‚Verkörperung’ dieses ‚life-style’. Ovids ‚Liebeskunst’ ist als life-style-Depot einschlägig, die Sex als Konsumartikel behandelt, wie das notorische Kamasutra oder das Decamerone, als Beleg für die konservative Sichtweise die Thora, Sodom und Gomorrha, ‚Dekadenz’ des städtischen Lebens, die Metamorphosen eher Variationen des Themas Eros. (Bekanntlich hat Augustus den Ovid wegen der ‚Liebeskunst’ lebenslang ans Schwarze Meer verbannt, also zu lebenslangem Urlaub von Rom. Was für eine furchtbare Strafe: Er hat ihn zu dem life-style verbannt, dessen Lebensgier als einem Massenphänomen er beisprang. Seinerseits hat er diese Lebensgier allerdings mit Gladiatorenspielen und öffentlichen Festen befriedigt. No sex, but drugs and violence. Modern ist Sex and drugs and Violence, Zivilisation als imperiale Truppenunterhaltung im Kontext einer Sozialtechnologie, die ein Bewirtschaftungskonzept der Biomasse des Homo sapiens mit den ‚Freiheiten’ artgerechter Tierhaltung vereinigt und dieses Konzept auf ultimative Bewaffnung gestützt verwaltungstechnisch zu ‚globalisieren’ versucht.

  1. Platons Behandlung der Liebe als Eros.

Um es nur zu euch gesagt zu haben: mir scheint die ganze Dichtung dieser Art ein Verderben der Zuhörer zu sei, sofern sie nicht als Heilmittel dagegen das Wissen haben, was wirklich an diesen Dingen ist.“(Platon, Politeia, Buch X)

Das ist vom ‚Sex’ ebenso abzuheben wie der Begriff der Liebe bei Shakespeare. Der Eros ist das was alle Menschen verbindet, auch die Grundlage ihres kommunikativen Austauschs und damit zugleich Grundlage der Erkenntnistätigkeit und der Kommunikation, die bei Platon keine unverbindlichen Aspekte hat, sondern mit der Dialektik, bürgerlich gesprochen, der Kunst der Konversation identisch ist. (Von dem umgangssprachlich, ab er ohne Informationsgrundlage eingespielten Blödsinn des ‚platonischen Verhältnisses’ oder der ‚platonischen Liebe’ sehen wir hier ab. Das ist eine vom ‚Standpunkt’ des Artefakts ‚Sexualität’ aus ‚gesehener’ Unfug. Der Eros hat sein Gegenbild, Eris, die Göttin (Allegorie) des Streits. (Man kann sich vom Standpunkt des Feminismus damit auseinandersetzen, dass Eros männlich, Eris weiblich ist, unter besonderer Berücksichtigung des ‚Urteils des Paris’ und seiner Folgen. Dazu dann auch Herodot, Die Einleitung in seine Historien, wo die Ursache des (trojanischen) Krieges erörtert wird. Daneben bietet die griechische Mythologie eine Fundgrube nicht nur für die Variationen über die Liebe, sondern auch ihr Scheitern und ihre Entgleisungen.). Es ist ein Irrtum, sie – etwa im ‚Argument’, also dem ‚Streitgespräch’, zur Grundlage der menschlichen Kommunikation machen zu wollen. Das Paradigma des ‚eristischen’ Wortstreits ist die Sophistik und die Rede der Machtpolitik, kurz gesagt: Die Rede der Kompetenz (Sprachkomptenz, Sachkompetenz, wissenschaftliche Kompetenz usw. ) Diese Rede ist die Rede, die auf Positioneneroberung geht, also in der Konkurrenz um Macht und Vorteile auf Kosten anderer ihre Grundlage hat, in animalischen, triebhaften Impulsen. Das zeigt der platonische Dialog, die Dialektik, ohne Weiteres. Die angebliche ‚Ironie’ des Sokrates ist gar keine. Seine Feinde halten sie dafür, also für einen Trick.

Das ist vom modernen Typus der Interpretation eines als ‚Verhalten’ aufgefassten Ausdrucks. Diese Bewertung seines ‚Verhaltens’, das in der Tat in jeder Nuance ein Handeln ist, das nur anhand der vorgängigen Unterstellung einer bewussten Subjektivität, also als Ausdruck und Darstellung einer Absicht (nicht einer Unterstellung einer solchen) – und stets derselben – überhaupt zugänglich werden kann, ist psychopathologisch gesehen die Projektion eines (mörderischen) Impulses, der denn ja auch paradigmatisch zur Tat schreitet, und dies immer wieder tut. Hier gibt es keinen Paradigmawechsel: Der mörderische Impuls ist so konstant wie die Art, wie er ausagiert wird, wechselt, von dem Mord des zum Staat erhobenen Mobs an der Personifizierung der Kritik bis zum Holocaust, der ein für allemal mit dem Typus aufräumen will, der die Möglichkeit dieser Kritik verkörpert. Die Charakterisierung als ‚Ironie’ ist eine Qualifizierung, die sich an der Grenze zu diesem Impuls bewegt, der sich darauf vorbereitet, die Wahrheit notfalls mittels Mord aus der Welt zu schaffen, nach dem Muster der Fabel des Apuleius vom Wolf und dem Lamm. Sie bewegt sich scheinbar auf der Ebene des Urteils über das Ganze oberhalb des Gegensatzes, der den platonischen Sokrates in einer permanenten Auseinadersetzung zeigt mit den von Triebimpulsen, von Bestialität beherrschten Funktionen des operativen Verstandes. In der Tat ist sie schon auf Seiten der Gegner des platonischen Sokrates. Der Rückzug auf den rettenden Abstand gegenüber den Antagonisten übersieht schon, dass Sokrates niemandes Antagonist ist, und verrät damit, dass er den wirklichen Gegensatz gar nicht versteht, indem sie ihn als Gegensatz unter strukturell Gleichen auffasst.

Tatsächlich ist aber der Gegensatz insofern gar keiner, als hier prinzipiell jeweils ganz anderes einem ganz anderen konfrontiert ist, aber so, dass Gegnerschaft hier ganz einseitig vorliegt. Während die Gegner des Sokrates tatsächlich seine Gegner sind, und in jeder der Positionen die letale Absicht schon sich formiert hat, die sich schließlich zum Paradigma des Mordes der Demokratie - auf der Ebene der politischen Macht - an dem als Einzelnen individuierten Allgemeinen zusammenrottet, der sich ihrem Prinzip nicht subsumieren lässt, ist Sokrates niemandes Gegner. Seine Absicht ist buchstäblich, und in keiner Weise ironisch zu verstehen, einzig die aller richtig verstandenen , niemals vollständig erledigten oder als Konzept oder Ideologie überholbaren Aufklärung, soweit sie mit ‚Lernen’, Verstehen und Wissen, und aufgrund der conditio humana immer auch mit Erziehung und Kultur als einem intergenerationell Übergreifenden zu tun hat und zusammen hängt. Dass Sokrates, der ‚Kritiker’, die Menschen liebt, steht nirgends sonst so außer Zweifel. Zieht man zum Vergleich Jesus oder Buddha heran, dann ergibt sich in jedem Fall ein Modell von Kultur und Mensch (sowie von Gott, dem Guten) auf bestenfalls jeweils gleicher Höhe. Zu erinnern ist an Nietzsches Diktum: „Christentum ist Platonismus fürs Volk“, also für Analphabeten oder funktionale Analphabeten bzw. für die ‚bildungsfernen’ bzw. nicht bildbaren Teile der Population. (warum auch immer: genetisch oder sozial. Die Konjunktion ist nicht ein ausschließendes ‚oder’.

Für den Zusammenhang, der kulturelle und soziale Umgebungen als selektive Quellen genetisch ausgelesener Eigenschaften von Menschengruppen behandelt [und Haustieren(!), wo man das ganz selbstverständlich findet, und niemand das bestreitet] Vg. das Buch des ‚Sozialgenetikers’, das Du gerade liest bzw. gelesen hast, Rebecca. Den Terminus habe ich gerade geprägt: Sozialgenetik oder Soziogenetik könnte das heißen.).

Als Belege und Interpretationsgrundlage sind besonders der Dialog ‚Symposion’ und die ‚Politeia’ (missverständlich ‚Der Staat’, mit Artikel, den Konnotationen des säkularen Staatswesens ‚moderner’ Prägung und vor allem auch dem römisch-lateinischen, imperialen Bedeutungsfeld) anzusehen, dort besonders das Buch III. Besondere Stellen sind (Ungerechtigkeit bei zwei Menschen) S. 109, (Die Seele, ihre Aufgabe), S. 113. (Die Liebe) 185f, (Wahrheit und ihr Verlust), S. 202, sowie (Mimesis, ‚Nachahmung’, als Bezeichnung für das, was Literatur ist sowie ihre Aufgabe und Wirkung) Buch III, 6. ff. Das Verständnis von Liebe (Shakespeare, wo das intergeschlechtliche Problem der gelingenden Partnerwahl unter Erwachsenen im Vordergrund steht) und (Eros), die einen noch umfassenden kulturellen Bezugspunkt darstellt, der vom Problem der Erkenntnis so wenig getrennt werden kann wie von menschlicher Kommunikation bzw. der angemessenen Einrichtung der Polis (am besten mit ‚Gemeinwesen’ zu übersetzen, also ohne Bezug auf den modernen ‚Staat’, der ja in seinen wesentlichen Zügen in Ägypten der vorptolemäischen Zeit wie der Epoche des Hellenismus, dann aber auch im Imperium Romanum realisiert war, funktional gesehen, und sich heute wie damals der Religion und ihrer funktionalen Äquivalente bedient, also Sozialtechnologie und verwaltungstechnische Verfügung, Religion und Massenmedien sowie der verstaatlichten Erziehung, um den Aufwand Nebenkosten der Bewirtschaftung der Population nach Möglichkeit auf ein Minimum zu reduzieren.).

3. Vorgriff auf mögliche weitere Interpretationsergebnisse

Wenn man soweit vorgedrungen ist kann ersichtlich werden wie die Dinge zusammen hängen. Es geht darum, dass der kulturelle Relativismus ein Ende hat, und die darauf aufgesetzte politische ‚Konsenskultur’, die die Dummheit begünstigen will. Es ist nichts als eine Zusammenrottung des Mobs und der Massendekompensation, die mittels dieser Zusammenrottung en masse ihren Zustand gegen kritische Einwände einer ihr überlegenen Intelligenz zu immunisieren versucht, und ihr zugleich mit politischen Mitteln die Existenzgrundlage zu entziehen versucht, eine Inklination, deren sich die Politik gern bedient, weil sie damit zugleich eine Kritik ihres Nutzungskonzepts der Biomasse des Homo sapiens unterdrücken kann, indem sie die ‚Bildungseinrichtungen’ von Potentialen säubert, die sich diesem Konzept nicht reflexionslos zur Verfügung stellen.

