Romantische Landschaft mit Menschenopfer

Romantische Landschaft mit Menschenopfer
Weißt Du wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt...

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Sinnlichkeit und Abstraktion

Untersuchung ihres Verhältnisses in ihrer Struktur als Gegenwartskultur am Beispiel von Bernhard Schlinks Roman ‚Der Vorleser’.

26.4.2002
Jokasta:
Was fürchtet denn der Mensch, der mit dem Glück
Es hält? Von nichts gibt’s eine Ahnung deutlich.
Dahinzuleben, so wie einer kann,
Das ist das Beste. Fürchte Du die Hochzeit
Mit deiner Mutter nicht! Denn öfters hat
Ein Sterblicher der eignen Mutter schon
Im Träume beigewohnt: doch wem wie nichts
Dies gilt, er trägt am leichtesten das Leben.“
(Sophokles, Ödipus, Vierter Akt, Erste Szene, Übersetzung Friedrich Hölderlins)

In einem kleinen Aufsatz gleichen Titels aus dem Jahre 1807, seiner sogenannten Jenaer Zeit, beschäftigt sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit dem Problem: Wer denkt abstrakt? (G. W. F. Hegel, Jenaer Schriften 1801-1807, Werke in zwanzig Bänden 2, Theorie Werkausgabe, Ffm. 1970, S. 575 ff) Hegel gibt, der Aufsatz ist kurz, sogleich die Antwort darauf: „Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete.“ Dieses Urteil steht im Widerspruch zur verbreiteten Ansicht. Denn es sind angeblich die Gebildeten, die Wissenschaftler z. B. oder gar die Philosophen, die mit Vorliebe, und zwar entlang von Begriffen, eben ‚Abstraktionen’, von hoher Allgemeinheit, zu denken mindestens vorgeben, und eben dies, das begrifflich vermittelte Denken, im Unterschied zum Meinen des vermeintlich ‚gesunden Menschenverstandes’, der im Wesentlichen das verbreitete Vorurteil repräsentiert, ist nach der Ansicht, die dieser Verstand von der Welt hat, abstrakt.

Hegel führt aus, warum das falsch ist, und zwar an einem bewusst gewählten Extremfall, dem eines Menschen, der einen Mord begangen hat, nicht ohne zuvor zu betonen, dass die gewählten Beispiele, darunter auch alltägliche, sofort einleuchtend das Gemeinte belegen: „Es wird also ein Mörder zur Richtstätte geführt. Dem gemeinen Volke ist er nichts weiter als ein Mörder. Damen machen vielleicht die Bemerkung, dass er ein kräftiger, schöner, interessanter Mann ist. Jenes Volk findet die Bemerkung entsetzlich: was, ein Mörder schön? Wie kann man so schlecht denkend sein und einen Mörder schön nennen; ihr seid auch wohl etwas nicht viel Besseres! Dies ist die Sittenverderbnis, die unter den vornehmen Leuten herrscht, setzt vielleicht der Priester hinzu, der den Grund der Dinge und die Herzen kennt.

Ein Menschenkenner sucht den Gang der Dinge auf, die die Bildung des Verbrechers genommen, findet in seiner Geschichte schlechte Erziehung schlechte Familienverhältnisse des Vaters und der Mutter, irgendeine ungeheure Härte bei einem leichteren Vergehen dieses Menschen, die ihn gegen die bürgerliche Ordnung erbitterte, eine erste Rückwirkung dagegen, die ihn daraus vertrieb und es ihm jetzt nur noch durch Verbrechen sich zu erhalten möglich machte...“

Der Gegensatz, den Hegel hier als den zwischen dem gewöhnlichen Massenvorurteil und dem Gebildeten entwickelt, bezieht sich auf eine Qualifizierung eines Vorurteils als Einseitigkeit, als eine Vereinfachung, die notwendig zu einer falschen, wenigstens aber unvollständigen Beurteilung eines Sachverhalts bzw. einer Person führen muss. Den gebildeteren Damen fällt das nicht unbedingt auf. Sie denken womöglich ebenso abstrakt, indem sie einen ihnen eher nahe liegenden anderen Aspekt der Existenz der Person des Mörders bemerken. Aber es ist dieser durchaus reale Aspekt, der die Abstraktion doch zugleich aufhebt, indem sie etwas Liebenswertes an einem ansonsten nur unter dem Gesichtspunkt einer Strafverfolgungsbehörde Wahrgenommenen und auf diesen reduzierten Menschen etwas über diese Abstraktion Hinausgehendes spontan bemerken.

Hegel erläutert das sogleich, indem er hinzu fügt: „Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, dass er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm zu vertilgen.“

Er fügt im Folgenden noch hinzu, dass dieser Einseitigkeit die andere entspricht, die Rad und Galgen, im Symbol des Kreuzes, wie er sagt, längst geheiligt – insofern das Kreuz bzw. die Kreuzigung die Methode der Wahl im Römischen Imperium war, wie der elektrische Stuhl und der Terroristenprozess (z. B. gegen Selbstmordattentäter!) jenseits der Menschenrechtskonvention in seiner kontemporären Nachfolgeorganisation zugleich Rad, Galgen und Kreuz der Wahl sind – mit Rosen, Veilchen und Klatschmohn schmückt.

Schließlich erläutert er dasselbe noch am Gebrauch des Menschen selbst, nach Kriterien der Ethik Immanuel Kants stets ein Missbrauch, den eine Ordnung z. B. von Verkäufern ihrer Arbeitskraft als Ware macht. Das Beispiel ist zwar am Unterschied zwischen dem preußischen Offizier und den gemeinen Soldaten erläutert, und der Berechtigung des Offiziers, den Soldaten zu prügeln, ‚weil er eine Kanaille ist’, aber anhand des Mechanismus der Erzeugung der Armut in modernen Industriegesellschaften, die dergleichen am Wenigsten erwarten lassen müssten, zeigt er in der ‚Jenenser Realphilosophie’ ebenso wie in der Rechtsphilosophie, wie die allgemeinen Abstraktionen, die sich in der ‚bürgerlichen Gesellschaft’ und dem für sie spezifischen Staat durchsetzen, die ‚Furie der Zerstörung’, eine abstrakte Reaktionsbildung auf die sozialen Abstraktionen erzeugen.

Diese Überlegungen sind vorweg zu schicken, wenn man an die Betrachtung des Romans ‚Der Vorleser’, von Bernhard Schlink heran gehen will. Eine andere, die ebenso zur Erhellung des Konstrukts dienen dürfte, kann vorerst zurückgestellt werden. (Es soll spannend bleiben.)

Aus verschiedenen Indikatoren geht hervor, dass es sich bei der Geschichte, die der Ich-Erzähler als Autobiographie vor dem geistigen Auge des Lesers entfaltet, um eine Konstruktion handelt. Zum einen bleibt die Familie eigenartig blass und konturenlos, was angesichts einer Autobiographie merkwürdig klingt. Die ohnehin schon blassen, kaum skizzierten Personen aus dem Familienkreis verschwinden im Verlaufe der Erzählung vollständig. Großeltern hat der Ich-Erzähler gar nicht erst. Das ist kein Resultat einer ‚Konzentration auf das für das Verständnis einer Biographie Notwendige’. Zeitgeschichtliche Reflexionen, beinahe unvermeidlich insofern eine Person nicht verständlich werden kann ohne die Beschreibung der Beziehungen mit anderen Personen, und ohne ihre Beziehung auf ihre jeweils gleichzeitige, mit der Geschichte verflochtene Welt, so wie sie im Gefüge sprachlicher Bedeutungen erscheinen muss, sind nur im Rahmen der Konstruktion präsent und haben derart eine ausschließlich konstruktive Funktion in bezug auf das Verständnis der Geschichte bzw. der mittels ihrer erläuterten Struktur ausschließlich einer einzigen sozialen Beziehung, die das Zentrum der Erzählung ausmacht. Ebenso wenig erfährt der Leser/die Leserin über die Vorgeschichte des Jungen, die verständlich machen könnte, wie es zu der unbedingt als eigenartig auffallenden Liebesbeziehung kommen kann. Darauf ist noch zurück zu kommen.

Diese Vorbemerkungen sind jedoch nicht als Bemängelung eines Defizits zu verstehen, sondern dienen dem Hinweis darauf, dass es falsch wäre, der mittels der Konstruktion erzeugten Illusion einer Autobiographie zu erliegen. Diese Illusion ist gewissermaßen nur der Leim, der den Leser bei der Stange halten soll bis er durch die Lektüre hindurch zur Möglichkeit des Verständnisses des gemeinten bzw. mittels der Erzählung erläuterten Gedankens geführt worden ist.

Der besteht nun aber genau darin, eine Abstraktion aufzuheben, die nicht nur zum allgemeinen, sondern auch, in gewisser Weise sogar zum gebildeten Vorurteil geworden ist, dem Vorurteil einer Generation von Nachgeborenen über die Taten, die Handlungen oder das Verhalten der ihnen vorangegangenen Generationen, mit denen sie wie immer sich überlappend eine gemeinsame Welt, als Mitwelt teilten, die ihnen als Lehrer und Eltern, als Erwachsene gegenüber traten.

Um dieses Vorurteil für sich selbst durchsichtig zu machen und einer Revision zuzuführen, die das Urteilsvermögen und das Gewissen der Leser in Anspruch nimmt, ohne erneut, ein weiteres Mal nur in eine von oben herab eingeführte Belehrung zu verfallen, also auch, um die erwartbare Reaktion darauf – das ermüdete Abwinken zum Wenigsten – zu vermeiden, konstruiert der Autor eine verzweifelte und in ihren Widersprüchen unauflösbare Liebesgeschichte mit genuin ‚tragischer’ Substanz, insofern ‚tragisch’ der unauflösbare Antagonismus zwischen zwei miteinander unvereinbaren Ansprüchen auf dasselbe, in diesem Fall Selbsterhaltung, Menschenwürde und Lebensglück des Einzelnen unter wie auch immer wechselnden äußeren Umständen genannt werden kann.

Um etwas dergleichen ‚machen’ zu können, bedarf es also nicht so sehr des oberflächlich plausiblen Scheins einer drauflos erzählten Rekapitulation der Zufälle eines oder mehrerer Lebensschicksale und der Beziehungen, in denen sie sich miteinander verflechten und aneinander formen, sondern jener literarisch-ästhetischen konstruktiven Phantasie, die sich so oder so in die Tradition einer ästhetischen Produktivität stellt, die sich des Umstandes bewusst ist, dass die literarische Fiktion wahrer sein muss als die bloße Geschichte, insofern Geschichte bloß das ist, was passiert ist, während die Literatur das an ihr darzustellen hat, was daran wahr ist, ihren Wahrheitsgehalt. Es ist dieser Umstand, der das Verhältnis von Literatur und Geschichte als jeweils so oder so interessierte Geschichtsschreibung in Bezug auf die Wahrheit mit Rücksicht auf den Anspruch der Geschichtsschreibung umkehrt. Die Literatur, verstanden als ästhetische Produktivität, die sich ihres konstruktiven Vermögens bewusst ist, ist wahrer als die Geschichtsschreibung, verstanden als Rekonstruktion des Faktischen.

Man kann das an dem bekannten Streit um die Frage erläutern, ob bzw. dass ‚Auschwitz ein Mythos’ sei. Diese Behauptung ist bekanntlich gerichtlich verboten worden, und zwar, weil sie als politisch ‚rechts gerichteter Topos gilt’. Indessen beruht die womöglich darin zu unterstellende Absicht einer herabsetzenden Qualifizierung des Holocaust bzw. der Shoa als Lüge bzw. das juristisch sich panzernde Verbot der Behauptung dieser Lüge in der Formulierung: „Auschwitz ist ein Mythos“ auf einem demselben Syndrom der Halbbildung zuzurechnenden Vorurteil in Bezug auf den Mythos beruht, auf einer Abstraktion also, während ein angemessenes Verständnis dessen, was der Mythos unverändert gegenwartsmächtig ist und immer schon war, gerade dazu führen muss, dass Auschwitz nicht als Geschichtsschreibung oder Denkmalspflege, sondern nur als Mythos möglich ist, und zwar angesichts dessen, was der Sache nach der Inhalt des Mythos unverändert ist.

Wovon Geschichtsschreibung wie juristische Beweisführung der Sache nach gleichermaßen abstrahieren ist das, was der Gegenstand, der Inhalt des Mythos ist. Ja es ist noch schlimmer, besonders unter den Umständen der Gegenwart und ihrer Tendenz zur zugleich Verstaatlichung und vermögensrechtlichen Privatisierung von gesellschaftlichem Sinn zur Bedeutsamkeitsherstellung in industriellen Verfahren, und ihrer Verbreitung mittels gigantischer Industrieanlagen, die den Wert des Individuums und der Person gegen Null gehen lassen, insofern die Verfahren und die Organisationsformen, in und mittels derer dies geschieht, den Strukturen ähneln, und sogar mit ihnen identisch sind, die den Holocaust bewerkstelligten. Um das zu bemerken, muss man nur die prinzipielle Austauschbarkeit der sogenannten Inhalte, neuerdings ‚content’ erkennen, und natürlich, den Grad der durch Modernisierung und Rationalisierung bewirkten Perfektionierung der Apparaturen, denen natürlich die unbewusst gewordenen kollektiven Erfahrungen der ‚Menschheit’ mit dem zwanzigsten Jahrhundert als disziplinierende Modernisierungseffekte entsprechen, eine kollektive Erfahrung, deren Wirkungen auf die Formierung der Seele mit den Termini ‚Internalisierung’ und ‚Identifikation’ umschrieben werden können.

Der Ich-Erzähler des Romans beschreibt dies als ‚Betäubung’, als ‚Automatismus’, der ‚Funktionieren’ im Apparat erst ermöglicht, für die, die den damit gesetzten ‚Leistungsnormen’ genügen und deshalb die entsprechenden Berufskarrieren machen, als Diener der Apparate, die Urteile über ‚(Kriegs‑)Verbrecher’ oder ‚die Verbrechen der Nazis’ nach denselben Regeln erarbeiten, nach denen sie ermöglicht und durchgeführt wurden. Gegen die Technik der Anästhetisierung des Geschehenen und des Geschehens, die die Großbürokratien gegenüber austauschbaren Inhalten und Objekten ihrer Aktion gegen die Menschen stets im Namen von Recht und Ordnung durchsetzen, um sie zu disziplinieren, entfaltet sich jenseits der Apparate der Mythos als Gefäß der Bewahrung und als Kommunikationsmedium der Erfahrung des von ihnen unverändert ausgehenden , wenn auch technisch perfektioniert und sozialtechnologisch dem Individuum nach Möglichkeit unbewusst gemachten, wenigstens jedoch rhetorisch ausgeredeten panischen Schreckens, wie ihn die kaum gebannten Mächte und Gewalten verbreiten. Insofern ist in dem eigenartigen Schauspiel der Behauptung, Auschwitz sei ein Mythos, und ihrer juristisch durchgesetzten Belegung mit einem Verbot durch die staatliche Zensur ein Zusammenspiel von Kräften präsent, das keineswegs verstanden ist.

Auschwitz ist nur als Mythos überhaupt als kollektive Erfahrung zu bewahren und einem Bewusstsein zuzuführen. Es ist nicht justitiabel und auch nicht durch Geschichtsschreibung ‚auf den Begriff zu bringen’, insofern beide ‚Methoden der Bewältigung’ auf dem von Max Weber heraus gestellten Grundmerkmal der Bürokratisierung der modernen Gesellschaften beruhen, der Rationalisierung. Man muss sich nur vor Augen halten, dass, was Max Weber als ein Positivum im Sinne einer Garantie für Sachlichkeit und Formgerechtheit vermerkte, indem der diese Bezeichnung wählte, für Sigmund Freud als Inbegriff eines der ohne Zweifel im Sinne der Norm des Vernünftigen pathologischen und pathogenen Abwehrmechanismen gilt, und was einem der modernen Sozialtheoretiker zur ‚Legitimation von Verfahren’ gerinnt, also zur zynischen Selbstrechtfertigung gesellschaftlicher Gewaltapparate, die beanspruchen, eine verantwortliche Führung der Population jenseits partikularer Interessendurchsetzung mittels des Kollektivorgans der Selbsterhaltung, des Staates zu betreiben und damit ihre Selbsterhaltung jedenfalls erfolgreich betreiben, als unverändert willfährige Instrumente der Apparaturen, an die sie ihre Selbsterhaltungsinteressen verkaufen unter Verzicht auf das Recht zum Gebrauch des eigenen Verstandes, ein Umstand, der allerdings dadurch aus der Welt geschafft wird, dass nach Möglichkeit die Norm der Rationalität, die die Apparaturen propagieren, zur allgemeinen Norm erhoben und auf dem Wege der Erziehung alternativenlos durchgesetzt wird. In jedem Fall ist die äußerst denkbare Form der ‚Rationalisierung’ des Mythos in derjenigen analytischen Durchsichtigmachung zu sehen, die zum Konstruktionsprinzip der Tragödie führt. Alles, was darüber hinaus geht, ist Ideologie oder deren Erzeugung, Kulturpolitik.