Derart versucht ein Bündnis zwischen der organisierten Gewalt mit dem Ressentiment und der Impotenz einer retardierten Masse die Kontrolle über die intelligenten Minderheiten zu behalten, die sich einem globalen Nutzungskonzept der Biomasse Homo sapiens zu entziehen versuchen und sich nicht damit zufrieden geben, z. B. als technisch-wissenschaftliche Intelligenz sich derart dem System dienlich zu machen, dass sie davon profitieren, von Archimedes über Wernher von Braun bis Edward Teller und Stephen Hawking, dessen triumphale Abfertigung der ‚Philosophen’, weil sie die Mathematik nicht verstehen, auf der er seine Phantasien aufmontiert, so dass sie unbelangbar werden sollen angesichts ihres den Philosophen entzogenen backgrounds, das Maß seiner Verblendung darüber wiedergeben, das er in Bezug auf die politische Funktion seiner Ernennung auf den Lehrstuhl Newtons hegt. Man muss sich nur seine Behauptung zu Gemüte führen, der Terminus ‚black hole’ sei eine ‚Prägung’ (coined) von 1996. Das ist aber ein Detail.

Seine Anstrengungen, mittels einer Analogie eines Zifferblattes einer Uhr die Anfangslosigkeit (zu erinnern ist an den Kontext: Auch das ist eine Antwort auf die Frage: Where does one thing end and another begin? Der betreffende Aufsatz heißt: Stephen Hawking, The beginning of Time, Public Lectures. Er wurde im Vatikan anläßlich einer Ehrung vorgetragen, so weit ich weiß. Der erste Satz lautet: In this lecture, I would like to discuss whether time itself has a beginning, and whether it will have an end“. Das mag genügen, um zu zeigen, dass der vier Seiten lange Vortrag in den Kontext gehört. Und angesichts des Gegenstandes ist ein umfassenderer Antwortversuch kaum zu denken, wenn man nicht an das vom Umfang des Objekts unabhängige methodische Problem denkt, das keinen Größe - im quantitativen Sinn - hat.) des Universums zu demonstrieren (der ‚big bang’ wird damit als ausgezeichneter Anfang aller Zeit entmachtet, er ist nur ein Durchgangspunkt, wie zwölf Uhr auf dem Zifferblatt einer Analoguhr, mit der die Zählung der ‚realen’ Zeit [scheinbar] von vorn beginnt, während die ‚imaginäre’ Zeit weiterläuft.

Das wird tatsächlich mit Hilfe der mathematischen Konzeption der imaginären Zahlen konstruiert, deren Prototyp bekanntlich die Wurzel aus -1 ist. Hawking meint, das können Philosophen nicht [mehr] verstehen, so dass ihnen nur eine oberflächliche Sprachkritik übrig bleibt.), zeigt die ganze Hilflosigkeit und die Scharlatanerie dieser Phantasmen, denn er muss dazu eine kontinuierliche ‚imaginäre Zeit’ oberhalb der Normalzeit des Universums postulieren oder phantasieren, und beweist damit eigentlich nur die Geltung der Überlegungen Immanuel Kants zu den Antinomien des menschlichen Verstandes, die die angelsächsische Bestrebung nach absoluter Hegemonie auch im Bereich der Wissenschaftsgeschichte und die Phantasien der Wasserstoffbombenbauer so verzweifelt zu ‚überwinden’ versucht seit Jahrzehnten, ohne ein anderes Ergebnis als dem immer erneuten Beweis der Richtigkeit der Überlegungen Kants, und ohne ein anderes Ergebnis als der Bereitschaft zu der in regelmäßigen Abständen je anders inszenierten Manipulation der Grundlagen des wissenschaftlichen Denkens, die je nach Bedarf unter Berufung auf ‚Empirie’ oder den Verstand (Cognitive Science) begründet wird, mit dem Ergebnis, dass die derzeitige Kosmologie kaum mehr als Indizien mit der Empirie verbindet, während die wild wuchernde Phantasie sich über mathematischen Formeln erhebt, von denen triumphierend verkündet wird, dass sie sich dem Verständnis (der Philosophen, des Laienpublikums) entzögen. Immerhin bringt Hawking die Physik und die aus dem Bombenbau abgeleitete Phantasie eines als gigantische Bombe (GRÖBAZ = Größte Bombe aller Zeiten) vorzustellenden Universums, dessen heimliches Subjekt also ein Gott ist, der diesen Bombe(n) (ge)baut (hat), auf diese Weise aus der Schusslinie der ‚philosophischen Kritik’, um den Preis des Zurückfallens auf eine doch recht einfache innerweltliche Überlegung der Mathematik, die als Werkzeug für die Lösung bestimmter innerweltlicher Probleme durchaus respektabel sein mag. Aber für eine solche Aufgabe scheint sie doch etwas schlicht.

Dennoch ist die Idee, dass anstatt des ‚big bang’ einfach ein ausgezeichneter, aus der Sicht der Nachträglichkeit als solcher erst erscheinender Ort (eben der Beginn), nach Art des Pols auf einer Kugel vorzustellen, von dem aus alle Koordinaten bestimmt werden können, und sich alle anderen Punkte auf der Kugeloberfläche als Entfernungen von diesem Bezugspunkt betrachten lassen, ohne dass an diesem Ort sonst etwas Besonderes zu finden wäre, weil es ja auch nur ein Punkt auf der Kugeloberfläche ist, in ihrer Genialität und aufgrund ihrer Einfachheit bemerkenswert. Der Anfang ist ein Bezugspunkt in einem Koordinatensystem! Und zugleich: No need for boundary ! Anfang und Ende sind konzeptabhängig. Sie sind also keine unmittelbaren Realitäten. Das heißt aber nicht, sie seien deshalb weniger wirklich. Nur bei der Wurst ist das anders und unmittelbar: Sie hat zwei Enden!

Das ist doch endlich eine überlegene und unangreifbare Kompetenzgrundlage. Was sie wert ist, wird sich mit den Konjunkturen der Gunst erweisen, die die Macht den ‚Wissenschaften’ zukommen lässt: Denn vielleicht sind auch die nur Koordinaten in einem System, dessen Pol die Macht ist. Wehe, wenn sie nicht spurt. Dann ergeht es ihr wie der Theologie und der Religion. Die erwiesen sich auch zunächst als nützlich und schließlich als überflüssig und sogar hinderlich für den ‚Fortschritt der Menschheit’, d.h. im Klartext: Für den Fortschritt der Entwicklung des reinen Nutzungs  und Bewirtschaftungskonzept der Biomasse des Homo sapiens durch die organisierten Mächte auf dem Weg zum globalen, und d.h. alternativenlosen Verwirklichung der Utopie der Verwaltung, die in der Soziologie seit Auguste Comte schon programmatisch ist und ihre Grundidee bereits von (noch) unter der Ägide der christlichen Form der Reichsverwaltungen Ideenbeständen aus den ‚Utopien’ älterer Art bezog, deren Literaturtypus aus dem Titel des Werkes von Thomas More (‚Utopia’ = Nirgendort) seine Bezeichnung als Genre bezog, eine Bezeichnung, die inzwischen durch die Nachfolgeorganisation, den Typus des ‚Science Fiction’ abgelöst wurde. Alle Utopien waren in der Tat Antizipationen einer aus der Sicht solcher Verwaltungsintelligenz herausgesponnene Vorwegnahmen der von ihr der ‚Menschheit’ zugedachten Zukunft unter dem Gesichtspunkt ihrer als einer vergangenen. Sie waren posthistoire vor dem Historismus und dem Historizismus. Das Ende der Geschichte ist das Ziel aller totalitären Verwaltung, und als Ziel vor allem Merkmal und Symptom ihres Totalitarismus.

Dem gegenüber ergibt sich erst das verzweifelte Ausweichen des Individuums, das sich als Nutztier zu erkennen gezwungen ist, in die private Mythologie. Daran ist das interkulturelle oder multikulturelle kaum bemerkenswert, insofern die Fluchtrichtung stets dieselbe ist. Die zu Beständen depotenzierten ‚Traditionen’ sowie das überkommene ‚Wissen’ wird gegen den geltenden Hintergrund von ‚Wissenschaft’ – das jeweils geltende ‚Paradigma’, an dem vor allem der Aspekt seiner ‚Geltung’ erheblich ist, also der Aspekt seiner Ersetzbarkeit durch ein anderes einerseits, und der seiner Eigenschaft, das gerade geltende zu sein, das das Maß dessen abgibt, was überhaupt etwas gilt jenseits dessen, was durch unmittelbare Macht, durch positive Setzung gilt also das, was durch mittelbare Macht gilt, freigegeben für private Nutzungszwecke, die den Rand des psychiatrisch disziplinierten streifen oder auch einmal überschreiten dürfen, und in der Unauffälligkeit der literarischen Form ‚Lebensgefühlen’ zugrunde gelegt werden können, ohne dass dies den Betrieb stören muss. Im Gegenteil, es wird eine weitere Quelle von Nutzungskonzepten, die unter dem Titel der ‚Freiheit(en’) des Einzelnen oder sogar der ‚Kreativität’ willkommene Chancen der Einsammlung von Masseneinkommen werden, um das verschiedene Industrien miteinander konkurrieren.

Dies alles sind kleine Vorarbeiten. Ich hoffe, das zu einem durchsichtigen und nachvollziehbaren Gesamtbild zusammen fügen zu können in den kommenden Jahren.

„Trust me“, lässt die Autorin von ‚A chorus of mushrooms’ mehrmals ihre Protagonistinnen zu ihrem Gesprächspartner sagen. Der hat kaum, so wenig wie der Leser, Anlass dazu zu glauben, dass das gerechtfertigt ist. „I am going to make you look great“, ist eine ebensolche Formulierung, die seine Vorbehalte gegen die Verarbeitung seiner Person und der Gemeinsamkeit zwischen ihm und den respektiven Personae der Erzählung beantwortet, und zwar eindeutig falsch. Die Stelle erinnert an den Beatles-song ‚Baby you can drive my car’, allerdings ist dessen ‚Ironie’ eindeutig, wenn der prospektive Größenwahn eines Popsuperstars dort zur Herablassung gegenüber dem in dem Song angesprochenen ‚baby’ führt, also zu einer perversen menschlichen Beziehung, der freilich das ‚groupie’ komplementär entspricht (Man kann das jetzt als Karriere anstreben, durch ein casting. Bewerbungen mit Ganzkörperbild an usw.) Ähnlich muss man sich hier den ‚Hintergrunddialog’ zwischen den beiden Partnern vorstellen, bzw. die Erklärungen der Ich-Erzählerin, in der nunmehr die Autorin in spe erkennbar wird, die ihrem neuen Freund ‚fresh off the boat’ ihre schriftstellerischen Pläne unterbreitet und ihm mitteilt, dass die vorhat, die ‚Beziehung’ darin zu verarbeiten. Ein derart platter Rückgriff auf autobiographische Unmittelbarkeiten ist ein Hinweis darauf, dass der Autorin nichts rechtes einfällt.

Die Methode der Einverleibung dieser ‚Liebesbeziehung’ in das Buch trägt aber damit immerhin zur Erhellung bestimmter Züge ihrer Psychopathologie bei. Dass sie das ahnt möchte man ihr glauben. Die präventive Reaktion darauf ist dann ja auch entsprechend mit in den Text aufgenommen und recht unverkennbar. Immerhin ist der selbständige Verstand des/r Lesers/in nicht auf dieselbe Weise abzufertigen wie der des Geliebten eingeschläfert oder überwältigt werden konnte (dazu Platon, Politeia, Buch III, 19, S. 202, wo Sokrates über den Verlust der Wahrheit spricht.). Die Vorbehalte wie der Mangel an Vertrauen, der die entsprechende Aufforderung erst provoziert haben dürfte, die darauf aus ist die Bedenken zu zerstreuen, die der Adressat hat, erweisen sich als gerechtfertigt. Als zuverlässige Führerinnen fallen nicht nur die entsprechenden weiblichen Personifikationen, sondern auch die Autorin aus. Der zum Antagonisten der Ich-Erzählerin und Murasaki’s erhobene Partner sieht einigermaßen jämmerlich aus, wie ein von seiner Mutter in die Irre geführtes Kind.

Aber das liegt in der Konsequenz der Annahmen und Befunde der Sozialisationstheorie, die hier unter dem Titel: ‚No Freudian shit for me’ (36) abgefertigt wird: Dass das (von der Mutter) um seine (sprachliche und ethnisch kulturelle) Identität betrogene Kind seinerseits seine Partner um die ihre betrügen wird, wie immer diese konstituiert ist, und sofern sie mitspielen, und dies ist eben ein Problem der Komplementarität in der Partnerwahl. Auf Seite 93 spricht sie von einem ‚parent-child-conflict’. Der hätte hier ja im Generationenverhältnis wenigstens zwei Repräsentationen in der beschriebenen Familiensaga: Einmal als Konflikt zwischen Obachan und ihrer Tochter, der Mutter Murasaki’s, und dann in dem Verhältnis zwischen Murasaki und ihrer Mutter, wobei sie sich auf die Seite von Obachan schlägt. Das muss doch heissen, dass ihre Identifikation mit Obachan der Opposition gegenüber ihrer Mutter entstammt und natürlich auch gegenüber ihm Vater, insofern es ja dieser ebenfalls ist, der in der Phase des ‚Untergangs des ödipalen Konflikts’ als Objekt unterschiedlich besetzt wird. Daß sie die Herkunftskultur gegen ihre Eltern in Stellung bringt indem sie den innerfamilialen Konflikt, der auf eine ältere Schicht eines Potentials sozialer Vererbung verweist, der über die weibliche Linie verläuft, klingt zwar an, aber nur als Aufzählung: „ A daughter of a daughter  a daughter of a daughter of a daughter…”, also ohne eine qualitative Analyse des zu Grunde liegenden Konfliktmaterials, so dass ihr z. B. die Möglichkeit entgeht, ihre ‚Atridensage’ zu rekonstruieren, sei das nun im Medium der Bestände eigenen oder der fremden Kultur. Einmal benutzt sie eine umgangssprachliche Form der Beschwörung der ‚Götter`, und fügt sogleich an: „not Greek“. Man kann ihr das soweit nicht übel nehmen.

Allerdings erfährt man nicht, welche sie meint. Das mag daran liegen, dass es in jedem Fall her indogermanische sein müssten. Indessen ist diese Anfügung an eine sonst im westlichen Kulturkreis gelegentlich noch gedankenlos gebrauchte Formel doch auch bemerkenswert und man geht bestimmt nicht fehl wenn man sie einstuft in ihrer Bedeutung wie die Formel: „No Freudian shit for me“, wobei hier die Heldin, der das in den Mund gelegt wird, ja doch über Kenntnisse verfügt, oder die Erwähnung Shakespeare’s, wo diese Kenntnis zugunsten einer Bildungsreminiszenz zurücktritt, die sich darauf verlässt, dass keiner nachfragt, um nicht als ‚blöd’ zu gelten, während im Falle der Götter die Ausrede nicht möglich wäre, man beriefe sich auf die der japanischen Kulturtradition, insofern diese nicht einmal in der Form der aus in geschichtlicher Zeit Indien importierten Hochreligion (dem Buddhismus) Götter kennt, und in der Form des Shinto bestenfalls Geister und Wesenheiten, wie sie in der römischen Kultur der vorimperialen Zeit der Rezeption des griechischen Pantheons (und dann darüber hinaus) die Herdgeister und die Feldgeister repräsentierten, also einfache Repräsentationen von kategorialen Konzepten, die im Umkreis einer vorschriftlichen oralen Agrarkultur vorkommen.

Dann darf man aber auch schließen, dass ihr die Themen (als Paradigmen der condicio humana (kein Druckfehler) aufgefasst) der griechischen Mythologie nichts sagen, insofern das Pantheon der Griechischen Kultur von der epischen, tragischen und erzählenden Dichtung abhing und in ihr vergegenwärtigt wurde schon in der Zeit der noch oralen, vorschriftlichen Überlieferung.

Da sich das kaum auf eine Kenntnis dieser Tradition zurückführen lässt, entspringt es der Unkenntnis. (Wir sollen also, als Leser ihrer Weieheiten, einerseits den arroganten shit hinnehmen for granted, den die spätpubertäre Autorin uns zumutet, während sie es sich leistet, was sie weder kennt noch zu beurteilen vermag, uns nach ihrem Belieben aus der Hand zu schlagen, und uns obendrein vorwerfen lassen, wir hätten unsere Lebenszeit zwar nicht mit der Lektüre ihres Machwerks, aber mit der der Arbeiten von Sigmund Freud verschwendet. Es bedarf des kühnen Größenwahns einer hormongeschwollenenen Ignoranz und Achtelbildung, sich derartige Sätze einfallen zu lassen. Passend wären hier entsprechend auch  die Lieblingsworte der Einsamen Masse Amerikas: ‘Fuck,’ und ‘fuck you’, ‘fucking shit’  usw., als Inbegriffe der Truppenunterhaltungskultur einer postkulturellen imperialen Soldateska, die mit dieser Vokabel aus dem Intimbereich menschlicher Kommunikation ihren faktischen sozialen und kulturellen Zustand auf eine unmissverständliche Weise vor dem atemlos lauschenden globalen Publikum präsentiert.).

Das gilt dann natürlich auch von den schon dieser Kultur verfügbaren Reflexion auf den Text (Mimesis bei Platon, Politeia Buch III, Poetik bei Aristoteles). Damit entgehen ihr dann aber auch die bedeutsamen Gründe, warum z. B. Platon in der Politeia und auch sonst die durchaus geschätzten Dichter und den Mythos kritisiert idem er eine begründete Ablehnung des Umgangs der Dichtung mit den Göttern ablehnt und damit nicht nur eine Begründung für den Monotheismus indirekt liefert, sondern auch eine Grundlage für eine darauf aufbauende Ethik, die es verbietet, von den Göttern Erzählungen zu geben, die diese als im Streit miteinander, als hinterhältig und unberechenbar usw. qualifizieren. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass man deshalb dennoch nicht auf diesen Mythenbestand verzichten wollte, und zwar aus wiederum anderen Gründen - auch Platon setzt ja voraus, was er zum Anlass der Kritik macht, wie alle Aufklärung jeweils das, was sie als Grundlage voraussetzen können muss, zum Gegenstand einer Betrachtung macht, um sich auf diese Weise von dem Bestand zu lösen, der das Selbst kulturell und material bis dahin jeweils repräsentiert, indem das ‚Selbst’, sofern und weil es kulturell vermittelt ist, sich eben im Medium dieser Bestände erkennt und definiert bzw. versteht oder auffasst.

Das zeigt aber auch, warum Subjektivität die unverzichtbare Grundlage jeder Kultur und kulturellen Entwicklung bildet. Bereits die bloße Reproduktion des Selbst aus den kulturellen Beständen ist schon gleichbedeutend mit dem Verlust des Subjekts der Kultur, das heißt mit ihrem Ende. Immer wieder bedeutet die Wiederherstellung der verkörperten Kultur als deren Subjekt deren Reinkarnation, das einzige Medium ihrer lebendigen Entwicklung, und die schematische Formung des Selbst aus den kanonisierten Beständen ist ihr Stillstand nicht nur, sondern schon Regression, Unterbietung sogar des Sinns der nackten Bestände (Archive, Praktiken, Formen des Alltagslebens usw.), bloße Prägung in einem Prägestock, ohne ein Subjekt, das den Sinn von Kultur begreift, weil es aus deren Objekt zu ihrem Subjekt sich erhebt mittels der Durchdringung der Bestände als sinnvollen Beständen derart, das sich der Sinn des Ganzen verdoppelt in der wechselseitigen Reflexion der Bestände in ihrem Subjekt und dieses Subjekts in ihnen, indem Subjekt von Kultur sich dadurch konstituiert, dass es die Bestände als sein Objekt sich selbst gegenüber zusammenfasst und betrachtet im Hinblick auf ihren Sinn, Subjektivität. Die Verkündung des Endes des Subjekts ist ein Unsinn, der einer Art von Inversion des Subjekts verdankt ist, das sich unter dem Gesichtspunkt der Möglichkeit seiner Verabschiedung aus der Geschichte seiner Aufgabe und Funktion (als Sysiphos) in die Toskana oder die Karibik verabschieden möchte, und mit dem Entlastungsgewinn liebäugelt.

In der Tat handelt es sich um ein Bekenntnis, nämlich das Bekenntnis eines Mangels an Qualifikation für die Aufgabe und um eine Form der Rationalisierung einer Feigheit, die nicht bereit ist, aus dieser Selbsterkenntnis die Konsequenzen zu ziehen und die Vorteile aufzugeben, die sich eine Eroberertruppe von Usurpatoren in der Folge einer kulturellen Dekompensation hat erobern können, um dort eine Weile das mit der Eroberung zunächst um seine Repräsentation und angemessene Verkörperung Gebrachte zu simulieren. Der Einfall, diese Simulation mit der Erklärung zu beenden und in die Form eines unauffälligen Anstatt der nicht mehr repräsentativen Form zu bringen, ist eine natürliche, eine beinahe biologisch vermittelte Konsequenz dieser Usurpation. Sie macht gewissermaßen die Eingeweide der Usurpatoren zur herrschenden Form, zur Herrscherin des Gedankens und der Verfassung des Bewusstseins und bringt damit nur in die Form einer allerdings anders eingekleideten Selbstwahrnehmung, was in diesen steckt: Eben der Mangel an Eignung. Das mag man dann eine Weile als neueste Errungenschaft in einem Gefüge verstehen, in dem immer das jeweils nach Art der Modeindustrie und der Popmusik erzeugte Neue als neueste ‚Entwicklung’ und wissenschaftliche Erkenntnis zu gelten vermag, unter kritischer Würdigung des als vergangen abgelegten ‚Alten’. Das ist nachgerade ein Gestus geworden, der geradezu als Klischee der Wissenschaftlichkeit gelten kann und den Aufbau unzähliger Bücher bestimmt, die an eine Publikum vertrieben werden, das sie aufnimmt wie eine Religion, d.h. nach der Art, wie Ungeprüftes und mit den vorhandenen Mitteln nicht Überprüfbares eben einfach als eine Art von Glauben übernommen werden muss.