Dieser gegenüber ist der Mythos Aufklärung, jedenfalls das Konstruktionsprinzip der Wahrheit gegen die als Kultur normierte Lüge, die noch an dem, was sie von sich ausscheidet und ausschließt, weil es ihr nicht mehr in das von ihr gewünschte Erscheinungsbild zu passen, dem Stand der jeweils erreichten ‚Internalisierung’ der heteronomen Norm und der durch verstaatlichte Erziehung bewerkstelligten ‚Identifikation’ (mit dem Angreifer) nicht mehr entspricht, insofern auch als ‚überflüssig’ gewordene Brutalität erscheinen mag angesichts des je durch diese bewirkten Erfolge der Verlagerung der Herrschaft und der Gewalt in die sogenannte ‚Seele’ des Individuums, das zugleich damit auch die Normen der ‚Rationalisierung’ ohne Bewusstsein davon mit ‚verinnerlicht’, deren Erscheinungsbild dann, wenn es sich mittels ihrer zu verteidigen versucht gegen die Anschuldigung, es habe sich gegen die Ordnung vergangen, als Beweismittel in dem Prozess verwendet wird, der mit denselben, aber als öffentlich deklarierten Mitteln gegen es geführt wird, die dafür sorgen, dass die Beweisführung des Individuums im Namen des Rechts als Beweismittel gegen es verwendet werden können. Das hat zunächst die Funktion, die ‚private Nutzung’ der Norm gegen die normierenden Instanzen auszuschließen, als private Idiosynkrasie, die dem geltenden Rechtsverständnis nicht entspricht. Das wird je offiziell festgestellt und dem dienen die Verfahren: Sie beweisen die Überlegenheit der öffentlichen Rationalisierung gegenüber der bloß privaten, und stellen zur Sicherung dieses Zwecks gewöhnlich große Anstrengungen an, die die Gewährleistung der rhetorischen Überlegenheit des eigens dafür geschaffenen Formen der Personalrekrutierung sicher zu stellen haben, also einer selbst dem Sachverhalt jenseits der ihm jeweils übergezogenen Passepartouts der Legitimation durch Verfahren äußerlichen Form entsprechend zugeschnitten sind, auch wenn sie mit der Öffentlichkeit den ritualisierten Streit innerhalb des Passepartouts zulassen. Die übergreifende Form sorgt für die Anästhesie der Wahrnehmung und des Verstandes gegenüber allem, was nicht dieser Form genügt, während sie das Recht des Stärkeren ‚sine ira et studio’ exekutiert, also just ohne die Leidenschaft, den den Kampf gewöhnlich auflädt mit den begleitenden Affekten. In demselben Sinn ist bemerkt worden, dass lustlos gemordet ward in Auschwitz. Und in demselben Sinn ist die Banalität des Bösen, sein kleinbürgerlicher, bürokratieförmiger Schematismus, seine unbeschreibliche Scheußlichkeit als Routine bemerkt worden, kurz, seine Normalität. Innerhalb dieses Rahmens eines schablonierten Wahrnehmens, Erlebens und maschinenmäßigen Denkens, verstanden als Technologie, ist ein Verständnis menschlicher Verwicklungen nicht zu erreichen. Das ist an den Versuchen dazu belegt. Diese Voraussetzungen sind die Voraussetzungen des Autors von ‚Der Vorleser’.

Will man menschliche Verhältnisse als solche nicht nur bezeichnen, sondern darstellen, dann muss die dafür gewählte Art der Darstellung so sein, dass sie darin Platz finden und zur Darstellung kommen können. Dazu ist aber keine andere Darstellungsart geeignet als die der menschlichen Beziehung, so wie sie erscheint, wenn und wo sie nicht durch Apparate, Positionierung in einem organisatorischen oder einem Feld der Macht oder der Herrschaft erscheint, unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit, des Gebrauchs eines Menschen durch einen anderen, mit Rücksicht auf eine heteronome ‚raison’ (die Staatsraison z. B.). Nicht zufällig sind die Dramen Racines und die Shakespearschen Dramen in die Form persönlicher Beziehungen gebracht selbst und gerade dort, wo sich ‚abstrakte’ Rücksichten in diese eindrängen und sich auf dem Wege über sie ‚ausagieren’, mit oder ohne eine Beteiligung der von ihnen ‚besessenen’ Dramatis Personae, durch deren Masken sie hindurch tönen.
Der Autor muss etwas Ungewöhnliches und wenig Wahrscheinliches in eine grundsätzlich ‚wahrscheinliche’ menschliche Beziehung konstruktiv übersetzen. In dem hier gegebenen Fall die unmittelbare menschliche Beziehung zwischen einer Person, die dem Umkreis des Wachpersonals der Konzentrationslager zugehört hatte, die mit der passiven oder aktiven Zustimmung der Bevölkerung und der in ihrem Namen betriebenen Politik – es handelte sich um eine Demokratie, wenn auch in ihrem stets jeweils vorläufigen Endstadium als Diktatur oder besser Cäsarismus (Adolf Hitler war der letzte Kaiser der Deutschen, ein Soldatenkaiser of course, aber das war Phokas auch, und unter durchaus vergleichbaren Umständen) – während der Zeit und der Existenz des ‚Dritten Reiches’ in Deutschland unterhalten worden waren, und einem Heranwachsenden, der in der Spätphase der Existenz dieser politischen Entität geboren wurde, also bewusst diese Zeit nicht erlebt hatte. Naturgemäß trennt ein erheblicher Altersunterschied von mindestens einer biologischen Generation zwei derartige Personen. Diese Personen können in die Form des elementaren Paradigmas menschlicher Beziehungen, die Liebesbeziehung zwischen zwei erwachsenen Partnern verschiedenen Geschlechts, also in die Form der generativen Liebesbeziehung, im Unterschied zur genetischen, nur unter Extrembedingungen eintreten, also nur unter der Bedingung, dass die genetische und die generative praktisch identisch werden. Zugleich ist damit eine äußerste Verdichtung erreicht, wenn man zur Darstellung die Beziehung zwischen einem heranwachsenden jungen Mann und einer erwachsenen Frau wählt, die dem Alter nach seine Mutter sein könnte, insofern die Liebesbeziehungen des Erwachsenen nach dem Modell der frühesten Liebenbeziehungen geformt sind, deren über die Gattungsgrenzen mindestens im gesamten Bereich der Säugetiergattungen einer biologischen Form entspricht, die für diese Lebensformen insgesamt gültig ist, und beim Homo sapiens sapiens durch die spezifischen Umstände, die die anthropologischen Besonderheiten ausmachen, die extrauterine Frühgeburt und die dadurch bedingte Gleichzeitigkeit von biologischer Reifung des Nervensystems unter den Bedingungen der als soziales Paradigma par excellence zu betrachtenden Mutter-Kind-Symbiose ausgezeichnet ist: Die physiologische Reifung des kindlichen Organismus findet statt unter der Bedingung seiner extrauterinen, an eine Umwelt ausgesetzte Existenz, die zugleich Urbild des Sozialen ist und Urbild der Liebesbeziehung überhaupt. Das gilt zwar – mit Beziehung auf das Kind - für beide Geschlechter gleichermaßen, aber doch auch aufgrund des Geschlechtsunterschieds in je anderen Weise. Zur Darstellung einer Liebesbeziehung, die alle diese Momente in dem oben gemeinten konstruktiven Sinn in sich aufnehmen kann, und damit jede spätere Ambivalenz ausschalten kann, die erst durch die Beziehungsgeschichte entstanden sein kann, und zugleich alle Momente einer menschlichen Beziehung in sich in höchster Verdichtung vereinigt, ist jedenfalls die Wahl einer Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem jüngeren Mann angemessen. Zugleich ist diese Wahl aber in einer bestimmten Weise belastet, die sie ungewöhnlich erscheinen lässt. Der Verlauf der kindlichen Entwicklung ist nämlich durch soziale Normen begrenzt, die ihr bestimmte Zumutungen auferlegen, die eine bestimmte Richtung dieser Entwicklung determinieren, die zugleich erzwingen, dass das ursprüngliche Triebobjekt aufgegeben wird, nachdem zunächst die Partialtriebentwicklung und deren Ausgänge aus der polymorph-perversen Sexualität des Kindes integriert und konzentriert wurden auf dieses – inzestuöse - Liebesobjekt, das mit dem ‚Untergang des ödipalen Konflikts’ und dem Beginn der Latenzzeit bis zur Pubertät seinerseits zugunsten einer exogamen Orientierung aufgegeben worden sein sollte. Diesem Sachverhalt entspricht einerseits die ursprünglich polymorph-perverse Verfassung der kindlichen Sexualität, die sich nacheinander an Mutterbrust bzw. der oralen Lust, dem eigenen Anus und endlich – phallisch – an dem Besitz des Penis bzw. der Klitoris andererseits orientiert, und in diesem Sinne ‚narzistisch’ im Sinne von selbstbezogen ist, bezogen auf die organische Lustquelle, obwohl alle diese Typen ohne soziale Komponenten, also objektorientierte Komponenten von Anfang an nicht denkbar sind, wer immer nun in die Funktion der primären Liebensobjekte als deren Woran eintritt, andererseits, genetisch-biologisch betrachtet, oder auch im Sinne primärer sozialer Beziehungen, inzestuös orientiert. Die gelungene Kulturleistung erwartet unverändert, und im Prinzip unveränderbar die ‚Integration’ der ‚Partialtriebe’ und ihre Konzentration auf ein gegengeschlechtliches Liebesobjekt und die Respektierung des Inzestverbots, die konstitutiv sind als Grundlage aller bekannten Kulturen der Welt. Das schließt jedoch stets schon einen Verzicht ein auf die vollständige Triebbefriedigung, insofern sie ja durch die entsprechenden kulturellen Normen zensiert, eingeschränkt ist.

Der Autor nutzt nun diese Umstände zur Konstruktion der Grundlagen und Voraussetzungen seiner Geschichte, indem er gewissermaßen hart an der Grenze der vollständigen Wiederbelebung sowohl der Erinnerung an die ursprünglichen Objektbeziehungen, die damit verbundene Partialtrieblust und den Wunsch nach vollständiger Triebbefriedigung jenseits von Moral und Kultur wie auch an den mit der Integration der Partialtriebe, der Konzentration auf ein Triebobjekt und den Verzicht auf dieses, also an das mehr oder weniger intensive Trauma der kulturkonformen Lösung, des Verzichts entlang ein elementares Paradigmas einer gegengeschlechtlichen Beziehung konstruiert, das die Realisierung des inzestuösen Wunsches wenigstens assoziativ halluzinierbar werden lässt, und derart eine wenigstens sekundäre Faszination auf die Leser ausüben muss.

Das geschieht nicht von Ungefähr im Anschluss an eine schwere Krankheit des Ich-Erzählers, die ihn sowohl organisch stark schwächt, sondern auch sozial isoliert, insofern Hepatitis auch heute gewöhnlich zu einer vorübergehenden klinischen Isolation des Patienten führt. Beides bewirkt, was man technisch gesprochen eine Regression nennt. Die Erkrankung tritt als Begleiterscheinung einer Reifungskrise auf. An dem Beginn ihrer akuten Phase steht die zunächst zufällige und insofern bedeutungslos erscheinende Begegnung mit der späteren Geliebten, die ihn, als er sich plötzlich unerklärlich übergeben muss und einen Schwächeanfall bekommt, säubert und nach Hause bringt, wo seine Krankheit festgestellt wird. Unter dem Eindruck der Krankheit und der sozialen Isolation – er kann nicht mehr in die Schule gehen, die Schulkameraden besuchen ihn mit der Dauer der Krankheit zunehmend weniger oft – lockern sich seine kognitiven Funktionen zugunsten der um sich greifenden Phantasietätigkeit, die den sonst unbewussten Strebungen und Affekten Platz schafft für eine aus ihnen und der Entwicklungskrise heraus sich entfaltende Dynamik.

Derart ist die quasi somnambule, an instinktiven Orientierungen entlang sich tastende Bewegungsweise des Jungen in der Rekonvaleszenz zu verstehen, den der Ich-Erzähler überzeugend darstellt, indem er beschreibt, wie er sich entlang einer Linie bewegt, die ihm der unbewusste Wunsch vorschreibt, und das Objekt des Begehrens, das ihm der ‚Zufall’ vorstellt und an das sich die Wunscherfüllung ankoppeln kann, indem sie es ‚besetzt’.

Triebbesetzungen sind Erkenntnisfunktionen, ebenso wie Abwehrmechanismen. Mehr als der wissenschaftliche Intellektualismus wahrhaben will, orientieren sich Menschen an diesen zum großen Teil unbewussten Funktionen bzw. Determinanten ihrer bewussten Wahrnehmung. In diesem Fall ist es ein projektiver Mechanismus der Objektbesetzung, der einem Begehren zum Durchbruch verhilft, dessen ‚Ursache’ gar nicht im Objekt, sondern im Unbewussten des von ihm Bewegten zu suchen ist. Andererseits ist die Aktivierung dieses Begehrens, so sehr es auch durch die aktuelle Reifungskrise gefördert und aufgeladen wird, nicht ganz ohne etwas denkbar, das ihm von der Seite der realen Person entgegen kommt, die Objekt des Begehrens wird. Sie muss die Wiederkehr des Wunsches auslösen können, durch ihr Sosein. Derart gibt es doch so etwas wie eine prästabilierte Harmonie zwischen dem Wunsch und dem Objekt, das er besetzt, und das als Begehren das Handeln in Gang setzt, unbeirrbar sogar durch die zu Hilfsfunktionen herab gesetzten intellektuellen Funktionen. Man lese nach, wie der Ich-Erzähler sich sein eigenes Tun ‚erklärt’. Zugleich wirft dies ein Licht auf alle dergleichen Erklärungen, die Menschen ihrem Tun geben. Derart haben die seismographischen Passagen der Selbstbeobachtung oder der Schilderung der Dialoge und der sie begleitenden inneren Monologe oder Dialoge die Funktion einen Kontrast zu schaffen zu dem automatenhaften juristischen Mechanismus, der ‚die Vorgänge’ regiert, die zur Ermittlung der Schuld der späteren Angeklagten führen sollen. Das wird auch deutlich an der nachvollziehbaren Lebendigkeit, die diese Beschreibungen hinterlassen, den Eindruck, es mit wirklich lebenden Personen zu tun zu haben, der in diesen Passagen ungemein plastisch erlebbar wird, während die von dem Ich-Erzähler ausdrücklich hervor gehobene Benommenheit während der Teilnahme an dem ‚KZ-Seminar’ dagegen als eine Art von Lähmung der intellektuellen und affektiven Sensibilität beeindruckt, die der Ich-Erzähler erst durch eine erneute Erkrankung abschütteln kann. Hier wie dort ist die Erkrankung – das psychosomatische Symptom – die Voraussetzung der Durchsetzung des Flusses des Lebens gegen die Erstarrung unter dem Zwang der sich als Kultur einkleidenden Sozialpathologie eines unter dem Schock einer säkularen Dekompensation auf auf ein Zwangssyndrom, ein Klischee regredierten kulturellen Systems, in dem sich das noch verbleibende ‚Leben’ schlafwandlerisch, wie nach einem Unfalltrauma bewegt, während es eine Funktionstüchtigkeit simuliert, per Mimikry, die ihm nur noch aus einer Besinnung zuzuwachsen imstande wäre, die sich durch eine Regression im Dienste des Ich wieder auf die Grundlagen des Lebens besinnt, indem sie sich der Produktivität einer Phantasietätigkeit wenigstens zeitweise und begrenzt, quasi in einer Laborsituation überlässt, die die toten, erstarrten und missbrauchten, um ihren Sinn gebrachten Formen wieder mit einer von den Grundlagen des Lebens bezogenen Sinnlichkeit auflädt, die die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem in der Person des als Kultur existierenden Menschen wieder herzustellen imstande sein könnte.

Nun ist die Wahl eines an den Inzest von Mutter und Sohn anklingenden Grundthemas für die Bearbeitung eines durch die säkulare Dekompensation der europäischen Kultur, deren Strukturmuster sich ja bereits in der Eroberung, Besiedelung und Kolonisierung der beiden Amerika durch die beiden expansiven Varianten der katholisch- hispanischen und der puritanisch-protestantischen angelsächsischen Kulturen ankündigte, die auf dem Boden der Neuen Welt vorexerzierten und erprobten, was sie dann endlich mit Hilfe der von ihnen erzeugten Ableger auf sich selbst, bzw. auf ihre eigenen Populationen anwandten in dem Bemühen, sie entsprechend den Bedürfnissen der sich ausbreitenden Reproduktionsvoraussetzungen zu ‚zivilisieren’ und zu disziplinieren, zunächst kaum mehr als skandalös, provokativ und insofern ‚interessant’ zu nennen. Gewiss, man kann den literaturgeschichtlichen Dokumenten vergleichbare Motive entnehmen und ihrer Interpretation folgen und findet dann vom Gilgamesch‑Epos über die Geschichte des Lot der Thora, die Ödipus‑Trilogie bis zu mindestens Goethes ‚Leiden des jungen Werther’, und endlich bestimmte Romane Alberto Moravias (‚Inzest’) oder Nabokovs (‚Lolita’) Belege dafür, dass auch andere Literaturen bzw. Autoren sich dieses oder wenigstens eines vergleichbaren Motivs bedient zu haben scheinen, weil es Aufmerksamkeit erregt, nicht zuletzt wegen seines anstößigen, das Inzest-Tabu berührenden Grundtons, das den Inzest zwischen Mutter und Sohn zudem mit dem stärkeren Nachdruck belegt angesichts des näheren Verwandtschaftsgrades zwischen Mutter und Sohn, im Vergleich mit dem Verwandtschaftsgrad zwischen Tochter und Vater. Aber das wäre eine zu oberflächliche ‚Begründung’ der Absicht des Autors aus der Sicht einer nicht an das produktive Prinzip des Romans heranreichende rezeptionsästhetischen Perspektive, die das Erlebnis des Anstößigen, des Befremdlichen angesichts der Lektüre unbefragt zur Grundlage eines Urteils macht, das sich über die Quellen des ‚Erlebens’ keine Rechenschaft ablegt. Der Umstand, dass man sich nach dem Sinn einer Konstruktion fragt, die man als befremdlich erleben kann, und dass man dabei auf das Nächstliegende stößt, nämlich die Anstößigkeit, das Befremdliche und Ungewöhnliche, das also zum noch in den Bereich des durch einen zeitgemäßen Tabubruch, eine entschlossene ‚digression’ in den Bereich einer politisch legitimierten Erfahrung wenn nicht von Massen, dann doch von sich zur Sprache bringenden Minderheiten mit öffentlichem Selbstdarstellungsrecht („...und das ist gut so...“) - dies alles reicht nicht aus dazu, es sei denn im Sinne eines keiner Untersuchung standhaltenden common sense, das Erleben einer in diesem geeinten Leserschaft zur Grundlage eines angemessenen Urteils über den Sinn der Wahl des dem Roman unterbauten Grundthemas zu verstehen.

Dieser Grund ist vielmehr in seiner grundsätzlichen anthropologischen (oder sogar über die Gattung hinaus in die Biologie der Säugetiere) hinabreichenden Strukturmerkmal zu sehen, den konstitutiven Charakter gerade dieser Beziehung. Es ist die Mutter/Kind-Beziehung und deren Bedeutung für den Menschen, die Menschwerdung, die ungeachtet des Umstandes, dass sie von der verantwortlich sich fühlenden Politik gerade zugunsten einer Professionalisierung und allgemeinen Politisierung, die ihre Stelle und Funktion einzunehmen sich anmaßt ohne Rücksicht auf die erwartbaren und sich an Symptomen bereits unübersehbar zeigenden Folgen, die in ihrer welt‑ und ich‑konstituierenden Funktion, als elementare anthropologische Grundlage in Anspruch genommen wird, um der durch den Roman zur Darstellung kommenden Erfahrung ihre Glaubwürdigkeit zu sichern, und darüber hinaus überhaupt erst zu ermöglichen.

Es ist die erste, die Welt und Ich konstituierende Beziehung des Kindes zu seiner biologisch-leiblichen Mutter (Es sind lauter Skandale, die hier gegen die von der Politik totalitär besetzten ‚öffentliche Meinung’ sogar der sogenannten Wissenschaft in dieser Sache formuliert werden, das ist klar.), die als wenn nicht uneinholbare, und vor allem, als Liebesbeziehung, nicht als ‚Beziehung’ im Sinne einer mathematischen oder ‚systemtheoretischen’ Funktion oder dergleichen, derjenigen Differenzierung des primären Substrats aller Erfahrung zugrunde liegt, die sich dem späten ‚Bewußtsein’ bzw. Selbstbewusstsein von Menschen als entfalteter struktureller Unterschied von Ich und Welt darbietet, um das Bewusstsein seiner Grundlage und seiner Geschichte verkürzt, also lediglich im Sinne einer einfach vorhandenen bipolaren Struktur, deren subjektives Glied zudem als das am Wenigsten, wenn überhaupt bewusst bedeutsame erscheint. Weil es gerade dem späten Ergebnis seines Wirkens zwar zugrunde liegt, aber zugleich in einer Weise, die sich dem Bewusstsein gewöhnlich entzieht, ist es als eine unbewusste Voraussetzung des bewussten Lebens wenn nicht unerkennbar, so doch der Veranstaltung der Reflexion gewöhnlich am wirksamsten entzogen, insofern sie sich unablässig in einer petitio principio verfängt, die in der Veranstaltung der (versuchten) Durchdringung seiner Grundlagen deshalb misslingt, weil sie das Bewusstsein selbst, seine gesamte Verfassung und Geschichte in einer Weise durchdringt, die ihm aus eigenen Mitteln nicht bewusst werden kann. Dass darin das grundsätzliche Problem der Schwierigkeiten der Reformierung von kulturellen und gesellschaftlichen Apparaturen mit enthalten sein kann, die eingewisses Unbehagen an sich selbst verspüren angesichts eines unabweisbaren Verfehlens der von ihnen intendierten, von allen Beteiligten mit gutem Willen bejahten Zwecksetzungen, mag am Rande interessant sein, insofern das Individuum davon nicht mit betroffen sein muss, wenn es ihm gelingt, den strukturellen Defekten zu entkommen, die solche Systeme aufweisen können ohne sie sich bewusst machen zu können, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Verantwortung, die der Apparat für seine eigenen Ergebnisse zu übernehmen hat, nicht auf ein Individuum abgewälzt werden können, das sich den Auswirkungen des Defekts unter Aufbietung hoher Risiken entziehen mag, deren Konsequenzen schon genügend Aufgaben für die bloß individuelle Selbsterhaltung darstellen mögen. Nicht der der pathologisch-pathogenen Struktur entkommt kann verantwortlich gemacht werden für deren Zustand und Selbsterhaltungserfolge, etwa indem ihm aufgebürdet würde, dafür zu sorgen, dass ihre Wirkungen neutralisiert oder aufgehoben werden, sondern umgekehrt ist das sei es auch singuläre Glück einer durch die Erziehung nicht zerstörbaren basalen, einer Urerfahrung die Grundlage dafür, dass die Übermacht der dekompensierten Struktur, die alles aufbietet um sich zu behaupten, sogar angesichts der hoffnungslosen Ohnmachtserfahrung, die sie dem Individuum als Danaergeschenk beschert, das keineswegs als Gabe begrüßt werden muss, weil es so zunächst auch gar nicht erscheint, sondern als unerklärliche Abweichung der gesamten Organisation der Welterfahrung und der Selbsterfahrung, als u. U. rätselhaftes, unerklärliches und quälendes Erlebnis einer nicht rational fassbaren Abweichung von der kollektiven Erfahrung, so wie sie sich im öffentlichen Raum mit ungeheurer Übermacht eine Geltung verschafft, die als Ausgrenzung, als Außenseitertum subjektiv erfahren wird, als eine angesichts des Betriebes und seiner Verrechnungspraktiken der subjektiven Pathologie des abweichenden Individuums zuzurechnenden Unangepasstheit, also, in der Bilanz einer privativen Bosheit einer ‚schönen Seele’, wie Hegel das am Ende seiner Jugendjahre ausdrückte (Phänomenologie des Geistes), die darauf beharrt, der allgemeinen Ordnung ihre Zustimmung zu versagen und damit sich ihr, die die Wahrheit des Wirklichen repräsentiert, den Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen, das nur als in ihr Aufgehobenes gedacht werden kann.

Den Autor interessiert die Unüberholbarkeit der Welt und Ich konstituierenden primären Beziehung des Neugeborenen, ihre Unüberholbarkeit und vor allem der Umstand, dass sie keine Funktion ist, sondern ausdrücklich eine Liebesbeziehung, deren minimale Merkmale selbst in der defektesten ihrer Realisierungen noch gegeben sein müssen, als Voraussetzungen dafür, dass Ich und Welt überhaupt werden und sind, andres gesagt, dass das Neugeborene nicht einfach – in die Nichtexistenz zurückkehrt.

Der in seiner ‚Abwehr’ durch die Krankheit geschwächte Junge begegnet am Anfang von deren akuter Phase seiner primären Liebe. Die Art, wie die Frau, die ihm hilft, ihm beisteht, aktiviert die unbewusst gewordene ‚Erinnerung’, die sich als das Gefühl des Hingezogenseins aus unerklärlichen Gründen (des ‚je ne sais quoi’, das in der französischsprachigen Literatur eine so große Rolle spielt) manifestiert und keiner weiteren ‚Rationalisierung’ fähig ist, zumal angesichts der kaum vorhandenen Reflexionsfähigkeit des Jungen, die sowohl intellektuell bedingt sein dürften, angesichts seiner Jugend, die ein ausgereiftes Urteilsvermögen nicht erwarten lässt, zumal in einer Kultur, der besonders in dem hier vorliegenden Bereich anhaltend die Urteilsgrundlagen fehlen auch bei den durchschnittlichen Erwachsenen, und die diese, soweit sie prinzipiell vorhanden sind, sogar aktiv anzunehmen und sich zu eigen zu machen verweigert, angesichts der Entwicklungsphase am Ausgang der Pubertät, die die Wirkungen aufhebt, die in die Latenzphase hineingeführt hat am Ende des fünften Lebensjahres, und angesichts der Übermacht des dem Urteil sich entziehenden emotionalen Erlebnisses der Verliebtheit. Als er dem Rätsel in seiner Rekonvaleszenz nachzugehen versucht, verfällt er ihm. Die Feststellung, mit der die Frau sich seiner (des ‚Jungchens’, wie sie ihn selbst benennt) bemächtigt: „Deswegen bist Du doch hergekommen“, ist nur scheinbar evident. Den Jungen beschäftigt vage ein ihm als solches sich darbietendes Rätsel, nämlich die Frage, warum er sich von dieser Frau, die seine Mutter sein könnte (was ja eher ein Hindernis für eine ‚sexuelle Beziehung’ sein müsste) auf diese ihm unerklärliche Weise angezogen fühlt. Da die Pflegehandlungen (leicht erklärlich schon beim Säugling) eine Erektion auslösen, und der Junge selbst seine Empfindung nicht zu deuten vermag, weil er die Grundlagen des Rätsels nicht erkennen kann, ist er dem weiteren Gang der Dinge ausgeliefert. Das muss nicht heißen, dass er unter dem, was mit ihm geschieht, ausdrücklich leidet. Eher ist zu bemerken, dass er sich nicht zuletzt angesichts des Umstandes, das er die Liebesbeziehung einerseits zu genießen imstande ist, dass sie positive Auswirkungen auf seine Schulleistungen, auf seinen ansonsten unverbindlich bleibenden Umgang mit jungen Frauen hat, in das Rätsel deshalb tiefer verstrickt, weil das bewusste Erleben ihm keinen Anhaltspunkt dafür bietet, sich von der Beziehung zu distanzieren, und sogar die Versuche, die er unternimmt, aus einer intuitiven Reserve heraus (Er betritt nicht den Straßenbahnwagen, in dem die Geliebte mit dem Fahrzeugführer, einer Vaterimago, im vertrauten Gespräch zusammensteht, er vermeidet es, den Altersgenossen oder den Eltern und Geschwistern gegenüber etwas zu erzählen) eine Distanz zwischen sich und die Geliebte zu legen, Zeit zu gewinnen, wirken sich insofern gegen ihn, seine Urteilsfähigkeit aus, als sie ihn in Schuldgefühle, in das Gefühl, einen Verrat zu begehen verstricken, ein Umstand, zu dessen Milderung di Geliebte nicht gerade beiträgt.