Die Systemtheorie hat das rationalisiert in der bemerkenswerten Formel, wonach ‚Vertrauen die Komplexität der Welt reduziert’. Nur dass die Kosten unkalkulierbar werden, die sozialen und politischen Grundlagen des modernen Lebens destruiert – bei Erhaltung formaler Strukturen, deren Funktion gänzlich wechselt - und die Wirklichkeit opak, sowie dieser ‚Mechanismus’ im Widerspruch steht zu dem Rationalitätsanspruch der Politik und den Grundlagen einer technisch-wissenschaftlichen Zivilisation. Das kann hier nicht erschöpfend entwickelt werden. - , die eben in der Antwort auf die Frage zu sehen sind, was es bedeutet, dass derart die Menschen doch den Göttern auch wieder ähnlicher werden, wäre doch zu erörtern, was Platon damit meint und welchen guten Grund das hat.

Da ihr so aber auch die Möglichkeit entgeht, unter Umgehung Sigmund Freuds bzw. der Psychoanalyse als Wissenschaft – was ja einen Unterschied macht, ob man eine Person umgeht mit der Abfertigung, was sie geäußert hat, sei ‚shit’, for me or not for me, that might be no object in question, oder ob man eine Wissensform als irrelevant abtut ohne sich nach einem Äquivalent umzusehen, das es der methodisch mehr oder weniger genauen Selbstreflexion ermöglichen könnte, ihre Materialien in eine Ordnung zu bringen, deren Inbegriff den Namen des ‚Selbst’ tragen können soll – sich andere Möglichkeiten verfügbar zu machen, etwa den Mythenbestand der Griechischen Kultur der Antike oder seine Bearbeitung in der Form der Tragödie, von anderen Möglichkeiten einmal abgesehen, so wird der Rückbezug auf die Legenden der Shintoüberlieferung zu einem Rückzug, dessen rationale Motive so wenig sichtbar werden wir ihr Entwicklungspotential für ein um seine ‚Bildung’ ringendes Selbst. Sie mag diese Potentiale haben, aber dann gelingt es der Autorin nicht sie so zu nutzen, dass ihre Protagonistinnen, die verschiedenen Aspekte des gespalteten Selbst, die ihr Text exponiert, eine Entwicklung durchmachen können, die diesem Selbst zu einer überzeugenden Ausformung verhelfen könnte.

Der Rückbezug bleibt ein Rückzug und dem verhaftet, was er bearbeiten helfen soll, er bleibt Regression und die wird auf einem bestimmten Niveau der Anpassung an die Immigrationskultur konsolidiert, die dieser Regression ein allgemeines Modell eines Sozialcharakters liefert, der auf diesem Niveau integriert ist, auf dem Niveau eines archaischen Größenselbst, das die derart als Typus konsolidierte reale Ohnmacht des Individuums in der Form einer kompensatorischen Omnipotenzphantasie agiert, die zugleich den imperialen Anspruch zu legitimieren scheint wie das Recht auf Regression, auf Zurückgebliebenheit, wenn es sich mit Machtmitteln umgeben kann, die das praktisch ermöglichen, und das Massensyndrom erzeugen, das sich der Realität nicht zu stellen braucht, weil es seine Lernpathologische Verfassung in eine erfolgreich abgewälzte Zumutung für Andere mittels Macht umzuwandeln vermag, während innerkulturell der regredierte Status des Typus zum Anlass für ein aberwitziges Business wird, das auf der Voraussetzung dieser Regression beruht, weil es nach der Kompensation süchtig verlangt.

Die Heroen der so genannten Popkultur und der Medienindustrie (von den Bands und Gesangsheroen über die Filmindustrie bis in die Politik und neuerdings die Wissenschaft) sind nur ein Ausdruck dieser Bewusstseinsverfassung, die ihre Befriedigungen zu einem wesentlichen Teil aus einer Illusion beziehen, deren reale Verkörperung diese einsame Masse (bzw. diese Masse der Einsamen) mit großem finanziellem Aufwand aus eigener Tasche finanziert, mit dem Ergebnis, dass der so personifizierte Größenwahn ihnen auf dem Kopf und der Nase herumtanzt. So wird ein Wahn buchstäbliche Realität. Man kann sagen, dass die Autorin sich gründlich irrt über die Grundlagen des Selbst unter diesen Existenzbedingungen. Ihre Möglichkeiten reichen nicht entfernt heran an das Problem, mit dem sie sich befassen wollte.

Es ist bemerkenswert, dass die Heldin, der die Formel ‚no Freudian shit for me’ in den Mund gelegt wird, ohne Weiteres damit fortfährt, eben diese Befunde ihrerseits heranzuziehen um ihre eigene Lage zu beschreiben, und man kann diese Inkonsequenz, die solchermaßen kontradiktorisch sich äußert ohne den Widerspruch zu bemerken, beurteilen wie man will. Sie ist kein Zeugnis für den klaren Kopf, den sich jemand zumuten muss, der andere dazu auffordert ihm/ihr zu vertrauen. Immerhin hätte dieser ‚shit’ vielleicht dazu getaugt, wenigstens im Medium des ‚Psychologischen’ ein Schlaglicht auf die ansonsten vollkommene Dunkelheit zu werfen in der sie herumtappt, und ihr derart wenigstens jeweils einen ganz kleinen Schritt vom Halbmesser dieses spotlights aus jeweils zu ermöglichen. Ob man damit zu einer Landkarte des Reiches der Dunkelheit kommen kann, das man derart einmal durchschritten haben mag, ist nicht ad hoc zu beantworten. Die Aussichten sind eher negativ zu bewerten und insofern hat die Autorin bzw. ihre Protagonistin Recht. Aber ein paar passable Krücken wegzuwerfen, weil man darauf besteht mit zwei Beinen oder gar nicht gehen zu wollen, obwohl man nur eines hat, und keine bessere Prothese (zu erinnern ist, dass Freud den Menschen als ‚Prothesengott’ charakterisiert) während man auf dem einen Bein zudem kaum stehen kann, weil es auch kaum zum Gehen taugt, ist unangemessen, vor allem, wenn man dann doch behauptet nicht nur gehen zu können, sondern sogar ‚angekommen’ zu sein, was bedeutet, dass man schon gegangen ist und deshalb jetzt gehen kann, einfach nur gehen, und dann noch mit nichts zu suchen im Sinn.

„You know, you can change the story“, ist nur dann richtig, wenn sich die Objekte der Erzählung, die Leser, und die in sie eingebundenen Adressaten der Erzählerin dazu entschließen bzw. entschließen könnten, sich ihrer eigenen Geschichte zu versichern, indem sie aus dem Kontext der Geschichte, in die sie eingebunden sind oder werden, lösen (könnten) und sich ihrer eigenen Subjektivität innewerden (könnten) sowie diese zur Grundlage der Rekonstruktion ihrer eigenen Geschichte machen (können) würden. Die Geschichte, so wie sie da steht, kann niemand verändern. Sie ist was sie ist, zumal aufgrund ihrer Schriftlichkeit. Denn diese fixiert ein für allemal, was eine Geschichte ist. Das Verhältnis von Erzählung und Sprache (als gesprochener Sprache, hier im Sinne oraler Tradition, nicht ‚parole’) hat die Autorin nicht ausreichend reflektiert.

Sie hätte sich sonst bewusst sein müssen, dass die Schrift den Sinn einer ‚story’ wenigstens insoweit fixiert als sie die Form fixiert. Wo eine erneute (mündliche) Erzählung Varianten einbauen kann, Erläuterungen und sogar Änderungen anbringen ohne dass das stören müsste, gehorcht die mündliche Erzählung doch stets situativen und subjektiven, also wandelbaren, sich ändernden Aspekten des Lebens, dort ist die schriftliche Fixierung wenigstens als Variante sofort erkennbar, und das heißt, als auffällige Änderung. ‚The story’ zu ändern, heißt dann eine andere Geschichte zu erzählen. In dieser Bedeutung ist dann aber – wieder mit diesem ‚Einverständnis bei Strafe der Preisgabe an die Lächerlichkeit wegen Unkenntnis des Selbstverständlichen’ heischenden ‚you know’ – unterstellt, man könne die Geschichte ändern ohne Folgen für den, der als Geschichtenerzähler dazu auffordert, oder ohne nennenswerte Folgen für die Geschichte. Es ist aber bekanntlich ein Unterschied, ob die Genesis, eine Geschichte, so oder irgendwie ‚verändert’ erzählt wird, beispielsweise als Schöpfungsmythos von der Art, wie die Autorin sie aus den Beständen des Shinto anbietet, einem primitiven Mythos einer Ackerbauer  und Hortikultur, oder meinetwegen einem Schöpfungsmythos von der Art, wie das aus der hinduistischen (polytheistischen) Mythologie bekannt ist. Oder wenn man den Schöpfungsmythos nach der Art Stephen Hawkings und der Bombenbauerfraktion erzählt, nachdem man diesen als ‚Demiurgen’ (einen problematisch begabten Handwerker, wie das Präfix ‚demos ‚ = Volk angibt, während der Stamm vom Verb ergazesthai = machen abgeleitet ist. Der für das Volk arbeitet.

Man kann frei übersetzen: Ein mittelmäßiger Techniker. Das ist jedenfalls, was die verfemte Gnosis dazu zu sagen hat, und daran knüpft sie weit Unfreundlicheres über gedankenlose Techniker, das noch Goethe in seinem Gedicht ‚Der Zauberlehrling’ rekapituliert (und das, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit umgewandelt, ein Motiv des Science Fiction-Romans, ‚Der Splitter im Auge Gottes’ wiederkehrt, als Hohn auf die sich mit der Liquidation ihrer Götter selbst an deren Stelle setzende ‚Menschheit’, die der Roman als eine gedankenlose und reflexionsunfähige, aber praktisch ungeheuer geschickte Species von ansonsten völlig hirnlosen niedlichen kleinen Pelztierchen eingekleidet hat, die an allem Gerät herumbasteln und dabei die erstaunlichsten technischen Leistungen zeigen, sich dabei ungeheuer schnell vermehren, so dass die Astronauten gezwungen sind, periodisch die Luftschleusen zu öffnen, um die flinken Wesen wenigstens derart zu dezimieren, dass sie nicht völlig überhand nehmen und eine ökologische Katastrophe verursachen.) vorsichtshalber aus der Geschichte eliminiert hat, während er als Autor wiederkehrt, verborgen hinter seinem Machwerk, das er geschickt der ‚Wissenschaft’ zueignet. Wem der Zaubertrick gefällt, der muss ihn indessen erst bemerkt haben als solchen. Dem Ahnungslosen erscheint dies alles ja natürlich bzw. selbstverständlich und daher evident.