Andererseits kann man nicht einfach behaupten, dass die Geliebte ‚ein Luder’ ist. Auch ihr ist nicht einfach zu unterstellen, dass sie, obwohl lebenserfahrener als der Junge, genau weiß, was sie in bezug auf den Jungen tut, dass sie aller Folgen bedenkt usw. Sie folgt anscheinend auf ähnliche Weise blind einer ‚Intutition’ wie der Junge. Das ist leicht erklärlich, immer mit Rücksicht auf den auch konstruktiven Charakter der Beziehung der beiden Menschen durch den Autor. Denn auch sie erlebt in einer Liebesbeziehung, sogar ähnlich wie eine Mutter, die einen Sohn, ein Kind geboren hat, die ihr in ihrer eigenen primären Liebe, als Neugeborene, zuteil gewordene Liebe in der Liebesbeziehung zwischen gegengeschlechtlichen Erwachsenen wieder, nur dass hier der Geliebte die Stelle der Mutter einnimmt. Der Autor konstruiert die Geliebte nicht als proletarische Kokotte. Er führt die den weiteren Entwicklungen voraneilenden Antizipationen des Lesers sorgfältig, wenn auch beschränkt auf Andeutungen. Der Junge, der bemerkt, dass das sonstige Leben der Geliebten in ein eigenartiges Dunkel gehüllt bleibt, stößt bei seinen eher neugierigen, durchaus nicht unverständlichen Forschungen auf nichts, das Misstrauen in bezug auf die Treue der Geliebten rechtfertigen würde. Der Streit, der sich zwischen den Liebenden entzündet, entspringt eher einem Missverständnis. Während der Junge den Bahnfahrer eher als Vaterrepräsentanten erleben dürfte, und mit einer gewissen Scheu darauf reagiert, missversteht die Geliebte sein ‚Verhalten’ teils vielleicht als unangemessen misstrauische Schnüffelei, die ihre Treue in Frage stellt, teils vielleicht auch als eine Zurückhaltung gegenüber dem Bekenntnis zu ihr. Das bleibt so unklar, wie die wirkliche Motivlage unter Liebenden in diesen Dingen oft bleibt. Ihre Reaktion darauf ist deshalb – vielleicht - auch so zu verstehen, dass sie ihre Gekränktheit durch sein ‚Misstrauen’ bzw. seine ‚Zurückhaltung’ in den Vordergrund stellt, um ihre eigene Haltung gegenüber der Beziehung auszudrücken, weniger die Beweggründe des Geliebten zu betrachten bzw. wahrzunehmen. Der Junge scheint das auch zu verstehen, indem er, obwohl er meint, nicht verstanden worden zu sein, glaubt, sich einer missverständlichen Auffassung seiner eigenen Beweggründe zu unterwerfen. Unter der Oberfläche dieser Vordergründigkeiten festigt sich indessen das Einverständnis. Das deutet darauf hin, dass trotz der ‚intellektuell’ unbefriedigend verlaufenden Klärung der jeweiligen Verhaltensbeweggründe die Verständigung, also auch der Austausch in den Punkten, um die in Wahrheit geht, gelingt, auch wenn Missverständnisse bleiben, die der Generationenunterschied und der der Lebenserfahrung unvermeidlich besonders dann werden lassen kann, wenn die unbewussten Momente der Beziehung darauf drängen, dass beide Partner den unbewußten Wunsch des Kindes angenommen und in diesem Sinne verstanden zu werden auf jeweils lebensgeschichtlich anders vermittelte Art und Weise zum Ausdruck bringen, ohne dass die ‚Syntax der Interaktion’ eine vollständige Verständigung intellektueller Art zu tragen vermag. Denn so wenig die Geliebte verstehen kann, dass der Junge seine Scheu gegenüber der Vaterimago, die der Bahnführer belebt, dadurch darstellt, dass er in den hinteren Wagen steigt und erwartet, dass die Geliebte ihn aufsucht, da sie ihn doch gesehen hat, so wenig kann die viel ältere und deshalb lebenserfahrenere Geliebte sich eingestehen, dass sie den Eindruck hat, vielleicht aus vermutbaren Vorerfahrungen, dass der Geliebte, der womöglich an ihrer Treue zweifelt, gerade dadurch klar werden lässt, dass sie ihn liebt, obwohl es doch ‚ein Jungchen’ ist. Denn wer liebt kann sich auch darüber ärgern, dass ihm seine – womöglich als riskant erlebte – Abhängigkeit von dem Geliebten bewusst wird. Zumal bei dem eigentlich überlegeneren Partner kann das auch Scham auslösen. Es ist eine subtile Leistung des Autors, dass wir hier auf Vermutungen angewiesen bleiben und insofern, welchen der beiden Partner wir auch ins Auge fassen, ebenso im Vagen bleiben wie die Liebenden – nicht nur in diesem Fall, sondern typisch – in gewisser Hinsicht selbst, während die Auseinandersetzung über diese dabei zutage tretenden Unklarheiten ebenso typisch die Beziehung festigt, weil sie eben doch etwas klärt, und zwar die Grundsätzlichkeit des grundlegenden Engagements. Es ist z. B. bemerkenswert, dass die Reaktion der Geliebten auf das Erscheinen des Geliebten in der Straßenbahn zunächst durchaus als zurückweisende Kälte erscheinen kann, während der Streit, den sie darauf hin mit dem Geliebten hat, als Inszenierung erscheinen kann, die den Sinn hat, den Geliebten zu täuschen darüber, dass er hinters Licht geführt wird, bis man zu ahnen beginnt – aber deutlicher wird es dann auch nicht – dass die Geliebte hier keineswegs als erwachsene Frau mit überlegener Lebenserfahrung und dem Abstand dieser Erfahrung gegenüber der ‚Liebschaft’ mit dem Jungen diesem gegenübertritt, sondern dass in der Tat die ‚Liebe’, also das, was sie bekanntlich bewirkt, technisch ausgedrückt die Überschätzung des Liebesobjekts, und damit eine gewisse Regression des Urteilsvermögens, auch sie erfasst hat, so dass sich hier, für den Beobachter überraschend, insofern er ja das seine nicht beeinträchtigt sehen muss durch die Lektüre, ein Junge und ein Mädchen auf gleicher Höhe gegenüber treten, wobei die Frau Verhaltensweisen zeigt, die im geschlechtsspezifischen Rollenverhalten bei diesem ‚Spiel’, das traditionell typische Phasen der Überprüfung der Ernsthaftigkeit des Anderen durchläuft, dem ‚Schmollen’ entsprechen, also jener Mischlage von Motiven, deren Darstellung die Ernsthaftigkeit der eigenen Absichten und die Kränkung über den Verdacht, sie seien womöglich nicht eindeutig, zugleich derart ausdrücken, dass sie zugleich auch darstellen, dass sie die ‚Eifersucht’ des Partners als einen authentischen, weil unwillkürlichen Ausdruck der eigenen Wünsche gegenüber dem Partner, der Objekt der Eifersucht ist, akzeptieren, so dass die dargestellte Eifersucht – oder das als solche aufgefasste Verhalten – einerseits ebenso erwartet wie als Indikator akzeptiert und gewünscht wird, wie zurückgewiesen werden muss ohne dass dabei Gleichgültigkeit oder Amüsement gegenüber einer gegenstandslosen Verrücktheit zur Darstellung kommt, die einer unerträglichen Demütigung gleichkäme, die die Beziehung zerstört. Das überraschende Aufblitzen dieses sozialgeschichtlich veraltenden Geschlechtsrollenspiels, das der wechselseitigen Überprüfung der Motive dient, wird in der Literatur ja gerade auch von Kokotten oft simuliert (Vg. etwa ‚Eine Liebe von Swann’, aus der Recherche Du Temps Perdu von Marcel Proust) gerät dann aber zu dem Zynismus, vor dem der Autor seine Heldin hier gerade dadurch bewahrt, dass er es durch die ansonsten ungemein souverän und kontrolliert wirkende Verhaltensoberfläche ganz unvermittelt brechen lässt, als irrationale und gerade dem Jungen deshalb intellektuell – zumal an eine Mutterimago – unverständlichen, intuitiv aber in seiner Bedeutung dann doch ganz klaren Episode, die den Ich- Erzähler zu dem Resümee bringt, dass das ‚eigentlich’ nicht verständliche Unvermögen der Geliebten, seine Gründe zu verstehen, dennoch auch ihn zufrieden stellt, indem er nachgibt, obwohl sie ihn notorisch falsch versteht.

Derart gehen also die auf anderes, auf die gewöhnliche Sensation mit pornographischem Einschlag, etwa in den verbreiteten Beziehungsseifenopern, und den dort vorgeführten intriganten ‚Bäumchen-wechel-dich-Spielchen’ aus dem ‚Standardballet’ zielenden Antizipationen ins Leere. Weder wendet sich der Junge dem gleichaltrigen Mädchen zu, das seine Banknachbarin wird, noch hält sich die Geliebte neben dem sorgfältig gepflegten Ritual der Liebe, das sich typisch als Pflegeritual abspielt, in dem ein Kind gebadet wird, und sich dann den genitalen, also reiferen Formen des sexuellen Genusses zuwendet, und auch einem Lernvorgang entspricht, wenn der Ich-Erzähler z. B. davon spricht, dass er von der Geliebten lernt, auch sie, wie sie ihn in Besitz zu nehmen, einen anderen Geliebten oder gar mehrere.

Es ist das Ausbleiben, das Abgleiten dieser immerhin möglichen Antizipationen einer alsbald zu erwartenden Enttäuschung oder ‚Erkaltung’ eines der beiden Partner, der die Absicht des Autors deutlich macht: In der ganz unwahrscheinlichen Konstruktion einer ungetrübt geglückten intergenerationellen Liebesbeziehung zwischen Partnern, deren älterer gegen die gewohnten Konstellationen, die das Umkehrte eher wahrscheinlich machen und in einem gewissen Grade auch sozial akzeptiert, wenn auch kopfschüttelnd missbilligt, die Frau ist, zugleich die positive Liebeserfahrung der primären Liebe beider Partner über die erwartbaren Missverständnisse souverän siegen zu lassen, um jedes mögliche Missverständnis für den weiteren Fortgang der Dinge auszuschließen. Zugleich wird dem Ich-Erzähler damit eine besondere Chance geboten, die Entwicklung des Fortgangs der Dinge auf dem Hintergrund dieser unüberspielbaren Erfahrung und ihrer Gegenwärtigkeit, die also nicht dem ansonsten für die Lächerlichmachung der ‚Blindheit der Liebe’ durch die ihr sich überlegen fühlende Promiskuität missbrauchten Sachverhalt der Projektion aus einer unerkannten Problemlage der infantilen Entwicklung entstammt, sondern eine unmissverständlich präsente Erfahrung darstellt, auch wenn und gerade weil sie auf das Potential der primären Liebe zurückgreift und mit ihm verschmilzt.

Ein Anhaltpunkt dafür ist auch, dass der Ich-Erzähler, der sich nun schuldig fühlt an einem Verrat der Geliebten, weil er die Beziehung geheim hält, aus der ‚Intuition’ heraus, dass es die Geliebte ist, die ihre Reserve nicht aufgibt, was sein eigenes Verhalten unvermeidlich in der Schwebe halten muss, das halluzinatorische Erlebnis des Erscheinens der Geliebten im Schwimmbad hat, wo er sich mit seiner Clique, der Altersgruppe trifft, auf einem Terrain also, auf dem sich das altersgerechte Interesse am anderen Geschlecht - wir lassen die modernen Spezialitäten einmal außer Acht, weil sie wenigstens hier nicht sachlich von Belang sind – die Wirklichkeit eines unbefangenen Spiels am Rande des Ernstfalls geben kann. Aber der Autor und auch der Ich-Erzähler mit ihm beschreiben da ein Ereignis zwar ohne Zweifel, aber ein Ereignis, von dem man nicht weiß, auf welchem Terrain es sich eigentlich abspielt, wenn man nicht das Schwimmbad mit der Bühne verwechselt, auf der es inszeniert wird. Es ist aber nicht die Frage, ob die Geliebte im Schwimmbad erscheint, damit also zu erkennen gibt, dass sie nun ihrerseits ihre Reserve aufzugeben bereit ist, sondern ob es sich in der Phantasie des Ich-Erzählers oder in der sozialen und physischen Realität des Ich-Erzählers abspielt. Denn in beiden Fällen kann es die Elemente dieser Realität ebenso benutzen wie das etwa in einem Traum der Fall ist, oder einer Halluzination, mit dem Unterschied, dass der Traum den Wunsch des Träumenden erfüllt, während das Ereignis der Realität auch die Gegenstände als eigenständige wirklich sein lässt. Der Autor siedelt dieses Ereignis qua Konstruktion unentscheidbar auf der Grenze zwischen der Halluzination und der Realität derart an, dass eine Realitätsprüfung nicht vorgenommen werden kann. Man kann das, zumal es genau an dem Punkt angesiedelt ist, an dem die Geliebte ebenso plötzlich wie ‚unmotiviert’ verschwindet, als Beleg für die Verschmelzung der Identitäten betrachten, die der Autor dem Leser als Indiz der gelingenden Liebe verständlich machen will.

Man kann spüren, wie der Ich- Erzähler ‚kentert’. Der Verrat, den er glaubte begangen zu haben, ist nun an ihm begangen worden, als Rache für den seinen? Ist das Verschwinden der Geliebten auf eine Zurückweisung durch ihn, seine Hinterhältigkeit, seine Unentschlossenheit zurückzuführen? War die Episode in der Pension, wo sie plötzlich auf ihn einschlug, und leugnete, den von ihm hinterlassenen Zettel gesehen zu haben, ja sogar, dass er überhaupt existierte, eine geplante Infamie, um ihn zu verwirren, der Schlag mit dem Gürtel ein Ausbruch einer abgründigen Bestialität, die sich in der Art ihres Verschwindens brutal bestätigte und vollendete?

Wir erfahren wenig über die Gefühle des Ich-Erzählers. Er ist offensichtlich wie betäubt. Seine Erzählung erscheint im weiteren Fortgang – ein Umstand, der nun auch auf den bereits erzählten Teil der Entwicklung zurückzuschlagen scheint, und als Eindruck einer merkwürdigen Sachlichkeit erscheint, gemessen daran, dass die betroffene Person zu erzählen scheint – auch von einer nüchternen Sachlichkeit geprägt, die erst dort in eine Art von plötzlichem Entsetzen umzuschlagen vermag, wo mit derselben Sachlichkeit sich die Möglichkeit abzuzeichnen scheint, dass die Mitschülerin, die ihn damals anlächelte, und die er mit einer ihr unerklärlich bleibenden unverbindlichen Höflichkeit zurückwies, ohne dass sie sich hätte begründen lassen durch die an ihm etwa wahrzunehmende pubertäre Unreife, deren Fehlen ihn ja ganz deutlich wahrnehmbar für sie von seinen Klassenkameraden unterschieden hatte, diese unerklärliche Zurückweisung ihrerseits mit einer Krankheit beantwortet hatte, die sie mit ihm wieder zusammenbringen musste, so wie er durch den Beginn einer Krankheit auf seine Liebe gestoßen war, und die angesichts des Erlebnisses, das sie dann hat, als die versucht herauszufinden, ob ihre Frage eine Antwort finden könnte, auf die Wahrheit seines Zustandes stößt, der ihm verborgen bleibt, so dass der Autor sie aussprechen lassen muss, angesichts der Beschädigung, die sie bei diesem Versuch davonträgt, ihren eigenen Wünschen mit ihm eine Erfüllung zu geben, dass und wie er selbst beschädigt erscheint, eine Beschädigung, die er wie ein Gift verbreitet, wo sich ihm ein Mensch auf die kurze Distanz der Privatheit, der Intimität nähert. Dieser Umstand wird betont angesichts des Scheiterns seiner Ehe, eigentlich des schattenhaften Verschwindens aller seiner sozialen Beziehungen einschließlich der engsten Familienbeziehungen und auch der Tochter, des einzigen Kindes, das er hat. Alle diese sozialen Beziehungen verschwimmen wie in einem sich beständig verdichtenden Nebel, den das Rätsel erzeugt, das sich um die Existenz und das Verschwinden der Geliebten undurchdringlich gewoben hat.

Da taucht sie wieder auf. Man muss voraus schicken, dass die ungemein sorgfältige Vorbereitung dieses Wiedererscheinens das Weitere überhaupt erst verständlich und auch plausibel, wahrscheinlich erscheinen lassen kann. Die Peripetie, die den Umschlag ins ganz andere bringt, den Schauplatz auf eine öffentliche politisch-soziale Bühne verlegt, in der es keine Körperlichkeit gibt, keine Berührung, in diesem Sinne also gar keine Materialität, bildet den stärkst möglichen Gegensatz zu der Intimität, der Körperlichkeit, und in diesem Sinn der Intensität des physisch, des körperlich-animalisch vermittelten Erlebens der gegengeschlechtlichen Kommunikation, der den Schauplatz der Liebe bildete.

Das wird verstärkt durch die Rollenverteilung. Der angehende Jurist und möglicherweise Richter oder Staatsanwalt, dessen wissenschaftliche Sozialisation in einem Rahmen verläuft, indem Handlungen objektive Bedeutungen zugewiesen worden sind, die sie nach forensischen Kriterien einteilen und bewerten, ist der Ich-Erzähler auf der Seite derer, die bewerten, die Bedeutungen zuweisen. Das ist ein vollständiger Gegensatz zu der Intimität der Liebesbeziehung zwischen den Liebenden, wo sich gerade die Wortbedeutungen gegenüber dem existentiellen Sinn des Austauschs, der stets nur den unmittelbar anderen meinte, als weitgehend gegenstandlos erwiesen hatten. Die Sprache diente hier einer nur zufällig mittels ihrer übermittelten Bedeutung des kommunikativen Austauschs. Die Geliebte ist Angeklagte auf dem Schauplatz eines Gerichtshofs, auf dem zunehmend die nachfolgenden Generationen, angeleitet durch die Bedeutungen, die ihre Lehrer für den sozialen Zusammenhang erfunden und gelehrt haben, Bedeutungen, die sorgfältig mit den Berichten über die Handlungen der zu beurteilenden Elterngeneration angereichert eine affektive Unterfütterung erhielten, die zu zuverlässigen Reaktionen von hinreichend generalisierter sozialer Stabilität geführt hatten, und diese sicherten, aber den Preis von Abstraktionen kosteten, die um der politischen Korrektheit willen das biographische Schicksal von Menschen als Individuen desto mehr außer Acht lassen mussten, je mehr und desto besser ihre Abstraktheit ihre soziale Generalisierbarkeit garantierte.