4 . Ein Mythos über die geschlechtliche Liebe: ‘Lingam’, von Max Dauthendey, 1999

Ich drehe in meiner Hand einen kleinen Kupfernapf mit breitem Rand, der im Licht rötlich blitzt. Der kleine Napf ist winziger als ein Eierbecher und darin ist, halb hineingesteckt, ein schwarzes Marmorei. Das Ei ist unscheinbarer als ein Taubenei. Das schwarze Ei in dem kupfernen Eierbecher, beide stellen zusammen ein Lingam dar, das indische Symbol geschlechtlicher Vereinigung, das heiligste Liebessymbol und Symbol des ewigen Lebens. Wenn ich das Lingam betrachte, sehe ich vor mir deutlich eine der engsten Tempelgassen in Benares, wo ich in einer Lingambude das kleine schwarze Steinei im Kupferbecher kaufte. Die Pflastersteine der dunkeln schmalen Gasse sind glitschig und fettig von den Füßen der tausend Pilger, die dort jeden Morgen zum Sonnenaufgang, heute noch wie vor tausend Jahren, in langen Zügen mit Trommeln und Pfeifen vom Tempel des heiligen schwarzen Stieres, vorbei am Tempel der weißen heiligen Kühe, hinunter zum heiligen Gangesstrom ziehen. Zu beiden Seiten der höhlenartigen Gasse sind Öffnungen in den Hauswänden. Da stehen auf hölzernen Tischen zu Hunderten die Lingams in allen Größen zum Verkauf.

Die Tische scheinen schwarz von den schwarzen Marmoreiern, die in rötlichen kupfernen oder weißen marmornen Näpfen stecken. Man sagt, der höchste Gott Rama ging eines Abends zum Ganges und traf dort ein schönes fremdes Weib, das Wasser schöpfte. Sein Herz begann sich für das schöne Weib zu erregen, und er näherte sich ihm und liebkoste es. Das Weib, von der Gewalt des obersten Gottes erschüttert, legte sich in den Sand und zog den Gott in seinen Schoß, und beide vereinten sich in süßer Liebesumarmung.

Aber die Gemahlin Ramas, von Unruhe getrieben, folgte den Fußspuren ihres Gemahles im Ganges-Sand, und als sie den ungetreuen Mann mit einem fremden Weibe vereinigt fand, hob sie heimlich das Schwert, das Rama neben sich gelegt hatte, und holte zu einem Hiebe aus, der den Gott von dem Weibe trennte, so dass das göttliche Glied in dem Schoße des Weibes zurückblieb. Aber das abgehauene Glied Ramas befruchtete noch die Frau, aus deren Schoß neue Götter, ein neues Menschengeschlecht, ein neues Tier- und Pflanzenreich entstanden. Alle die von dem Gott und dem Weib Erzeugten lieben sich jetzt ewig und müssen sich ewig unter dem Symbol des Lingam weiterzeugen.

Damit Mann und Frau nicht vergessen sollen, daß sie zur herzlichen sinnlichen Vereinigung auf die Welt gekommen sind, wird ihnen in allen Tempeln und in allen Häusern, und von klein auf, das Symbol des Lingam in tausend Formen immer wieder vor die Augen gestellt, in Bild und Rede.

Denn die Menschen sind vergesslich und unwissend, und alles muss ihnen immer wieder gelehrt werden, auch die Liebe - das bedenke, o Mensch.

Das kann man vergleichen mit einem parallel dazu konstruierten platonischen Mythos, der eine Variante ist, mit bemerkenswerten Unterschieden in Hinsicht auf die daraus abgeleiteten Folgen (Symposion?). Dabei stellten die Menschen ursprünglich ein männlich-weibliches Doppelwesen dar, das den Göttern wegen seiner Perfektion (die in der Kugelgestalt dargestellt ist) zu mächtig wurde, weshalb sie diesen Menschen in der Mitte zerhieben. Der Rest etwas anders als oben: Die Menschen verdanken den Göttern also die Schwäche, die die Liebessehnsucht bewirkt, das sie viel Zeit darauf verwenden (müssen) ihr ihnen abgetrenntes ergänzendes Teil zu suchen. Bemerkenswert ist der unterschiedliche Akzent. Im ersten Fall ist es die Eifersucht der Gattin, die hier eingreift als es zu spät ist. Die Folgen sind solche für den Gott, nicht die Urmutter der Menschen und der neuen Götter, die neue Schöpfung, kurz gesagt. Der Lingam – nebst der bleiliegenden Erklärung ist da zur Erinnerung, damit sie die Liebe nicht vergessen.

Im zweiten Fall ist eine imperfekte Lage entstanden, die unökonomisch ist wegen des Aufwands, der zu treiben ist angesichts der Folgen der Trennung. Im ersten Fall müssen die Menschen erinnert werden, im zweiten ist es ihnen gar nicht gegeben zu vergessen. Eher vergessen sie alles andere. Man wird also sagen können, dass der Mythos, wenn er denn mit einer eher indischen oder einer mit dem kulturellen Kosmos verbundenen älteren Überlieferung übereinstimmen sollte, wie gelegentlich – z. B. im Kontext des Mythos der Reinkarnation, den Platon auch nutzt für seinen Konzeption der ‚Psyche’, mit dem der obige ja auch wenigstens indirekt zusammen hängt, - vermutet wurde, eine Tendenz zu einer rationalisierenden Betrachtung der Liebe zeigt, die einer Ökonomie der Liebe im kulturellen Kontext zuneigt. Die Pathologie der Liebe wird einmal im Hinblick auf das Vergessen, einmal im Hinblick auf die unstillbare Sehnsucht definiert.

Die unter der unstillbaren Sehnsucht leiden möchten sie eher vergessen können, um ungestörter zu sein, die anderen fürchten sich vor den allgemeinen Folgen des Vergessens. Denn für den Einzelnen ist das ja nicht unbedingt von Belang. Fühlt er/sie sich damit nicht wohl, dann fällt es ihm/ihr ja offenbar schon wieder ein. In diesem Fall wird offenbar auch eine Abhängigkeit von dem Objekt der Sehnsucht, eine Ablenkung der Aufmerksamkeit und derart eine Schwächung der Funktionen des Überlebens – die kugelförmigen Menschen waren ja unbesiegbar, und die Götter fürchteten sich vor ihnen – nicht gefürchtet, sondern eher vom Vergessen. Dagegen verspricht sich die in dem platonischen Mythos dargestellte Sehnsucht eher von einer Kompensation des Mangels eine Verbesserung der sozialen und der Lebensökonomie des Einzelnen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass derartige Mythen von Platon (bzw. dem platonischen Sokrates) abgelehnt werden. Derartiges ist von den Göttern (oder dem Gott) nicht zu sagen. Es ist, modern gesprochen, eine platte anthropomorphe Projektion, einmal abgesehen von den Umständen, in denen da Menschen und Götter bei einer gewissen Wahllosigkeit und beim Ehebruch gezeigt werden. Dieser Typ des Mythos ist vor dem Hintergrund der Begründungen, die für diese Ablehnung gegeben werden, als ‚primitiv’ zu qualifizieren. Entsprechend wäre demnach auch der Sinn der Wortverwendung aus dem Kontext zu rechtfertigen. Es ergeben sich demnach auch Kriterien für die Unterscheidung einer Hochkultur von einer primitiven, die verteidigt werden können gegen einen Relativismus, der das nicht gelten lassen möchte. Das gilt ungeachtet der Untersuchungen der ‚strukturalen Anthropologie’ (Claude Levi Strauss) oder der ‚cultural anthropology’ (Margaret Mead, James Frazer, Ruth Benedict, Bronislaw Malinowski etc.), weil deren Absichten auf ganz anderes gingen, nämlich den Nachweis der Identität der konstitutiven Grundlagen aller Kultur in der Einheit des einen Homo sapiens als Gattungswesen.

Von Bedeutung ist ja, dass Platon (bzw. der Erzähler, Sokrates) diese Kritik an der griechischen Dichtung äußert, und dabei Homer als Beispiel zitiert. Man wird ihm also kaum Ethnozentrismus vorwerfen können oder Gewichtigeres. Da die Autorin diese Unterscheidung von Kulturen aber offensichtlich nicht vor Augen hat, bleiben ihre Protagonistinnen auf dem Niveau der primitiven Kultur stehen, nur dass eben Trivialmythen der Immigrationskultur an die Stelle der ‚autochthonen’ Mythen der Herkunftskultur treten. Der Austausch wechselt das Oberflächenbild im Bereich der Erscheinung aus, während das Niveau, auf dem die Integration des Selbst imaginiert wird mindestens nicht differenzierter wird oder qualitativ progrediert. Das Ergebnis ist eine Retardation, nicht eigentlich eine Regression. Diese müsste ja von einem höheren Niveau auf ein niedrigeres zurückfallen. Das müsste aber zuerst einmal gegeben sein. So viel auch ausgetauscht, hin und her geschoben wird, es bleibt im selben Rahmen. Die Bewegung kommt zum Stillstand nachdem die Identifikation des unreflektiert festgehaltenen archaischen Größenselbst mit dem Trivialmythos der Immigrationskultur zu Ende ‚gedacht’ worden ist, der die Konstitution dieses Größenselbst im Medium eines verbreiteten Schemas, das ganz unterschiedlich ausgestaltet sein kann, zum offenbaren Geheimnis macht, dass angesichts seiner Offenbarkeit im Unerkannten verschwindet. Auch das ist eine Leistung der Konsensbildung, wo sie zum herrschenden Prinzip erhoben wird: Dass sie das Objekt der Analyse aus dem Blick rückt, während es vor aller Augen liegt.