Plötzlich trennt auf dieser Bühne die Geliebten die Abstraktion. Es ist paradox, dass das Konkrete an der Liebesbeziehung um den Preis der Abstraktion von der biographischen Geschichte erst ermöglicht wurde, während die Konkretion, auf die die öffentliche Bühne sich stützt, durch die Abstraktion von der Liebe und der von ihr vermittelten, ermöglichten Sinnlichkeit (in Sinne von Sensibility), also im Sinne sinnlich-körperlich-ästhetischer Wahrnehmung des Anderen realisiert wird. Es liegt hier also in gewisser Weise eine Umkehrung des Problems vor, dass Hegel anspricht in der Form der Frage: Kann ein Mörder schön sein?, so dass es entsprechend heißen müsste: Kann die Schönheit einem Verbrechen als Maske dienen?

Diese beiden, derart einander entgegen gesetzten Erfahrungsfelder sind auf keine Weise miteinander vermittelbar. Andererseits existieren sie nicht nur nebeneinander in der sozialen und intergenerationellen Wirklichkeit der menschlichen und der Kulturgeschichte, sondern sie sind mit dem Vorrang, der die Existenz von Menschen als Gattungswesen voraussetzt, auch auf eine Weise miteinander vermittelt, die sich ohne einen gewissen Vorrang der primären sozialen Beziehungen nicht denken lässt, die ihrerseits auf der genetischen Potenz der Gattung, ihrer Zweigeschlechtlichkeit und dem, was eine moderne Abstraktion in Verkennung des wirklichen Umfangs ihrer Bedeutung für das wiederum davon abstrahierte sogenannte ‚Emotionale’ und ‚Kognitive’ bzw. ‚Soziale’ ihre ‚Sexualität’ nennt, beruht. Der beobachtbare Versuch, durch technische Veranstaltungen diesen ‚öffentlichen Bereich’ von dieser Grundlage um den Preis der Zerstörung ihrer inneren Einheit abzulösen und zu verselbständigen, entspricht dem Versuch, das dadurch bewirkte Übel zu heilen indem sich das erzeugende Prinzip dieses Übels immer weiter ausbreitet und alles zu erfassen versucht, was ihm noch nicht unterworfen ist.

Die Leistung der Konstruktion, die dem Roman zugrunde liegt besteht darin, dies auf dem Hintergrund der Konstruktion des ersten Teils nun zeigen zu können. Dieser erste Teil konstruiert eine perfekte Dyade menschlicher Beziehungen nach dem unüberholbaren, aller Entwicklung eines Individuums zugrunde liegenden Muster der primären Liebe, bis zum Verschwinden der Geliebten. Von diesem Moment an erfüllt diese Konstruktion ihre Funktion durch die Abwesenheit, die sie sichtbar macht, die Leerstelle, um die sie kreist – im Nebel des Bewusstseins, in dem der Ich-Erzähler umherirrt, bis die Geliebte wieder auftaucht, als Angeklagte in einem der Prozesse um die Konzentrationslager des Dritten Reiches konzentriert sind, im Rahmen der politisch gewollten oder auch vorgeschriebenen ‚Vergangenheitsbewältigung’.

Anthropologisch gesehen liegen dem Generationenverhältnis, dem intergenerationellen Verhältnis der damit Bewältigten und ihrer Bewältiger das zuerst beschriebene Muster der Dyade zugrunde. Das Problem, in welcher Funktion und Rolle, mit welchen unbewussten mehr als den bewussten Mustern die Frauen an dem Problem der Genese der säkularen Dekompensation der europäischen Kultur beteiligt sind, ist kaum je wirklich angesprochen oder auch nur im Ansatz mit Erfolg bearbeitet worden. Das schwache Geschlecht hat nur gelitten und bedarf dringend der Gleichstellung – im Arbeitsprozeß des industriellen Feudalismus, der das Arbeitskräftepotential entdeckt hat und nutzen will, das darin steckt, zumal es gewöhnlich für weniger Geld eingekauft werden kann! Dass es auch Männer erzeugt hat und Frauen, dass dies aus der gut untersuchten Bedeutung der ersten fünf traditionell unter der Aufsicht der Mutter verbrachten Jahre der frühen Kindheit eigentlich so zwanglos hervor geht, dass es nahe liegen müsste, die Konsequenzen daraus zu ziehen, und das wissenschaftliche Interesse darauf zu lenken, entgeht ganz offensichtlich einer politisch gelenkten Wissenschaftlichkeit, die eher ein Interesse daran zeigt, eine Politik zu unterstützen, die das ganze nach Möglichkeit in einer verstaatlichten Erziehung zu lebenslangem Lernen auflöst, und damit den Teufel mit dem Beelzebub austreibt. Denn die unerkannten Strukturen retten sich personell in die eilends zusammen gezimmerte Niedriglohnprofessionalität und amalgamieren mit den nach Laune und entsprechend den Interessen an der ‚Qualitätskontrolle’, sprich: den Einsparpotentialen manipulierten, politisch-administrativ manipulierten bürokratischen Strukturen und ihrer Anonymität zu Sozialisationsmonstren, die auf lange Sicht unkontrollierte Ergebnisse produzieren müssen, insofern sie die ungemein komplexe, latente, also auch nicht erkannte Funktionen ausübende, über die Gattungsgeschichte weitgehend stabile, und leidlich funktionstüchtige Institution Familie (konstituiert durch ihr Minimum von zwei gegengeschlechtlichen Erwachsenen und einem genetisch aus ihnen hervorgehenden Dritten, dem Nachkommen) durch halbgebildete Konzepte substituieren, die sich eine Politik ausdenkt, die zunächst die Familie systematisch zerstört und die dadurch verursachten Beeinträchtigungen der genetischen Potenz einer Population, die von ihrem kollektiven Selbsterhaltungsorgan, dem Staat, gegen dessen elementaren Funktionssinn in ihrer Selbsterhaltung systematisch beeinträchtigt wird, dadurch kompensiert, dass sie als Antwort darauf Bevölkerungsimport betreibt aus Populationen, deren basale soziale Strukturen noch relativ intakt sind, und das verbale Aufbegehren gegen den heimlichen Staatsstreich, der in der Umfunktionierung des Staates gegen seinen Existenzsinn und seine politische Legitimation durch die die von der Verwaltung ermächtigte Politik zu sehen ist, als ‚Fremdenfeindlichkeit’ öffentlich mit allen Mitteln der politischen Propaganda diffamieren, mit Unterstützung der gesamten Bildungs‑ und Erziehungselite.

Angesichts der Zensur ist dieses Problem kaum öffentlich ansprechbar, zumal es dazu einer Bildung bedarf, die nicht durch die öffentlichen Zensuren des ‚Bildungssystems’ und die politischen Kontrollen der Personalrekrutierung beeinträchtigt ist. Es ist aber verschlüsselt darstellbar. Das ist die Leistung des Romans. Die an der offiziellen Departmentalisierung der Fächer brav orientierte Bewusstsein wird als ‚amüsante Literatur’ lesen (vergleiche den Klappentext), was sich offiziell hinreichend konform so verkleidet, dass das an der Oberfläche entlang rutschende Bewusstsein seine Befriedigung findet, und seine Berechtigung, dass tiefschürfende Analysen nicht verbindlich sein können angesichts der erneuten Bewährung der Oberflächlichkeit des Verständnisses, das sein Verständnis von ‚Tiefe’ aus seiner eigenen Verfassung bezieht und es dann anderen als deren Hang zur Bedeutsamkeit, zur Projektion fremder Gedanken auf eine unschuldige Oberfläche andichtet, an der sich ihm selbst nichts derart ‚Tiefsinniges’ zeigt, was als Beweis dafür dienen kann, das es dergleichen eigentlich überhaupt nicht geben kann, und wenn, dann bestenfalls als eine Meinung unter anderen. In dieser Weise gibt die List der anerzogenen Dummheit recht und belässt ihr ihren Anspruch auf das angestrengt Erworbene und gründet darauf den Erfolg der eigenen Selbsterhaltung. Der Preis dieser Technik der indirekten Mitteilung, die dem Adressaten die Wahl lässt, wie er verstehen will oder ob überhaupt und ob nicht vielmehr sogar ganz anderes als das Gemeinte, das sich in einer Mitteilung verschlüsseln lässt, ist die offizielle Teilhabe und Anpassung an die Unverbindlichkeit, die immerhin ein Überleben der signifikant abweichenden Individualität unter Umständen einer sei es auch in pluralistischer Indolenz offizieller Meinungsfreiheit eingekleideten Intoleranz ermöglicht, wenn auch um den Preis der Ignoranz gegenüber dem Gemeinten, das sich nur deshalb öffentlicher Anerkennung erfreuen kann, weil und solange es sich dem Anspruch anbequemt, nicht so deutlich und penetrant zu werden, dass das systematische oder zufällige Missverständnis nicht auch noch als eine mögliche Interpretation, als Verständnis der Sache durchzugehen vermag. Das gilt zwar ohnehin nur jenseits des Reiches der Entscheidungen der Macht, die sich auf anderes stützen als die öffentliche Rede, zu der die entsprechend angepasste noch Zugang erhält, also im Bereich der Gattung ‚Kunst’, der dadurch entsteht, dass das dort Produzierte um den Preis der Akzeptierung des Etiketts der Unverbindlichkeit sich auf eine Lockerung der sonst geltenden Zensuren berufen darf, wenn das Problem der Zulassungskriterien auftaucht aufgrund der Beschaffenheiten der Mitteilung, weniger ihres Wesens.

Das wäre u.a. in dem Problem zu suchen, warum der Ich-Erzähler an jedem Versuch scheitert, einen bürgerlichen Beruf im Rahmen der arbeitsteilig organisierten und eingeteilten Berufsgruppen zu ‚ergreifen’ und sich schließlich in einer Nische einrichtet, indem er sich mit Rechtsgeschichte befasst.

Aber man muss nicht wirklich suchen, so als habe da einer einen Schatz versteckt und die Schatzkarte, die den Weg dazu weist, in verschiedene Teile zerstückelt und an verschiedenen Orten versteckt, wo man sie zunächst erst finden muss, bevor man sich an die Rekonstruktion der Mitteilung machen kann.

Liest man die Mitteilung als Kurznachricht, dann verschlägt es einem den Atem. Es mag verschiedene Formulierungen für sie geben. Sie könnte also lauten: „Ich entdeckte, dass die angeblich zertrümmerte Maschinerie, die in Auschwitz gearbeitet hatte, in nur oberflächlich veränderter Form an seiner Bewältigung arbeitete, also keineswegs eine nur noch zu bewältigende Vergangenheit, sondern eine bestenfalls in ihrer Oberflächenerscheinung, in ihrer phänomenologischen Ordnung fortexistierende Gegenwart ist.“

Das ist allerdings auch eine Abstraktion. Der Autor lässt sie nicht als ‚Aussage’ des Romans zu. Er zeigt ja einen exemplarischen Weg, die Perversion durch Abstraktion vor dem Hintergrund einer als Erfahrungshorizont durch den disziplinierenden ‚Modernisierungsprozess’ zerstörten Sinnlichkeit der Erfahrung sichtbar, erkennbar, erfahrbar werden zu lassen, der u.a. auch als Nationalsozialismus empirisch auftrat in seiner Funktion der Liquidierung der kulturellen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, die als Grundlagen für die Legitimation eines Widerstandes der Individuen dienen konnten, der der Rationalisierung der menschlichen Lebenswelt durch die bürokratisch vermittelten Interessen im Wege gewesen ist.

Hier kann man eine Zwischenbemerkung einschieben, die wiederum ein konstruktives Merkmal des Romans hervorhebt: Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass die Erzählung eine duale Struktur hat. Während der erste Teil der Konstruktion der Beziehung der primären Liebe diente, ist der zweite Teil durch die Beschreibung des Prozesses und seines auf die Ebene der nunmehr ganz anderen, gewissermaßen schwer kontaminierten und derart vollständig gewandelten Beziehung zwischen den Liebenden konzentriert, also, anders gesagt, der Beschreibung der Beziehung im Medium eine Öffentlichkeit, die im Wesentlichen durch den Prozess, die juristischen Prozeduren und das forensische Interesse mediatisiert ist. Daran kann klar werden, dass die Heimlichkeit der Beziehung, ihre beinahe perfekte Isolation vom Lebensalltag der posttraumatischen Epoche des Gemeinwesens, das die beiden Protagonisten umgibt, mindestens auch Stilmittel ist, und im Fall des Ich-Erzählers vielleicht sogar gegen sein schlechtes Gewissen, das ihm diese Heimlichkeit, dieses instinktive Verbergen, diese Abschirmung anstößig erscheinen lässt, auch ein unbewusstes Wissen davon, dass die Beziehung die Veröffentlichung nicht überleben könnte, nicht, wie er meinen könnte, weil die Anstößigkeit der Assoziation mit der dyadischen Mutter-Kind-Symbiose, die auf der Ebene einer ‚sexuellen Beziehung’ unter geschlechtsreifen Individuen an das Inzesttabu rührt, der öffentlichen Missbilligung nicht standhielte, sondern wegen der grundsätzlichen Vergiftung aller zeitgeschichtlichen Medien der Alltagskommunikation mit den Folgen des kulturellen Traumas, die das intuitive Wissen um eine mit der Veröffentlichung verbundenen unklaren Gefahr konstituiert. Darin stimmen denn also der Ich-Erzähler aus intuitiven Gründen der Wahrnehmung der Schutzbedürftigkeit der symbiotisch-dyadischen Liebe, der Natürlichkeit ihrer – unter Erwachsenen nicht auf Dauer geduldeten – Abschirmung, und der Autor mindestens aus konstruktiven Gründen überein. Das Interim zwischen dem Verschwinden der Geliebten, das den ersten Teil der Erzählung bzw. die in ihr untergebrachte Struktur von dem zweiten Teil bzw. der in ihr untergebrachten Struktur trennt, entspricht einer Latenzphase, in der einerseits die Folgen der Trennung erscheinen können, und andererseits der Ich-Erzähler eine Reifung seines Urteilsvermögens durchmacht, das das gesamte Erlebnis – die Liebe und die Trennung - so oder so zu einem Moment seiner Persönlichkeit werden lässt, sowohl was den Aspekt der Erfüllung bzw. der Wiederholung der primären Liebe betrifft als auch, was das an ihrem Ende stehende Trennungstrauma betrifft, dessen Beschreibung sich durch die gesamte weitere Erzählung zieht, von der verfehlten Jugendliebe – der Schulkameradin, mit der er verzweifelt doch noch zu realisieren versucht, was beiden, wie sie erkennen müssen, versagt bleibt – konstatiert wird, wenn sie den Ich-Erzähler fragt: „Mein Gott, was ist mit dir passiert?“, seine Ehe scheitern lässt und auch die Beziehung zu der endlich wieder gefundenen Geliebten irreversibel kontaminiert. Man kann deutlich die im Prinzip duale (dyadische) Struktur der Konstruktion erkennen: Die beiden einander entgegen gesetzten Strukturen der symbiotischen Liebe zweier gegengeschlechtlicher Menschen im ersten, die Beziehung der sich wieder findenden Geliebten im Medium der zeitgenössischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Die erste Struktur ist ihrerseits dualistisch (dyadisch), indem sie in die gelebte Liebesbeziehung, die eine primäre wiederholt einerseits, die traumatische Trennung und die Versuche der Kompensation des Traumas – in der scheiternden Ehe, die eine Tochter, ein traumatisiertes Kind hinterlässt, und der vergeblich nachgeholten ‚Jugendliebe’ – also sich in immer wieder ‚auseinander fallende’ duale Muster zerlegt, die Struktur der wiedergefundenen Liebe in den Prozeß, eine traumatisierende Erfahrung, die die ‚Anpassungsfähigkeit’ des Ich-Erzählers an die Berufswelt zerstört - weil sie ihm die Augen öffnet für die kollektive Psychose, die sich darin ‚flächendeckend und nachhaltig’ organisiert, etwa entsprechend einer Abwandlung einer Bemerkung Bert Brechts über die Dummheit, mit der die den Roman beherrschende Darstellung einer gegen ihre Wirkungen, wenn auch um einen aberwitzigen Preis gelungene Reflexion eines Syndroms, das so vieles schlimmer ist furchtbarer ist als die Dummheit, etwa im Sinne von bloßer zufälliger Unkenntnis, deren prinzipielle Behebbarkeit nicht vergleichbar ist mit den Folgen einer posttraumatischen Psychose, die einfach als neues Kultur‑ und Zivilisationsniveau institutionalisiert wird und sich mit den Überresten einer an den Alltagsphänomenen sich festhaltenden Fortschrittsideologie umgibt, um den tatsächlichen Zustand einer Kultur zu kaschieren im Sinne einer psychologischen Rationalisierung, einer Bemerkung, die lautet: „Die Dummheit macht sich dadurch unsichtbar, dass sie riesige Ausmaße annimmt.“ – und die wiederum posttraumatische Weiterentwicklung der Beziehung nach der Verurteilung der Geliebten, also der erneuten Trennung der Liebenden. Ein anderer Dualismus wiederholt sich in den beiden Hauptstrukturen, der Dualismus der unmittelbaren Sicht aus dem Erlebnis und der Erfahrung der direkten Beziehung der beiden Protagonisten einerseits, und der – im ersten Teil der Erzählung gewissermaßen nur als an zwei tangentialen Berührungspunkten (der Straßenbahnfahrt und dem Schwimmbaderlebnis) – eher als Gefahr erscheinende Auflösung der strikten Trennung der heimlichen Liebe von der umgebenden Alltagswelt, bei der diese aus der Innensicht der Beziehung der Liebenden heraus gesehen und beurteilt wird einerseits, und der Öffentlichkeitszwang im zweiten Teil, der die Perspektive, die den ersten Teil der Erzählung eindeutig dominiert, marginalisiert und quasi abrutschen lässt an der Übermacht der Gewalt des öffentlichen Prozessgeschehens. Wiederum entspricht hier der innere Dualismus zunächst der Anonymität des Geliebten im Gegensatz zu der Vorführung der Angeklagten auf der grell ausgeleuchteten öffentlichen Bühne, um nach dem Prozess in den Dualismus der getrennten Lebensführung des Geliebten jenseits und der Geliebten diesseits der Grenzen einer totalen Institution überzugehen, die wiederum den beiden Protagonisten umgekehrt erscheint, indem der Ich-Erzähler genau genommen zu erkennen gibt, das er die ihn umgebende Welt als sei es auch heimliche totale Institution mit verstehbaren Gründen erlebt, die ihm die Geliebte durch ihre Verurteilung und Gefangensetzung noch weiter entzieht, während, wie sich zeigt angesichts des Selbstmords der Geliebten im Moment ihrer Entlassung, diese den Entzug der Freiheit eher als eine Art sich in Sicherheit zu bringen verstanden haben muss, so etwa wie sich das an Käfigvögeln oft beobachten lässt, die es eher beunruhigt, wenn man ihnen die äußeren Begrenzungen wegnimmt, und bestenfalls im nächsten Baum verhungern, wenn und weil sie nicht mehr an ihr Futter gelangen können.