Die wechselseitige Spiegelung des archaischen und rudimentären Selbst und seines projizierten Phantasmas im Medium verbreiteter und akzeptierter, sogar geschätzter Schemata, die das Phantasma zu einer ‚kulturellen Form’ erheben, macht das keineswegs Selbstverständliche auf eine Weise selbstverständlich, dass es einer besonderen Veranstaltung bedarf, um es sichtbar zu machen. Das kann man dann wieder unter stillschweigender Berufung auf diese Form als ‚shit’ abfertigen usw. Die Cowboys sind immer auf der Seite des mit dem Angreifer identifizierten Angreifers. Als Angreifer erscheint – dieser ‚Bewusstseinsverfassung’ - so die Analyse der Perversion bzw. Regression bewusster und in der Verfügung durch einen Verstand stehender menschlicher zu triebhaften, sich durch ihr kaum bewusstes Dasein rechtfertigenden animalischen Verhältnissen auf dem Niveau von ‚Launen’. Unter dem Gesichtspunkt der analytischen Mittel ist auch die ‚philosophische Anthropologie’ kontinentalen Typs (Arnold Gehlen, Portmann, Victor von Weizsäcker usw.) von Bedeutung. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die kontinentale philosophische Anthropologie sich im Unterschied zur angelsächsisch-amerikanischen und in gewissem Sinn auch der frankophonen nicht gegen den Vordergrund der kontemporären ‚primitiven’ Kulturen, sondern gegen den Hintergrund der für die Genesis der modernen Welt maßgebenden klassischen Hochkulturen der Griechen und der Römer ins Auge fasst, ein Unterschied, der kaum überschätzt werden kann, der im Übrigen auch aufgrund des Bewusstseins der Abkünftigkeit der Gegenwartskultur von dieser Herkunft sich ganz anders orientieren muss im Hinblick auf die Selbstreflexion der ‚eigenen Kultur’ als das der Ethnologe oder Anthropologe tut, der zu den Trobrianden reist oder sonst in eine ‚fremde Kultur’. Denn die Art der Abkünftigkeit erlaubt eine derartige Unterscheidung nicht einmal als Naivität.

Die ‚fremde Kultur’ ist ein Teil der eigenen Kultur und steht zu ihr im Verhältnis der zeitlichen Ordnung, d. h. aber, dass ein Schnitt dieser Art gar nicht gelegt werden kann. Fremd und eigen sind hier relative Begriffe, die einer zeitlichen Ordnung superponiert werden können im Sinne einer methodischen Operation, aber nicht einmal die Eindeutigkeit genealogischer Verhältnisse ist hier zu erreichen, wie sie z. B. in der Unterscheidung des Vaters, der Mutter, der Eltern, vom Sohn, der Tochter, den Nachkommen vorliegt, insofern sie an Individuen gebunden ist. Dennoch ist das Verhältnis des Fremden zum Eigenen nach Art der genealogischen Beziehungen geordnet, aber der Schnitt bezieht sich stets auf das Gesamt des Vergangenen gegenüber dem Inbegriff des Gegenwärtigen einer Kultur, noch oberhalb des je individuellen Verhältnisses des Einzelnen zu diesen Gesamtheiten. Das zeigt aber auch, dass die Simplizität der Konfrontation, die sich von selbst zu ergeben scheint, wenn und wo kontemporäre Kulturen sich als je einander fremde im Muster des Verhältnisses von ‚Fremdem’ zu ‚Eigenem’ gegenüber treten, ein Schein ist, der überdies sogleich durch das Verhältnis der Reziprozität der Ansprüche kompliziert wird. Und die Frage, wie die Prüfung dieser Ansprüche zu führen ist, macht denn auch eines der Probleme aus, mit denen die Autorin den Leser belastet, ohne es ihm mitzuteilen allerdings. Denn ihr selbst entgeht das Problem ja vollständig. Problematisch ist hier weniger die Anwendung oder die Anwendbarkeit der Psychoanalyse, sondern der Umstand, dass sie ausreichen könnte dazu, den Sinn der Erzählung aufzuhellen, weil nichts an ihr über den mittels ihrer erschließbaren Sinn hinausgeht.

5. Das Problem des literarischen Urteils angesichts des literarischen Konsums

Angesichts des Problems, das eine Aufforderung zu einer ‚Stellungnahme’ zu dem Text etwa in der Endphase einer Lehrveranstaltung aufwirft, ergibt sich die Frage, worauf man sich eigentlich stützen kann und stützen muss, um einer solchen Stellungnahme einen Halt zu geben in mehr als einer subjektiven atmosphärischen und affektiv gestützten Äußerung, die dieses oder jenes Buch unter einer Auswahl von möglichen anderen bevorzugt, etwa auf der Grundlage der Frage, welches denn nun unter diesen Umständen ‚mein Lieblingsbuch’ sei oder dem/der Leser/in ‚am besten gefallen habe’. Schon die Aufforderung etwa im Rahmen einer literatur  und sprachtheoretischen Ausbildung an einer Akademie eine Antwort darauf zu geben, welches Buch ‚den Teilnehmern’ denn am besten gefallen hat, ihr Lieblingsbuch sei etc, berührt etwa merkwürdig, insofern es doch nicht darum geht, nach Art von Kindern das Lieblingsplüschtier zu benennen, oder eine gefühlsmäßige Einstellung zu äußern. Nicht, dass es dergleichen nicht gäbe. Aber wofür ist das ein Beleg, wenn nicht lediglich für eine zufällige und Im Hinblick auf ihre Grundlagen ganz unüberprüfte Übereinstimmungen zwischen dem, was ein Text auszudrücken oder darzustellen scheint und beliebigen persönlichen, subjektiven Dispositionen de/s/r Lesers/in. Natürlich kennt jeder Beispiele jenes kaum geregelten Austauschs über solche Vorlieben, wie sie wohl auch jeder hat, aber ebenso wie jeder dies kennt und weiß, weiß auch jeder, dass sie kaum einen anderen Sinn haben als den atmosphärische Aspekte situativer Art zu pflegen.

Das heißt aber, es kommt dabei weniger auf den Austausch von Information über den Inhalt noch auf ein begründeten Urteil über den in Rede stehenden Zusammenhang an, so wenig wie auf eine Betrachtung darüber, auf welcher Grundlage solche Sympathien sich eigentlich konfigurieren. Auch wenn man den wohlverstandenen Sinn solcher zwanglosen Mitteilungen verstehen kann, ist doch die Frage, ob sie die Grundlage bieten können für ein Gespräch, das auf mehr hinaus will als auf den Austausch solcher Gefühlslagen angesichts einer Lektüre. Selbst wenn man diese als Ausgangspunkt für eine Diskussion über einen literarischen Text betrachten will und kann, ist damit doch bestenfalls nur ein Aspekt des Rohmaterials benannt und umrissen, das in eine Betrachtung eingehen kann, die auf mehr ausgehen muss als auf die im Recht auf die freie Meinungsäußerung mitgedachte demokratische Freiheit, ‚gut zu finden’, was man halt will, auch ohne dass man dafür Gründe nennen müsste. Denn auch das ist Teil dieses Rechts. Und es ist das Recht eines Konsumenten.

Wenn man eine Diskussion führen will über einen literarischen Text, kann diese Grundlage des kommunikativen Lebens zwar nicht ignoriert oder außer Kraft gesetzt werden. Aber man muss auch sehen, dass sie ihrerseits nicht einfach als selbstverständlich gelten kann. Wie immer die sei es auch temporäre und situativ bedingte Außerkraftsetzung von normativen Ansprüchen an eine Gesprächssituation begründet werden kann, sie ist nicht tauglich für eine Problemlage, die danach verlangt, dass man die Grundlagen der Wirkungen von literarischen Texten auf den Leser klärt, die Strukturen untersuchen will, die diese Wirkungen erzeugen und sich über die Voraussetzungen aufklärt, die diese Erzeugung von Wirkungen auf Seiten des Lesers und seiner ‚Dispositionen’ ermöglichen.

Das Recht eines Konsumenten aber ebenso wie das des Rechts auf eine ‚eigene Meinung’ können aber nicht die Grundlage abgeben für eine Untersuchung, die gerade auch diese Umstände als zum Objektbereich der Untersuchung gehörige Momente auffassen muss, so dass sie im wissenschaftlichen Gespräch gar keine Rolle spielen können, in dem Sinne unbefragt bleibender Geltung, es sei denn als Objekt einer methodischen Überlegung, deren Grundsätze die Teilnehmer an ihr miteinander teilen, und über die sie im Grundsatz miteinander verständigt sind. Die Verständigung über diese Voraussetzungen rückt aber gerade den Vorrang der Methode in das Zentrum der Überlegung. Die für das so verstandene und begründete Gespräch ‚geltenden’ Grundsätze sind aber – das ist unausweichlich der erste Grundsatz dessen, worüber man schon verständigt ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Beschäftigung – wissenschaftlicher Art, und derart dem Meinungspluralismus der lebensweltlichen Kommunikation (außerhalb des institutionellen Lebens, das ohnehin anderen Kriterien gehorcht, die weder unmittelbar den Regeln wissenschaftlicher noch denen lebensweltlicher Kommunikation entsprechen) – wenn auch nicht der wissenschaftstheoretischen oder methodologischen Überlegung - ebenso entzogen wie etwa die Frage, ob zwei mal zwei fünf ist, auch wenn die Regeln der Entscheidung nicht so offen zutage liegen wie in diesem Fall, in dem niemand, der seine Zurechnungsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen will, sich dazu hergeben würde, die Richtigkeit dieser Behauptung ernsthaft zu verteidigen. Und die Richtigkeit und Angemessenheit der Methode rechtfertigt sich stets zuerst und zunächst durch die mittels ihrer erzielten Ergebnisse, während die methodologische Diskussion klärt, wie man zu ihnen evtl. kommt, also eine Reflexion auf ihre Anwendung und schon belegte Bewährung ist. Es mag zwar nicht richtig erscheinen zu sagen, dass die Methodologie stets nach der Anwendung der Methode kommt. Das erscheint aber nur so, weil es selbständige methodologische Ausführungen gibt, die immer schon älter zu sein scheinen als ihre Anwendung. Ein Blick auf die Anfänge zeigt jedoch, dass die Dichtung älter ist als die Methode(n) der Interpretation. Interpretation und methodisches Verstehen sind Ereignisse mit dem Charakter der Nachträglichkeit, so wie die Erinnerung an den Traum und seine ‚Deutung’ Phänomene der Nachträglichkeit sind, indem beide eben das zu Erinnernde und zu Verstehende voraussetzen als Ereignis bzw. so oder so Gegebenes.

Eine Lektüre kann unter diesen Umständen also ganz unabhängig von den gefühlsmäßigen oder den Einstellungen des Konsumenten unter diesen Umständen nur auf ein Urteil über einen Text hinauslaufen. Dieses Urteil ist das literarische Urteil über den Text. Die Frage nach der ‚affektiven’, der gefühlsmäßigen Einstellung gegenüber dem Gebilde stellt sich dabei nicht mehr, jedenfalls nicht als zentrale Frage. Sie mag eine Rolle spielen bei der ästhetischen Bewertung im engeren Sinne. Bekanntlich charakterisiert Aristoteles die Reaktion auf die Tragödie, an der seine Poetik als an den erwartbaren ‚subjektiven’, gleichwohl gleichförmigen Reaktionen der Zuschauer seine Theorie der ‚Katharsis’ (einer Art von seelischer Reinigung, man könnte auch sagen: einer Art von ‚Abfuhr’) festmacht, durch die Auslösung von Furcht und Schrecken sowie Mitleid mit dem Protagonisten. Diese Charakterisierung ist jedenfalls von anderer Art als die Frage nach der ‚Lieblingstragödie’, die einem Zuschauer ‚am besten gefallen hat’.