All diesen ineinander verschachtelten Dualismen ist indessen eine absolute Singularität übergeordnet, die die gesamte Dynamik der ansonsten ja zur Starre verurteilten Konstruktion, ihren Motor ausmacht und in Gang hält, die also zugleich Beweggrund und dessen Hebelwerk ist. Das ist der Analphabetismus der Heldin, ihre Unkenntnis der Schrift.

Während hier wiederum der Autor die Konstruktion derart durchführt, dass er in erkennbarem, wenn auch nicht notwendig bewusstem Anklang an die Metaphorik der Erkenntnis, die die Wahrheit quasi allegorisch als ‚nackt’ – und vom Geschlecht her nicht nur begehrenswert, sondern begehrenswert aus der Perspektive des zu ihr hinstrebenden Mannes und gemäss dem zugehörigen Artikel weiblich - vorstellt, und auch damit an die unterschwellige gegengeschlechtliche Dynamik in den ‚Akten der Erkenntnis’ anschließt, auf die es hier ankommt, derart auch an die Sprache des biblischen Hebräisch, das den geschlechtlichen Akt als Erkenntnisakt jenseits der Stalltierpornographie seiner öffentlichen Darstellung, die einen animalischen Vorgang wiedergibt, den ersten Teil der Erzählung dem zweiten als die für das Verständnis des Ganzen vorrangige Struktur zugrunde legt, im Sinne also nicht eines erzähltechnisch, und damit zeitlich Ersten, sondern als Untergrund, auf dem die Figuren der Strukturen des zweiten Teils, dann aber darüber hinaus das Ganze verständlich wird, auch die jeweils den Teilmomenten der Konstruktion zugewiesene Rangfolge, ist es doch andererseits wieder derart konstruiert, dass erst in dem Moment, in dem im zweiten Teil der Erzählung der Ich-Erzähler das Rätsel der Sphinx tatsächlich löst, indem er erkennt, dass es ‚die Unkenntnis der Schrift’ ist – eine zugleich hochsignifikante Metapher! – die das Leben der Protagonistin bestimmt, auch die den ersten Teil, der strukturell der Darstellung der Allegorie der ‚nackten Wahrheit’ folgt, zugleich aber auch die ödipale Situation konstituiert, die das Rätsel der Sphinx stellt, beherrschenden Rätsel, das im Schein der nackten Wahrheit der Unmittelbarkeit einer symbiotischen Verschmelzung irritierend, und endlich mit auflösender Wirkung in sie eintritt, in Verstehen auflösen. Zugleich ist damit gemäss der Dynamik des Mythos die Notwendigkeit des Todes der Sphinx gesetzt. Das mag aufgeklärter Unverbindlichkeit und Beliebigkeit wiederum als bestenfalls ‚rätselhafter’ Hokuspokus erscheinen. Man kann das zunächst dahin gestellt sein lassen. Der Leser soll auch selbst noch etwas zu tun haben.

Dieser antiken griechischen Metaphorik der Wahrheit, die die Struktur des ersten Teils der Erzählung vervollständigt, stellt der Autor konstruktiv im zweiten Teil wiederum die prozedurale Logik des forensischen Wahrheitsbegriffs des Gerichtsverfahrens, bzw. die methodisch-logische Verfahrensweise der modernen Wissenschaften bzw. ihre Metaphorik gegenüber. Es kann kein Zweifel daran sein, dass der den institutionellen Kontext, die organisierte Struktur als korrupte Maschinerie erkennt, die gerade indem sie die ihr scheinbar nicht zugehörigen Bedingungen ihrer Möglichkeit in den seelisch-intellektuellen Voraussetzungen der von ihr genutzten, rekrutierten Menschen einfach ignoriert, einerseits, andererseits aber wieder durch die Technik ihrer Rekrutierung, die ja entlang von letztlich politischen Vorgaben erfolgt, die zudem durch die Zweckzurichtungen der Organisationen, durch die in ihnen ausdrücklich beabsichtigte Stabilisierung überpersönlich-geschichtlicher Kontinuität, die sich sowohl in den Personalentscheidungen als auch in der gesamten Struktur der Institution ausdrückt und niederschlägt, für eine Kontinuität vorsätzlich sorgt, deren Effekte ihr dann wieder als gleichgültig erscheinen müssen angesichts der in sie eingebauten Fiktion reiner Zweckrationalität ihrer Verfahren und Funktionen, selbst dazu beiträgt, dass diese seelisch-intellektuellen Voraussetzungen ihres Funktionierens es sind, also das Unerhebliche, das auf fatale Weise dafür sorgt, dass sie den Zwecke nicht zuletzt gerade ihrer praktischen Selbstreflexion – in Form der Naziprozesse – verfehlen muss, so wie letztlich den Zweck jedes anderen selbstbezüglichen Reformprojekts.

Es ist zu erkennen, dass hier durchaus keine reine Symmetrie der wechselseitigen Beleuchtung des Wahrheitsbegriffs der einen Struktur durch die andere vorliegt. Der erst und ihrer Wahrheitsfähigkeit scheint der Vorrang gegenüber der zweiten eingeräumt zu sein. Der Wahrheitsbegriff der unmittelbaren Evidenz scheint vor dem prozedural-logischen, forensisch-methodischen zu rangieren. Man muss aber sehen, dass der Ich-Erzähler wie gelähmt ist im Anschluss an den Prozess und seinen Ausgang. Als sich das Rätsel löst und er den beide Strukturen übergreifenden Zusammenhang des ‚Verhaltens’ als sinnvoll zusammengehöriges Handeln der Geliebten erkennt und sich zugleich das Rätsel rekonfiguriert – indem nun die Frage ihrer wirklichen Schuld im Sinne des geltenden Realitätsprinzips doch wiederum gänzlich offen bleibt, kann er sich der nunmehr als verurteilter Verbrecherin in einer Haftanstalt gefangenen Geliebten nicht nähern. Vielmehr beobachten wir die ritualisierte Erstarrung seines eigenen Verhaltens auf einer Distanz, die ihn davor bewahrt mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, das wirkliche Maß der möglichen, aber auch wieder unwahrscheinlichen Schuld zu erfahren, etwa durch Fragen, denen Antworten zuteil werden könnten, die eine Enttäuschung, eine Beschädigung des Objekts der primären Liebe zur Folge haben müssten. Indem der Ich-Erzähler nun auf dieser Distanz verharrt, um das primäre Objekt nicht zu beschädigen oder zu vernichten, einem Objekt, dem wiederum in nunmehr genauer Symmetrie das primäre Subjekt entspricht, das seiner psycho-sozio-intellektuellen ‚Identität’ zugrunde liegt, das also mit zerstört würde, verzichtet er um der reinen Selbsterhaltung der Voraussetzungen seiner kulturellen Identität, die aus dieser Doppelstruktur wenn nicht entstanden und entfaltet ist, so doch auf ihr aufruht und sie trägt sowohl auf die mögliche Wahrheit im Sinne des Wahrheitsbegriffs der ‚nackten Wahrheit’ der unmittelbar menschlich-körperlich vermittelten Erfahrung einerseits, aber auch darauf, die mögliche Wahrheit im Sinne des prozedural-methodologischen Wahrheitsbegriffs zu erfahren und beide im Sinne des Realitätsprinzips mit einander zu ‚versöhnen’. Das hat einen präzis angebbaren Sinn in den Prinzipien der Selbsterhaltung, insofern die möglichen Folgen einer erfolgreichen Wahrheitssuche hier in der Tat intuitiv erkannt und ihnen als der im Sinne der Selbsterhaltung vorrangigen Lebenswahrheit der Vorrang eingeräumt wird. Man kann an dieser Stelle unmittelbar auf den Ödipus des Sophokles zurück greifen: es ist als ob der Ich-Erzähler hier den warnenden, unheilsschweren Worten seiner Gemahlin, die seine Mutter ist und die ‚weiß’, genauestens folgt, („Nimm nun nichts mehr von jenem dir zu Herzen.“[Sophokles, Ödipus, Übersetzung Hölderlins, Vierter Akt, Erste Szene) und dafür den Preis zahlt, mit einem nicht einzuordnenden Schuldbewusstsein, für dessen Einordnung ihm ‚seine’ Kultur unbefriedigende Stereotype bietet, die sich zwischen der Großartigkeit der ‚Erbsünde’ und der Trivialität eines kleinen Verrats in Beziehungsdingen auf dem Niveau des Verständnisses professioneller Sozialtechniker erstreckt, leben zu müssen, das entsprechend unbestimmt, weil keinem möglichen Sinn endgültig zugeordnet, oszillierend in seiner seelischen ‚Landschaft’ umherirrt auf der Suche nach dem Sinn, in dem es zur Ruhe kommen könnte. In diesem Sinn bleibt der Ich-Erzähler technisch betrachtet in einem ‚präödipal strukturierten Universum’ sitzen, und teil damit das Schicksal seiner gesamten sozialen und institutionellen Umgebung sowie der sozialpsychologischen und entsprechend intellektuellen Verfassung einer traumatisierten und im Trauma festgehaltenen und stabilisierten, aber in einem säkularen Trauma dekompensierten Kultur, deren Pseudomodernität sich in ihrer Universalität als globales Gebilde verbergen kann, paradox mit den Mitteln des scheinbar avanciertesten Methodenstolzes. Sein lebensgeschichtliches Scheitern ist weder ein Unterscheidungskriterium gegenüber den Angepassten, das ihn bevorzugen noch das ihn, sozial-psychologisch und intellektuell benachteiligen oder überhaupt unterscheiden würde von seiner sozialen Umgebung. Er teilt mit ihr alle Merkmale eines ‚Sitzenbleibers’ im präzisen, am Realitätsprinzip orientierten Wahrheitsbegriffs. Weil Ich und Welt auf einem Fundament aufgesetzt sind, das nicht als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sondern dem Gegenstandsbereich möglicher Erfahrung zugerechnet werden muss, und weil dieses Fundament nicht einer Auflösung, einer Befragung durch den einen oder den anderen Wahrheitsbegriff ausgesetzt werden kann ohne dass dabei die Gefahr eines Einsturz, ein Zusammenbruch des Subjekts – technisch gesprochen die Psychose - der Erkenntnis wahrscheinlich würde, muss entweder jede auf Erkenntnis gerichtete Veranstaltung, obwohl der Form nach korrekt verlaufend und durch Verfahren als korrekt ausgewiesen und legitimiert, dennoch oberhalb bzw. entlang der Ebene, die das Fundament ‚nach oben’ begrenzt abbiegen und an dieser Fläche reflektiert werden derart, dass zugleich der Schein einer vollständigen Durchdringung des Gegenstandes durchgeführt sei; oder die Erkenntnis nimmt noch bewusst die mögliche Gefahr bei der Annäherung an die kritische Grenze intuitiv wahr und erstarrt in der Bewegung, in Stein verwandelt durch den Anblick des Haupts der Medusa, das sie hinter der Grenzfläche durchscheinen zu sehen meint, wenn auch nur als blasses Phantasma, dessen schwankender Schatten vielleicht nichts sein könnte als die Projektion der diesseitigen Angst des Subjekts vor dem Unfassbaren, dem absoluten Schrecken. Greifbar wird auch dies wieder im Fluss des trivial erscheinenden Geschehens an der Bewusstseinsoberfläche, etwa als der Ich-Erzähler während des Prozesses erfährt, dass Hanna sich jeweils aus der Gruppe der aus Gründen der Selektion für die Gaskammern wechselnden Gruppe der Gefangenen eine Person ausgewählt hatte, – Hier ist es das weibliche Kind der Mutter, das ihr in einer Dyade als Partner zugeordnet ist. Auch das macht Sinn, indem es die prinzipielle Unabhängigkeit von dem Geschlecht des Kindes zeigt. – in dem Bewusstsein, dass sie selbst mindestens auch später darüber zu entscheiden gezwungen war - als Sachbearbeiterin auf einem Amt in einer Behörde des ganz und gar gewöhnlichen Typus einer Bürokratie, die vor wie nach dem ‚Dritten Reich’ über Leben und Tod von Menschen entscheidet, selektiert usw., obwohl die Folgen nicht immer so unmittelbar angeschlossen sind, wie in dem von Behörden ganz gewöhnlicher Art dann als verbrecherisch inkriminierten, dem Unmittelbaren, das die Folge ist, kurzgeschlossenen Untertyps ihrer selbst – dass bzw. wann das derart adoptierte Kind dem bürokratisch verordneten Tod ausgeliefert werden musste. Obwohl er einerseits aus dem Verfahren erfährt, dass die zu treffende Entscheidung aus vorgeordneten Strukturen und Anordnungen, eben aus Legitimation durch Verfahren bestenfalls den praktischen Spielraum hatte, der darin bestand, welches der ‚Kinder’ sie auf ein paar Monate vor dem bereits verordneten Tod auf Zeit ‚adoptieren’ wollte in der Rolle der Vorleserin, der Entscheidungsspielraum also auf keinen Fall die Verfügung Hannas über die Alternative ‚Leben oder Tod’ beinhaltete, musste sich ihm aufgrund der unvermeidlichen Identifikation mit den ‚VorleserInnen’, in deren Rolle er sich ja selbst ihr gegenüber, wenn auch unter anderen Umständen befunden hatte, unter Umständen, die den prozeduralen Wahrheitsbegriff der Bürokratie wenn nicht außer Kraft setzten, dann doch suspendierten, ebenso unvermeidlich die Frage stellen, ob sie ihn auch an den bürokratischen Tod der prozedural-methodologischen Wahrheit ausgeliefert haben würde. Es ist zu vermuten, dass er der in der Frage enthaltenen möglichen Wahrheit deshalb konkret auswich, weil er sie kannte. Denn wem ist die Übermacht dieser Methode, ihre Leistungsfähigkeit und ihre Unbezweifelbarkeit, und damit die Macht der Wahrheit, die sie gegenüber dem Menschen modern geltend macht, nicht geläufig? Insofern wiederum wäre die weitere Forschung nichts als eine sadistische Quälerei, weil sie ja einen Menschen, ein Individuum unvermeidlich unablässig zur Rechenschaft ziehen müsste, um es zu Antworten und Bekenntnissen zu zwingen, die es weiter demütigen und erniedrigen müssten, indem sie seine Ohnmachtserfahrung erneuern und vertiefen, so wie man in offenen Wunden graben würde. Dieser Aspekt spräche wiederum doch dafür, dass der Ich-Erzähler nicht aus Scheu vor den Folgen der erfolgreichen Forschung für sich selbst, sondern aus Respekt für das Schicksal eines typischen Menschen seiner Zeit und angesichts des Umstandes, dass er ohnehin bereits weiß, wie Iokaste auch, was dabei herauskommen müsste, hat er doch an dem für die Konstellierung solcher Schicksale konstitutiv paradigmatischen Prozess teilgenommen, in dem Hanna verurteilt wurde von einer Struktur und ihren Funktionären, die diese Schicksale konstelliert und darauf besteht, auch das Hannas zu vollenden mit den Mitteln ihrer methodischen Wahrheitsfindungspraxis. Dann wiederum wäre zu sagen, dass der Ich-Erzähler nicht auf der Stufe dieser Funktionäre sitzen bleibt, im Unterschied zu diesen, und deren wie die Flucht der gesamten offiziellen ‚Kultur’ der Bewältigung ihrer eigenen unbewussten Strukturen durch die bürokratisch-methodologische Prozedur der ‚Wahrheitsfindung’ wäre vom Typus einer – wiederum technisch gesprochen - präödipalen Abwehrstruktur, für deren Stabilisierung als Kultur und sozialpsychologischer Typus und Institutionensystem dieses funktionalisiert und systematisch eingesetzt würde. Das wäre dann so oder so eine entscheidende Diagnose über die Beschaffenheit, das Wesen und den Sinngehalt der Gegenwartskultur, und zwar, das ist hinzuzufügen, über die Grenzen eines ‚Denkens’ in den Klischees von Sieg und Niederlage, Außen- und Innenpolitik, also über die Schemata einer politisierten Segmentierung der Einheit des Gegenstandsbereiches hinaus, mit der globalen Geltung, die die Modernisierung und Reform, die der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, ohnehin schon gesetzt hat, bevor er in die Form seiner Fortsetzung mit den Mitteln des alltäglichen Lebens übergegangen und in dieser Form als Normalzustand konsolidiert wurde. Das entbehrt nicht der Komik. Die wäre vom Typ der Kleistschen Variante in dem Lustspiel ‚Der Zerbrochenen Krug’.

Wenn gleichwohl ein Entscheidungsproblem zwischen den in der Struktur dargestellten, jedenfalls aber analytisch herauspräparierten Wahrheitsbegriffen offen zu bleiben scheint, zugleich aber auf Entscheidbarkeit bestanden werden soll, dann sollte man sich der von einem Moralphilosophen notierten Reflexion nicht entziehen, die lautet: „Es gibt verkappte Unwahrheiten, die die Wahrheit so natürlich spielen, dass, sich von ihnen nicht täuschen zu lassen, Mangel an Urteil gleichkäme.“ (Französische Moralisten I, 35), eine Überlegung, die nur angesichts des ‚Verkappten’ daran zu Ungunsten der ‚nackten Wahrheit’ formuliert scheint, aber einen anderen Sinn erhält, wenn man sie auf die Umkehrung der Hegelschen Überlegung bezieht, ob und inwieweit das Schöne geeignet erscheint, die – unschöne – Wahrheit zu verbergen.

Weil sie Analphabetin ist, meldet sie sich für die verhängnisvolle Aufgabe. Sie hat dort eher als ‚bei Siemens’ eine Möglichkeit, das Handicap zu verbergen. Weil sie es verbergen will, ergreift sie eher die Möglichkeit einer Liebesbeziehung zu einem in seinem Urteilsvermögen noch nicht gefestigten jungen Mann, und interessiert sich offensichtlich nicht noch ‚nebenbei’ für andere ‚Chancen’, die sie zweifellos hätte. Weil sie nicht lesen kann reagiert sie panisch auf die kurze Abwesenheit des Jungen, während deren sie erwacht, den Zettel findet und offensichtlich meint, er enthielte eine Mitteilung, die ihr die auch für sie nicht belanglose Beziehung nimmt. Weil sie dieser Panik nicht Herr wird als er wieder erscheint schlägt sie ihn mit dem Gürtel und lässt den Zettel verschwinden. Endlich, weil sie in der im Prozess offenbar werdenden Weise verstrickt ist, verschwindet sie in dem Moment, in dem man ihr ‚anbietet’ – ihr droht – sie zur Fahrerin auszubilden – ihr ihr Geheimnis zu entreißen – und endlich, ein Umstand, der die Peripetie im Erkenntnisvorgang des Helden auslöst und sich dem Ich-Erzähler die Struktur der gesamten Ordnung zeigt, spätestens nach dem Gespräch mit dem Vater, der als Philosoph vorgestellt wird, der Bücher über Kant geschrieben hat, also die grundlegende Metaphysik der Erkenntnis der modernen Wissenschaftlichkeit wenigstens formal kennt, ohne indessen zu erkennen, nimmt sie die Verantwortung für den inkriminierten Bericht über die Brandkatastrophe in der Kirche auf sich, um etwas anderes zu verbergen, während sich dem Ich-Erzähler gerade in diesem Versuch die Einsicht öffnet in den Sinnzusammenhang, um den sie ihr Leben organisiert hat, aber wiederum zugleich so, dass es ihn ebenfalls an das Geheimnis bindet, weil er sich nun nicht ermächtigt fühlen darf, es in ihrem ‚wohlverstandenen’ Interesse preiszugeben, wozu sich jeder Sozialtechniker ohne Frage berechtigt fühlen würde. Man kann darin eine beißende Ironie des Autors sehen, gerade mit Rücksicht auf die grundsätzliche Aufgabe jeder Generation, das Rätsel der Sphinx jeweils erneut zu lösen, insofern sie die Kultur repräsentiert, an der die Repräsentanten des Laios im ödipalen Drama unterschiedslos scheitern, und dem Richter des Prozesses, der nicht einmal ahnt, dass es ein Rätsel gibt und damit den Gipfel der Ahnungslosigkeit repräsentiert, der sich zugleich als Gipfel der zeitgenössischen Rationalität und Gerechtigkeit zugleich auffährt. – endlich also GESTEHT sie freiwillig die ihr von den Mitangeklagten, einer Bande von Harpyien, die ihr zur Last gelegte Schuld, einen für die Beweislage entscheidenden Bericht geschrieben zu haben, auf dem Gipfel ihrer Anstrengung, ihr Geheimnis zu hüten, und verfolgt damit den einzigen Zweck der Verbergung dieses Geheimnisses um einen Preis, der ihr offensichtlich nebensächlich erscheint vergleichen mit dem was ihr wirklich etwas bedeutet: Und das ist die Wahrung des Geheimnisses ihrer Unkenntnis der Schrift. Sehr schön, wie hier zwei sehr grundsätzliche Motive aller Kulturbildung wiederum in einer dualistischen Struktur miteinander amalgamiert sind, oder legiert, gewissermaßen gleich wertvolle Substanzen, ohne dass dabei etwa weniger Gediegenes heraus käme. Das griechisch-mythische und das Prinzip des Volkes des Buches, das Christentum und Islam gleichermaßen aus sich entlassen hat und mit den Beständen des Hellenismus legiert hat, sind die Grundlagen der in der säkularen Dekompensation am Ausgang der Moderne zerstörten Kultur, deren Zerstörung indessen ihre Wahrheiten nicht tangieren kann, insofern der Umstand, dass die Destruktion der Bestände und die Eroberung der Institutionen durch Barbarenhorden, die keine Rätsel mehr sehen und die Schrift nicht kennen, die grundsätzlichen Wahrheiten der Gattung nicht außer Kraft zu setzen imstande ist, bloß weil sie sich dem Bewusstsein, oder was sich an seine Stelle gesetzt hat, entzogen haben.

Derart erweist sich das anscheinend als Maß aller Dinge erscheinende, die Struktur des ersten Teils der Erzählung doch auch wieder als aufzulösender Schein, der seine Auflösung erst durch die Wiederbegegnung der Liebenden unter den veränderten Bedingungen der gereiften Urteilskraft des Protagonisten und der Möglichkeit ihrer Bewährung an dem verzweifelt ebenso gehüteten wie dargebotenen Rätsel der Protagonistin finden kann, so dass der zweite Teil den ersten ebenso erläutert und durchsichtig macht wie dieser jenen. Die damit erkennbar gewordene dialektische Struktur der Konstruktion verdient diesen Namen, der sonst zu billiger Münze geworden ist.

Entgeistert erkennt der Ich-Erzähler, der nun, als sie ‚geständig’ ist, im Gegensatz zu der halluzinatorischen Episode im Schwimmbad, der ihr Verschwinden indiziert, nun ganz deutlich das ihm zugewandte, ihm dargebotene Gesicht. Während sich damit für die Prozessbeteiligten alles zufriedenstellend aufklärt, verrätselt für den Ich-Erzähler gerade das Geständnis die Geliebte wiederum aufs Neue. Das Rätsel konstituiert sich neu im Moment seiner ‚Aufklärung’. Das ist so aberwitzig wie korrekt. Es gibt keine garantierte Erkenntnis bzw. Selbsterkenntnis. Die Prozessbeteiligten, die glauben, den erstrebten Endpunkt erreicht zu haben, also auch ‚was sie wollen’, verstricken sich in eine endgültige Erblindung weil sie ihrem Klischee der Erkenntnis erliegen. Weil sie glauben im Vorhinein zu wissen, wie die Wahrheit aussieht, und weil sie deutlich sehen, dass und wie die Angeklagte dem, was sie schon zu wissen und intuitiv zu erkennen glauben, wenn es ihnen bloß als Erscheinung geboten wird, fallen sie der in ihrem Rücken aufgebauten Projektion ihrer seelischen Befindlichkeit und ihres Dünkels herein. Der Ich-Erzähler, der beide Aspekte kennt, den durch den Mythos repräsentierten und den durch die Schrift repräsentierten (die sich in der Liebensbeziehung einerseits und dem Prozess andererseits lediglich erzählerisch, also in der Konstruktion des Romans darstellen, ohne mit dieser Darstellung identisch zu sein) erkennt dagegen, wie sich das Rätsel der Sphinx, das ihm gestellt war, und nur ihm, ohne dass andere das wissen, in dem Moment, in dem er es löst, sofort wieder konstituiert. Zugleich erkennt er, dass das Schauspiel nur für ihn stattfindet, vor einem Massenpublikum von Blinden und Tauben, dem auch das Personal zuzurechnen ist, das meint, den Prozess zu führen, ohne zu ahnen, dass es geführt wird, und zwar an der Nase herum. Die Lösung des Rätsels macht wiederum nur ein Rätsel sichtbar.

Das Rätsel wird aber nur einmal gestellt. Seine Lösung konstituiert es zwar neu, aber das erneuert die Situation in der es gestellt wird nicht. Es ist vielmehr Teil seiner Lösung bzw. der in ihr vermittelten Erkenntnis, dass die Öffnung, die sich auftut sich nur erneut schließt. Darin steckt gegenüber den Beschreibungen des Mythos nur scheinbar ein Überschuss, den sich die Modernität als ihre Leistung anrechnen mag. In der tat besagt der Mythos nichts anderes, indem die Sphinx sich im Moment, in dem Ödipus die Lösung des nur ihm gestellten Rätsels findet in den Abgrund stürzt. Die moderne Gewohnheit, die Erkenntnis unbewusst metaphorisch mit dem Höheren – und sei es nur dem ‚sozialen Aufstieg’ - zu assoziieren, die jeder an sich feststellen kann, verführt leicht dazu, das für einen ‚Absturz’, für DAS ENDE im Sinn eines Kinofilms zu halten. In der Tat ist es eine Aufforderung zum Handeln auf eigenes Risiko, indem der Rätsellöser sich hinterher stürzt, um der Kette zu folgen, technisch gesprochen: sich auf einen unendlichen Regress und seine Aporien einzulassen, bzw. ein Entzug ins Unabsehbare, das der menschlichen Endlichkeit prinzipiell entgegen gesetzt bleibt, also auch ein Entzug ins Unerreichbare, wenn man es strukturell versteht, nämlich als prinzipielles Verhältnis zwischen dem menschlichen Erkenntnisvermögen, also seiner Potenz in einem ganz grundsätzlichen Sinne, und der Möglichkeit zu wissen, was das ist, das erforscht, dem Gegenstand, der er ja selbst ist. Denn die Frage lautet ja: Was ist der Mensch, auch wenn sie umgekehrt gestellt wird, so dass die Antwort wie die Frage klingt, und die Frage wie die Antwort.

Der Tod der Heldin, die sich endgültig entzieht in dem Moment, in dem die Liebenden sich wieder vereinen zu können scheinen, hinterlässt sowohl bei dem Ich-Erzähler wie bei der Gefängnisleiterin die bekannten aus der Unmittelbarkeit seelischer Befindlichkeiten gezogenen ‚psychologischen Betroffenheiten’ und generieren die dazu passende Betroffenheitslyrik des akademisch gebildeten Sozialarbeiters. Das schafft jeden möglichen menschlichen Ernstfall, dem ja ein Prinzip zugrunde gelegt werden müsste, damit irgend ein Phänomen als solcher erscheinen könnte, ab zugunsten einer lauwarmen Oberflächlichkeit, der die Tragik der menschlichen Existenz im Geplapper der akademischen Szenen völlig entgeht. Als brave Mitläufer der Politik, die dies fördert und erzwingt gemäss ihrer eigenen Logik, stellen sie fest, gleichen aus, greifen ein, bewerten und beurteilen unter Zuhilfenahme von Ordnungsorganen, und erreichen damit eine Modifikation im Ablauf der Tragödie, während sie wähnen ihre Abschaffung, ihre Erledigung bewerkstelligt zu haben. Das verfällt dem Verdikt, das der Roman der Substanz des Mythos entnimmt und in die Form der Schrift bringt. Die eher fragende Distanz des Ich-Erzählers zu den sozialarbeiterisch-psychologisierenden Räsonnements der Gefängnisleiterin und auch gegenüber den sich ihm selbst stellenden Fragen fällt indessen auf. Der Autor trägt hier lediglich aktiv dazu bei, dem in Standardklischees konditionierten Bewusstsein seine eigene ‚Deutung’ offen zu lassen, und kommt dem antizipierten ‚Bedürfnis’ entgegen. Schließlich soll das Buch auf einem Markt verkauft werden, einerseits, andererseits und zugleich daher auch gute Besprechungen erhalten.