Es ist vollkommen klar, dass hier ein poetologisches Urteil, das den Charakter der Tragödie mittels der subjektiven und gleichwohl erwartbar gleichförmigen Reaktion der Zuschauer, die sie erzwingt, an die Stelle der Frage nach dem, was ‚am besten gefallen hat’, treten muss, und erst vor diesem Hintergrund tritt dann die Frage auf, welcher der Dichter, die in einem ‚Agon’ bei den jährlichen Panathenäen im Wettstreit gegeneinander mit ihren Dichtungen auftreten, den Preis erhält für seine Dichtung. Und auch hier lässt sich zeigen, dass und wie die Objektivierung des Urteils sich vollzieht, die oberhalb der subjektiven Zufälligkeiten und Beliebigkeiten die Gründe dafür anzugeben beanspruchen kann, dass diese Auszeichnung gerechtfertigt ist mindestens auch in der Form und im Inhalt, man kann auch sagen, in Sinn und Bedeutung, oder in Struktur und Gehalt des Werkes selbst. Man kann durchaus zeigen, dass dieses Urteil dann in einem gewissen Sinn zwingend ist und kaum revidierbar, also nicht ‚modernisierungsfähig’. Und daran ist erkennbar, dass die Literaturwissenschaft tatsächlich ein Objekt hat und eine Wissenschaft ist, und nicht mehr oder weniger unverbindlicher Meinungsaustausch über subjektive Befindlichkeiten und zufällige Übereinstimmungen unklarer Art bezüglich des Verhältnisses zwischen Leser und Text.

Dagegen kann man zeigen, welche Folgen es haben muss, wenn man zunächst den Leser dazu auffordert, seine Befindlichkeit gegenüber der Lektüre zu äußern, um sich dann anhand der Sammlung solcher Äußerungen zu einem ‚repräsentativen Querschnitt’ nach Art einer Meinungsumfrage zu entschließen oder gar an diese Art der Befragung dann eine Konfrontation mit der wahren Bedeutung des Ganzen entlang einer zunächst klug zurück gehaltenen überlegenen eigenen Einsicht überzugehen. Indem man die derart Traktierten mehr oder weniger offensichtlich deklassiert, mag man seine intellektuelle Überlegenheit bewiesen haben und alles Mögliche gerechtfertigt, aber der Weg zu einem angemessenen, methodologisch begründeten Urteil ist mindestens so gut verstellt wie zuvor, weil auch die überlegene subjektive Meinung, bei der es dann bleibt, als einer Demonstration, die zum Staunen Anlass sein mag, so wie man über die Tricks eines Zauberkünstlers staunen mag oder sonst eines ‚Virtuosen’, während methodologisch und wissenschaftlich nicht das Geringste gewonnen, dafür aber kommunikativ vieles verspielt worden sein mag.

Als Urteil über einen literarischen Text – ein Gebilde – ist dieses Urteil natürlich auch ästhetisches Urteil1, zumal angesichts des Umstandes, dass alles Gegenstand des ästhetischen Urteils werden kann. Das ist das Ergebnis einer Diskussion, die über mehrere Jahrhunderte geführt, den Geltungsbereich des ästhetischen Urteils immer weiter gehend entgrenzt hat, bis es endlich auf jede Form einer Erscheinung bezogen werden konnte, eine Tendenz, die im Terminus ‚Aisthesis’ = Wahrnehmung ohnehin bereits angelegt ist. Vom Urteil über ‚Das Schöne’, zum Urteil über ‚Das Erhabene’ schreitet die ‚Ästhetik zur Ästhetik des Hässlichen’ (Titel eines Buches aus dem neunzehnten Jahrhundert) und endlich auch zu der des Schreckens, des Banalen, des Alltags, des Gesamtkunstwerks (auch als Staat) und des Terrors fort, und beherrscht in der Form des Versandhauskatalogs und der Produktwerbung die Warenwelt unter Einschluss der Ware Mensch. Die Präsentation der Warenwerbung hebt die Verbrauchsgegenstände in einen Bereich, in dem sie eine Aura zu erwerben scheinen, dessen subjektives Korrelat der Wunsch ist, sie zu besitzen.

Es ist zu erwarten, dass der endlich errungene Besitz die dem Wunsch zugrunde liegende Wertschätzung einerseits zu erhalten und zu rechtfertigen strebt, während ihr alltäglicher Gebrauch andererseits sie einer gewissen Gewöhnung und Entwertung unterwirft, die diese Aura nicht zuletzt auch angesichts der Grenzen der Nutzbarkeit und der Abnutzung, des Absinkens der Gegenstände im alltäglichen Gebrauch oder gar eines Umschlags ihrer Wertschätzung verblassen lässt, bis zur immerhin möglichen Erkenntnis, dass ihre Unterhaltung eine Belastung sein kann, so dass ihr Marktwert ihren Nutzen nicht wirklich wiedergibt bzw. in keinem sinnvollen Verhältnis zu ihm steht, und der Nutzen die negativen Aspekte der Nutzung nicht aufzuwiegen vermag, so dass der zuvor erstrebenswerte erschienene Besitz nunmehr als ein Negativposten erscheint. Wie immer dieser Umgang sich vollzieht, er ist bis in den Besitz oder auch die Betrachtung der Kunstwerke der Bildenden Kunst hinein im Wesentlichen ein Umgang, der nicht primär über das Medium Sprache abgewickelt wird.2

Das sprachliche Kunstwerk aber spricht selbst. Es ist im Wesentlichen Sprache, und bevorzugt Sprache in der Form der schriftlichen Fixierung. Dies macht – nebenbei - den Markt in weiten Teilen überhaupt erst möglich, der es herstellt und vertreibt. Das ist aber weniger von Bedeutung als der Umstand, dass der sprachlichen Verfassung des literarischen Kunstwerks die sprachliche Verfassung des Urteils über es entsprechen muss. Das kann man auch so ausdrücken: Das Verhältnis zwischen Text und Leser ist in jeder Hinsicht ein sprachliches Verhältnis. Das ergibt sich nicht nur aus der sprachlichen Verfasstheit des literarischen Werkes, sondern auch aus der ‚Rolle’ des Lesers bei der Konstitution seiner Bedeutung. Das Verhältnis ist, wie immer man auch die Rolle des Autors hervorhebt, ein grundsätzlich dialogisches Verhältnis. Das Verhältnis von Text und Leser ist selbst ein Verhältnis eines Gesprächs (Man könnte angesichts der Marktverhältnisse einwenden, dass sich dieses Verhältnis zunehmend deutlicher ganz anders, nämlich als ein Verhältnis zwischen Konsument und Hersteller, und endlich ganz einseitig als Indoktrination einspielt, bei der der ‚Rezipient’ nur noch die passive Rolle des ‚Nachvollziehens’ einnimmt.

Darauf ist anderswo noch einzugehen, dann man kann den Einwand nicht einfach ignorieren). Man muss nicht so weit gehen zu sagen, dass das sprachliche Kunstwerk, die Bedeutung des Texts erst durch die Lektüre überhaupt geschaffen wird, aber man muss doch auch das an dieser zugespitzten und zum Widerspruch reizenden Formulierung sehen, das an ihr richtig ist. Sie verdankt sich selbst ja der entgegen gesetzten extremen Auffassung – die ihre Existenz der Genieästhetik des neunzehnten Jahrhunderts verdankt – wonach ausschließlich der Autor als ‚Schöpfer’ des Werks, das in dieser Betrachtung mit seiner ein für allemal feststehenden Bedeutung identisch ist, so wie sie der ‚Dichter’ intendiert, verantwortlich ist für die Bedeutung des literarischen Kunstwerks. Wie immer liegt die Wahrheit auch hier nicht in der Mitte. Die Vorstellung einer ‚Wahrheit’ bzw. der Bedeutung des literarischen Kunstwerks, die sich in der Mitte zwischen Leser und Autor konstituiert, ist selbst einer zu statischen Vorstellung der Bedeutung verpflichtet und betrachtet sie nach Art eines Dings. Richtig an ihr wäre die Ansetzung der Bedeutung in der prinzipiellen dynamischen Bipolarität des Verhältnisses von Leser und Autor, also zwei Polen, zwischen denen sich das Feld konstitutiert, in dem sich Bedeutung konfiguriert. Mittels des abgedroschenen (signaltechnischen) Sender-Empfänger-Modells ist das Gemeinte nicht zu verstehen (ein Modell, das sich inzwischen, zumal angesichts des nicht korrekten Terminus ‚Telekommunikation’, inzwischen an die Stelle der Kommunikation zu schieben versucht auf Kosten der Unterschlagung des Umstandes, dass die zugegeben beeindruckende Technologie doch nichts anderes darstellt als einen sei es auch globalen und stark diversifizierten Apparat zur Signalübermittlung, der vollkommen gleichgültig ist gegen jede Bedeutung, die denn ja auch als ‚content’ das letzte Problem darstellt, das dieser Apparat in Betracht zu ziehen hat, insofern er als bloßes Mittel gegenüber dem ‚Inhalt’ so gleichgültig ist die menschlichen Sprechwerkzeuge gegenüber dem, was mit ihnen gesprochen wird. Man kann sich nämlich ganz leicht der Erfahrung versichern, dass Menschen, die dieselbe Sprache sprechen und im Großen und Ganzen in Verhältnissen groß geworden sind, die sie als Angehörige derselben Kultur ausweisen, dennoch konstant aneinander vorbei zu reden vermögen ohne das überhaupt selbst zu begreifen. Dabei sind sie, gerade wenn man sie mittels des Sender-Empfänger-Modells zu verstehen sucht, sowohl als Sender wie als Empfänger intakt, verfügen über denselben Zeichenvorrat und denselben Code, sind imstande – etwa im kontrollierten Dialog – zu reproduzieren, was der jeweils andere gerade oder vorhin gesagt hat, und dennoch kommt Kommunikation eigentlich nicht zustande, obwohl der Zeichenaustausch, Signal  bzw. Informationsaustausch – der das Einzige ist, was das Modell korrekt zu erfassen erlaubt, technisch gesehen intakt ist und korrekt funktioniert. Was das Modell demnach gerade nicht erklären kann, ist, warum sie sich dennoch nicht verstehen, sondern aneinander vorbeireden oder sogar nicht zur Kenntnis zu nehmen imstande oder willens sind, was in der Substanz der Bedeutungen gegeben ist, die der verfehlten Kommunikation zugrunde liegt.

Der Austausch über ‚kulturelle Vorlieben’ auf der Suche nach Gemeinsamkeiten nach Art der Kontaktanzeigen in den Medien ist eine Überspielung dieser Unfähigkeit des Verstehens, die angesichts der Ziele, die sich in diesen kaum verbergen, und die anderer Art sind als das Verstehen, kaum verwundern kann, da angesichts dieser Ziele das Problem des Verstehens als zu komplex in den Hintergrund verschoben wird, eine Marginalisierung, deren Bedeutung sich an den ums sich greifenden Folgen ablesen lässt, die das hat.3 Die Grenze des informationstechnischen Signalübermittlungsmodells – auch wenn und wo es die Bezeichnung ‚ Kommunikation’ als Teil eines Kompositums erhalten hat, ist mit der automatischen Überprüfung der technisch korrekten Übermittlung des Signals und seiner Transformationen – aus Tasteneingaben in digital kodierte numerische Werte, aus diesen in (digitale oder analoge) elektronische Impulsfolgen und vice versa – abgeschlossen. Die Ebene der (Semantik) Bedeutungen, die die derart übermittelten Signale annehmen können, ist damit nicht erreicht. Sie gehört sachlich in ein anderes Gebiet, eine andere Domäne.

Die Domäne des literarischen Urteils ist der Bereich der Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge, sprachtheoretisch formuliert also die ‚Semantik’, wenn man den Formalismus dieser Theorie übernimmt. Dann allerdings wird die Syntaxtheorie Noam Chomskys kaum etwas zur Erhellung der hier interessierenden Probleme beitragen. Aber das nur nebenbei. Zurückblickend auf den Signalübermittlungsapparat kann man sagen, dass so wie dieser sich ausschließlich mit syntaktischen Problemen und den Einheiten und Elementen befasst, mit denen sie dargestellt und gelöst werden, so befasst sich das literarische Urteil mit dem Problem der semantischen Dimensionen der menschlichen Sprache (es gehört zum Standard, hier stets auch auf andere Ausdrucksmittel, etwa die Geste mit hinzuweisen. Wofern man aber den Terminus nicht metaphorisch überfordern will ist Literatur als die schriftliche Form der Mitteilung bzw. Darstellung nicht unmittelbar gestisch, sondern eben sprachlich, wie immer man das Moment des ‚Stils’ als Geste verstehen will. Sie ist dann dennoch in jedem Fall gerade an die Sprache gebunden und durch die Sprache, was sie ist.

Was immer man aus Ergebnissen der Ethologie (Tierverhaltensforschung) oder aus Vermutungen über ‚fremde Intelligenzen’ irgendwo im Universum beibringt, es ändert nichts an der Tatsache, dass Sprache im genauen, nicht metaphorischen Sinne nur als menschliche Sprache existiert. Alle Anstrengungen der Aus Dehnung des Bedeutungsgehalts von ‚Sprache’ haben nichts anderes erbracht als einen bestenfalls wohlwollend zur Kenntnis zu nehmenden Appell an die Würde der nicht oder nur rudimentär bzw. defektiv sprachlich verfassten Lebensformen bzw. einen Hinweis darauf, dass es auch andere Formen der ‚Kommunikation’ gibt, z. B. die visuelle Kommunikation. Aber gerade dieser Hinweis hat auch erbracht, welche Defizienzen diese Formen gegenüber der Sprache als Schöpfungsmedium und Medium der Mitteilung von Bedeutung aufweisen. Der Überschuss, den Bedeutung gegenüber dem signaltechnischen Modell der ‚Mitteilung’ im Sinne der Zeichen  bzw. Signalübermittlung auszeichnet, bedeutet aber, dass sie prinzipiell intersubjektiver Natur ist, im strengsten Sinne a priori intersubjektiv konstituiert ist. Wer sich daraus praktisch oder theoretisch, durch Ignoranz, Indifferenz oder (metaphorische) Umdeutung verabschiedet, verabschiedet sich von dem konstitutiven Boden der menschlichen Existenz so gut wie dem der Sprache selbst. Demgegenüber muss man auf der Wahrheit bestehen: Die ‚fremde Intelligenz’, das ist der Andere, ein Satz, in den man statt ‚die fremde Intelligenz’ auch einsetzen kann: Die fremde Kultur. Damit ist grundsätzlich geklärt, dass der Grenzwert aller Zielgruppendebatten der Einzelne ist, der einem anderen Einzelnen als Repräsentant einer Kultur oder ‚Intelligenz’ im Gespräch dessen Gegenüber ist.

Was bedeutet dies alles nur für das Verhältnis von Text und Leser? Einmal natürlich, dass die Befreiung dieses Verhältnisses von den Zufällen subjektiver Befindlichkeiten und Vorlieben auf die Notwendigkeit eines literarischen Urteils und damit eines ihm vorauszusetzenden Urteilsvermögens verweist, und wiederum auf die Bedingungen der Möglichkeit der Bildung eines solchen im Rahmen der Kontinuitäten und Innovationszyklen von historischen Gesellschaften, innerhalb dessen sich menschliches Leben immer schon abspielt, was wiederum auf eine Institution bzw. die institutionalisierte Form verweist, die diese Möglichkeiten und Voraussetzungen bewahrt, also auf Methode und Institution der literarischen Betrachtung als einer wissenschaftlichen Einrichtung verweist. Es sind Wissenschaft als Institution, und Methode als Verfahren, die die Möglichkeit des begründeten Urteils über die Erscheinungen der Literatur – und im weitesten Sinne der sprachlichen Produkte – des menschlichen Lebens institutionalisieren und erhalten. Die subjektiven Vorlieben und Befindlichkeiten, die sich zwischen Text und Leser einspielen oder abspielen können, sind damit weder ignoriert noch als gegenstandslos ausgeschieden, sondern im Gegenteil als Momente des Objekts der Betrachtung erkannt und richtig identifiziert, als Gegenstand des literarischen Urteils.

Dessen Ermöglichung muss also zunächst näher untersucht und abgegrenzt werden von anderen denkbaren und faktischen oder empirisch gegebenen Relationen zwischen Leser und Text. Das führt in die methodologische Diskussion der Grundlagen der Literaturbetrachtung als Wissenschaft mit dem Anspruch eines akademischen Faches, das sich in Forschung und Lehre ausweist anhand seiner Ergebnisse. Das muss also untersucht werden.

(So spielt die Erfahrung mit einem aktuellen Lehrbetrieb dem Lernenden, der sich als Forscher versteht, die Themen für die Forschung zu und die Einsicht in die Notwendigkeit dieser Forschung, damit das Lehrfach eine wissenschaftliche Grundlage behält.)

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1) Es ist klar, dass hier eine grundsätzliche Erörterung des ‚ästhetischen’ und des ‚poetologischen’ Urteils folgen muss. Ich komme gerade erst darauf. Diese Diskussion erfordert eine eigene Abhandlung, wenn nicht eine Vorlesung. So ergibt sich ein lohnendes und notwendiges Arbeitsprojekt aus jeweils anderen. Das folgt dem Gang der Dinge mit einer gewissen Notwendigkeit, denn angesichts der Einsicht in das Desiderat, des Fehlenden, aber Wünschenswerten und Notwendigen für Forschung und Lehre entsteht auch die in die Notwendigkeit des Arbeitsprojekts ‚Ästhetik’ und ‚Methodologie’ der Literatur  und Sprachwissenschaft. Wir halten hier also den Ausblick auf eigene Arbeitsprojekte in der Forschung und für die Verwendung in der Lehre offen und markieren uns diese für die eigene Erinnerung. Es ist erhellend für die Arbeitsweise und die Entfaltung ihrer Themen aus der inneren Notwendigkeit der vorangetriebenen Forschung und charakterisiert zugleich den Sinn von ‚Forschung’. Für alles natürlich Platons Dialoge, dann Aristoteles, Topik und Poetik, ebenso die Hermeneutiken und die Rhetorik, für die Ästhetik natürlich Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, und sein Vorläufer Baumgarten, sowie Edmund Burke, und natürlich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen’, die an Kants Kritik der Urteilskraft anknüpfen. Für das Methodologische natürlich Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode.

2) Dazu etwa der Band der Reihe Poetik und Hermeneutik, ‚Die nicht mehr Schönen Künste’

3) Vg. dazu ‚Semiotik’ , von dem Autor des Buches ‚Das Foucaultsche Pendel’, der die informationstheoretischen Aspekte dieses Modells in extenso diskutiert, nicht dagegen seine Grenzen.

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Verspätete Nachbemerkung.

{Die Arbeit ist unvollständig geblieben und vieles ist zunächst entweder zurückhaltend ausgedrückt oder nur angedeutet,aus Gründen, die ich hier nicht erläutern will. Die Unvollständigkeit der Ausführungen ergibt sich daraus, dass ich an einem bestimmten Punkt das Interesse an der Beschäftigung mit dem Thema verlor. Das berührt aber nicht das Gesagte. Der Leser kann das Ungesagte und Unausgeführte nach dem Motto behandeln: Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. :-)

Über das spezifisch amerikanische Verständnis von ‘Liebe’ wäre sogar vor dem Hintergrund einer Auffassung der ‘Liebe’ als einem ‘generalized symbolic medium of interchange’ bzw. ‘interchange mechanism’ einiges zu sagen, das zu einem intereressanten Vergleich mit den entsprechenden Definitionen Kants Anlass sein kann, zumal angesichts der sich im American way  of life durchsetzenden unbefangenen Annäherung der interpersonalen Beziehungen, in geschlechtlicher Hinsicht, an die sexuelle Dienstleistung, den wechselseitigen Nutzungsvertrag auf Zeit und die Pornographie, vornehm gesprochen ‘an das aus der puritanischen Verdrängung widerkehrende Dionysische’, was natürlich unvermeidlich auch und nicht nur auf die Wiederkehr des im Text verächtlich und läppisch (hebephren) bespuckten ‘Freudian shit’ hinauslaufen muss. Dieses ganze ‘Gerede durch den Ghettoblaster’ findet indessen kaum eine Kritik in dem linguistischen ‘Bewusstsein’ einer auf das vegetative Dasein blinden Erle3bens regredierten ‘Literaturwissenschaft’, die mit dem Blödsinn paktiert, was angesichts ihrer Identität mit dem hebephrenen Zeitgeist allerdings kein Wunder ist.

Vor allem auch Niklas Luhmann’s Buch ‘Lieb e als Passion’ , das eine funktionalistische Analyse der ‘Liebe’ als generalisiertes Kommunikationsmedium im Rahmen systemtheoretischer Überlegungen gibt, aber ebenso etwa Igor Caruso’s Buch ‘Die Trennung der Liebenden’  wären in eine gründlichere Betrachtung einzubeziehen angesichts der sich abzeichnenden postkulturellen Unterbietung selbst des niedrigsten noch als ‘kulturell’ einzustufenden Niveaus der Praxis und Theorie einstmals menschlicher Verhältnisse, die lange schon zu ‘Beziehungen’ denaturiert waren, bevor sie vollends zu Nutzungskonzepten degenerieren auf der ‘Ebene’  des luxurierenden Konsums, etwa als 'candle-light-dinner mit ‘Ficken’, oder buchbare Begleitserviceleistung.}

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