Dem Leser ist aber, das besagt die Einkleidung des Ganzen in eine von einem Ich-Erzähler vorgetragene Geschichte, aufgegeben, sich seinerseits an der ganzen Erzählung zu versuchen. Dass sie sich dazu eignet ist hier erklärt. Es bedarf dazu allerdings der Mittel. Wo die nicht sind, bleibt eine Erzählung, die immerhin von Schuld und Sühne entlang einer noch modischen pädagogischen Thematik und Aufarbeitungsdidaktik zu erzählen hat. Und in einer pluralistischen Ordnung hat auch diese Lesart ihr Recht darauf, als profunde Ansicht zur Kenntnis genommen und als Leistung belohnt zu werden. Das muss ja nicht hindern, dass man sich dann doch noch selbst ein Urteil bildet, das sich jenseits des Niveaus der öffentlichen Anerkennung findet. Dessen Grundlagen muss man allerdings womöglich jenseits der Grenzen der Ordnung suchen, die sich öffentlich als Instanz der Vergabe von Leistungsbescheinigungen anbietet und immerhin weithin Zufriedenheit und den Eindruck gerechter Verteilung ihrer Belohungen zu erzeugen versteht, damit aber auch zugleich den, die unüberholbare Instanz der Normierung des immerhin hierarchisierten Bezugs zur menschlichen Wirklichkeit darzustellen. Und soweit das die weithin unangefochtene Darstellung betrifft, im Sinne der Mimesis oder der Mimikry, mag man das auch akzeptabel finden. Das betrifft allerdings nur den Anspruch auf Darstellung, so wie Schauspieler eben auch Kaiser und Könige oder auch Wissenschaftler darzustellen vermögen, durch die Nachahmung des bereits Bekannten. Und wenn es sonst nichts gibt, das dem widerspricht, dann ist das u. U. auch ausreichend. Problematischer wird das, wenn der sich ausbreitende, von der Sorge bestimmte Wunsch nach universaler Geltung der Darstellung den Anspruch zu sichern versucht, das Dargestellte, das Nachgeahmte zu sein, und unter Ausschaltung des nur Dargestellten, des nur Nachgeahmten dieses zu ersetzen, restlos an seine Stelle zu setzen. Gelingt das nämlich, etwa per ordre de Mufti, dann geht der Realitätsbezug des Kollektivs verloren während alles so aussieht, als sei gerade für diesen mit dieser Verfahrensweise am besten gesorgt.

Wo Reduktion von Komplexität endlich an deren Stelle tritt, also ihren grundsätzlichen Gegenstandsbezug auflöst, ihr Wovonher verleugnet, verdrängt und endlich erfolgreich vernichtet, da ist wohl ein Erfolg zu verzeichnen, aber der Preis, der dafür endlich entrichtet werden muss, ist aus Gründen der Bedeutung dieser strukturellen Substitution eines Abgeleiteten unter Auflösung seiner Bezogenheit auf ein ihm gegenüber gänzlich Anderes kaum den Gewinn wert. Ob und wo dieser Fall vorliegt, ist indessen strittig, aber es kann kein Zweifel daran sein, dass dieser Streit eine Lösung findet, dadurch, dass sich endlich die unabhängige Variable in dieser Konstellation wieder Geltung verschafft. Die Wahl, die man dabei hat, besteht letztlich darin, ob man diesem Aspekt erst Rechnung tragen will, wenn er die Nachahmung zerstört oder idem man diese von vorn herein relativiert und damit nicht über ihren ihr zustehenden Bereich hinaus sich ausbreiten lässt, und sei es nur aus der Einsicht, dass der Irrationalismus auf lange Sicht sehr viel riskanter ist als die immerhin rationale Vorsicht der Beschränkung, die sich im Spielraum einer Bescheidung hält, die die Möglichkeit der Entscheidung bei knappen zeitlichen und materiellen Ressourcen erst schafft.

Auch insofern ist die Struktur des Romans dualistisch: Während er ein Vergangenes abzuhandeln scheint, mein er eine Zukunft, das Rätsel der Sphinx, das ihr Tod erneuert im Moment seiner Lösung für eine Generation.

Während der Autor also die Gnade des Missverständnisses im Gebiet des Meinens unter den Umständen eines allgemeinen Rechtsanspruchs auf die ‚eigene Meinung’, deren Pluralität mit Mehrheit beschließen mag, dass zwei mal zwei fünf ist, und dafür dann auch plausible Gründe vorbringen wird, dem Leser beliebig offen hält, scheint doch schon die analytische Beschreibung der Struktur des Romans gelegentlich der konkreten lebendigen Menschlichkeit der Beschreibung nicht gerecht zu werden. So scheint die Strenge der strukturellen Analyse doch z. B. an dem stummen Leiden des Ich-Erzählers, an seiner Verstörtheit nach dem Verschwinden der Geliebten, am Scheitern seiner Ehe und der Vergeblichkeit der Nachholung seiner Jugendliebe vorbei zugehen, und auch die Anteilnahme vermissen zu lassen, die die Überlebende des Brandopfers in der christlichen Kirche an seinem Schicksal nimmt, indem sie seine Geschichte mit den Worten kommentiert: „mein Gott, was hat sie ihnen angetan“, als er ihr das Vermächtnis Hannas überbringen will, das Anlaß ist zu einer einvernehmlich zwischen der Jüdin und dem Ich-Erzähler verabredeten Ironie, die die beiden aushecken wie zwei spitzbübische Kinder. Aber alle diese naturgemäß auf der gängigen zeitgenössischen Klaviatur des Psychologismus ausgebrüteten und improvisierten Reaktionsklischees, die Selbsthilfegruppen und Containermenschen in gewisser Weise bedienen, damit sie sich auch darin wieder zu erkennen vermögen fürs Erste passen vielmehr zu dem angestrebten Gesamtbild. Nicht nebenbei kommentiert der Ich-Erzähler die Anteilnahme der Gesprächspartnerin mit den Worten, dass das nun eben seine Biographie geworden sei, also er selbst ist, und nicht einfach etwas, das ihm äußerlich ist wie etwas ihm Angetanes. So wenig diese Art der Anerkennung der eigenen Lebensgeschichte üblich ist, auch aus Gründen eines Psychologismus, der die Gewohnheit erzeugt hat, und damit auch eine nicht unerhebliche Einnahmequelle, einen Markt, als könne man sich zu jeder Zeit seines Lebens noch ein anderes aussuchen oder beginnen, so konsequent bringt sie den Ich-Erzähler in Übereinstimmung mit sich selbst. Wenn die Ehe scheitert oder die nachgeholte Jugendliebe eine Enttäuschung wird, so liegt das an ihrer Unzeitgemäßheit, der mangelnden Synchronisation von Einsicht, Urteilsvermögen und Handlung. Ihrer Inkongruenz mit der bereits durchlaufenen Lebensstrecke und der mit ihr verbundenen Erfahrung, sowie am Problem ihrer Kommunizierbarkeit unter den gegebenen Umständen, die sie nicht vermittelbar erscheinen lassen, so dass hier auch ein Scheitern vorliegt, dessen strukturelle Komponenten im Verkauf des Prozesses ja auch durch den Kommentar des Ich-Erzählers selbst angedeutet werden, wenn er z. B. erklärt, dass er zeitweise nicht im Besitz seines Urteilsvermögens ist, und dies ja massiv auch an anderen bemerkt, die das ihrerseits nicht bemerken. So hat der vorsitzende Richter des Prozesses zwar kein angemessenes Urteilsvermögen, aber er bemerkt es gar nicht und der Ich-Erzähler, der ihn aufsucht, nicht zuletzt um auch ihn vor einem folgenschweren Irrtum zu bewahren, insofern ja an der Schuld der Angeklagten, auf deren Kosten sich ihre Mitangeklagten entlasten, aus der Sicht des Ich-Erzählers, der ja auch Jurist ist, grundsätzliche Zweifel angebracht sind, stellt die Undurchdringlichkeit eines gedankenlosen Karrieristen an ihm fest und verzichtet darauf hin darauf, einer kaum einschätzbaren Person dieser Art das Geheimnis zu verraten, zu dessen Veröffentlichung er sich zu Recht ohnehin nicht ermächtigt fühlen darf, und auf keinen Fall unter allen Umständen. Mit Blick auf eiuen anderen Mythos bzw. dessen reflektierte, also tragische Bearbeitung, die Orestie, ist zu ergänzen, dass der Richter, der Prozess und mit ihm die Rechtsprechung, kurz: Das Gesetz im hier vorliegenden Fall sich entgegen der Lösung der Orestie auf die Seite der ‚Erynnien’ schlagen, der Furien, wenn sie der gemeinsam vorgetragenen Verleumdung Hannas durch die Mitangeklagten, ja sogar dem Angriff der anderen Mitverteidiger der gemeinsam Angeklagten akzeptieren und als Urteilsgrundlagen übernehmen. Indem die hier in einem ganz anderen als dem gewöhnlich mit der Allegorie der blinden Justitia gemeinten Sinne zu verstehende Augenbinde nicht die nicht mehr gegebene, sondern gerade aufgehobene Gerechtigkeit bezeichnet, die der Illusion ihrer eigenen Rationalität und ihres Urteilsvermögens erliegt, indem sie sich zum plumpen Büttel der Rachsucht, der Intriganz und der Gemeinheit des Mobs macht, gibt sie gerade zu erkennen, wie sehr sie den – in der Sprache des Mythos – dunklen Gewalten, die das Menschenopfer fordern durch eine ihr selbst nicht durchsichtig werdende innere Affinität zum Opfer fällt, sich zum Mittäter macht, zum Mitläufer gerade des Mobs, dessen Disziplinierung es sich zum Ziele gesetzt zu haben vorgibt. Indem sie sich mit den ‚Erynnien’ verbündet, verliert zudem das modern als patriarchalisch gebrandmarkte Prinzip des Gesetzes nicht nur seine Würde. Es erweist sich vielmehr gerade als das ‚Muttersöhnchen’, das sich im US-amerikanischen Fäkaljargon verbreiteter Manifestationen des Inzestmotivs in der männlichen Bevölkerung herausstellt, als ‚mother-fucker’ darstellt, weil und insofern es die Konstellation der primären Liebe nicht bewältigt hat, sondern an ihre Konstellation gefesselt bleibt und deshalb von ihr blind abhängig, im blinden des Pseudoerwachsenen, der, wie er die herrschende Ordnung anstelle der Mutter problem‑ und widerstandslos zu dem Objekt seines Gehorsams macht, ohne Rücksicht auf ihre Einkleidung, auch in der manifesten Reaktionsbildung, die sich unmittelbar gegen die Abhängigkeit von der Mutter richtet, und dies durch eine Projektion auf andere ebenso unmittelbar abwehrt. Es ist ja kein Zufall, dass beide Formen sich gut miteinander vertragen, und das kann gerade am Beispiel des US‑amerikanischen männlichen Sozialcharakters gezeigt werden. Typisch an dieser Abhängigkeit ist die Unfähigkeit zur Kritik, die Blindheit des Konformismus und die Automatik der Identifikation mit jedem ihrer Züge, die zugleich dafür sorgt, dass die Distanzierung, die die Erkenntnis verschafft, und sei es bloß als ihre Voraussetzung, unmöglich gemacht ist.

Die Regression auf dieses Muster jedenfalls unzweideutig vorzuführen erspart sich der Ich-Erzähler nicht. Die Darstellung entspringt unmittelbar einer einsehbaren Absicht des Autors, der als Jurist ja nicht einfach aus dem Blauen heraus etwas erfindet, das keiner möglichen Erfahrung entspricht. Dass es dergleichen ohnehin gar nicht geben kann, belegt jeder platte Science-Fiction-Thriller, der angestrengt das jeder Erfahrung Fremde zu erfinden versucht und stets beim Bekannten endet. Hier ist von Voraussetzungen des vernünftigen Handelns in Institutionen die Rede, von denen man nicht behaupten kann, dass eine Kultur, die sich ihrer gar nicht bewusst ist, sie anders als zufällig als ihre Konstituentien haben könnte, Voraussetzungen, die nicht in der Form der Institutionalisierung je schon mit gegeben sind und deren Fehlen mittels Legitimation durch Verfahren, also die vorgeschriebene Verfahrensförmigkeit der Entscheidungsfindung nicht erzeugt werden können oder auch nur kompensierbar sind. Ebenso wenig können die entsprechenden Fachausbildungen ihre Grundlagen klären. Derart kann der Autor aber zeigen, wie sich der Mangel an Reflexion auf diese ‚transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Urteilsbildung’, in die sich wenigstens pathologisch erhebliche Kontaminationen eingenistet haben, die genau genommen dem Gegenstandsbereich des Urteils zuzurechnen sind, und deren Auftauchen im Bereich der Urteilsgrundlagen ein eindeutiger Hinweis auf die Korruption des Urteils ist. Diese fällt, zumal als aufgeklärte rechtsstaatliche Veranstaltung sine ira et studio hinter dieser Kulisse hinter dem Rücken ihrer bewussten ‚Gründe’ auf das Bündnis mit den triebhaften Abkömmlingen einer ungezähmten Raubtiernatur zurück, im genauen Gegensatz zu dem kultivierten, kollegialen und jovialen Gemüt, das die Agenten dieser System gewordenen Irrationalität im persönlichen Umgang, als ‚Menschen’ eben, pflegen.

Das Entsetzen der ‚Jugendfreundin’ über seinen Zustand, die mitleidige Parteinahme für den Jungen, den die Jüdin zeigt, sind bei allem Humor der letzteren, doch Reaktionen, die Unverständnis beweisen, eben Außenperspektiven und psychologische Allerweltsurteile. Sie ebenso wie die ‚Entfremdung’ der Ehepartner sind einem Mangel an Verstehensvermögen eher zuzurechnen, das sich stets in scheinbar verständnisvolle Reaktionsklischees einkleidet und diese dem ‚Stimulus’ eines Reizes als ‚Response’ anbietet, gewöhnlich das von Litfasssäulen abgelesene Geplapper, das die Alltagskonversation ohne Rücksicht auf den dafür in Anspruch genommenen ‚elaborierten’ oder ‚restringierten Jargon’ als Grundlage der weitgehend identischen seelischen Befindlichkeiten ‚auszeichnet’.

Daß der Ich-Erzähler von dem ihm aufgegebenen Rätsel gepackt ist, weil es ihn ansprechen konnte, aufgrund von Voraussetzungen, die offenkundig nicht unbedingt Grundlage von Massenbefindlichkeiten sein müssen, und dass ihm n seiner Umgebung niemand begegnet, den das Rätsel anspricht, ist wohl ein Grund für seine spürbare Einsamkeit, aus der der Protagonist keinen Hehl macht, ohne sich darüber zu beklagen, während er sie wohl wahr‑, aber als conditio humana auch hinnimmt, weil sie ja nicht nur seine eigene ist, sondern auch die derer, die sich derart vor der Einsicht in ihre Gegebenheit fürchten, dass sie nur zu bereit sind, das Bewusstsein davon zugunsten jeder denkbaren, und darunter eben bevorzugt die angebotene kollektive Entlastung, die der bereitwillige Konformismus ist, aufzugeben. Das erkennt jedoch der Ich-Erzähler, auch wenn er es nicht ausdrücklich hervorhebt, als die Voraussetzung dessen, was da einer vermeintlich nicht mehr davon betroffenen Bewältigungsmaschinerie als Gegenstand nur ihres Urteils, und nicht auch der Strukturbildung, die sie institutionell und im öffentlichen Meinungsbild vielmehr tradiert und beerbt, ganz gegen ihren angeblichen Willen, der sich einfach dadurch von seinen nach wie vor aktiven strukturellen Voraussetzungen dadurch meint verabschieden zu können, dass er seine strukturellen Voraussetzungen, die ihn mit dieser Vergangenheit vielmehr in einer gemeinsamen Struktur verbinden als vergangene deklariert und diese Erklärung durch eine Neueinkleidung und eine ggf. passende Umbenennung gewissermaßen neu anstreicht, und von dieser neu gewonnen Aussichtsplattform sich nun auf sich selbst im Medium der passenden Objekte zurückwendet, um sich von diesen zu befreien und damit zu beweisen, quod erat demonstrandum. Der Sündenbockmechanismus, den die Heldin – deren Schuld doch offensichtlich wenigstens auch dem ihr andressierten Gehorsam zuzurechnen wäre, für den sie unmöglich verantwortlich gemacht werden kann: Sie murmelt anlässlich der Befragung sinngemäß auf entsprechende ‚Vorhaltungen’: „Ich hätte mich damals bei Siemens nicht melden dürfen...“ um den Preis der Wahrung ihres Lebensgeheimnisses dem Beobachter vorführt, und in dessen Psychomechanik sich der Mob mit seinem intellektuellen Pendant bloß ein weiteres Mal verbündet, führt den Sinn .der ganzen öffentlich aufgeführten Demonstration ad absurdum.

Natürlich ist die Strenge, mit der der Autor den Ich-Erzähler isoliert von seiner Umwelt, indem er seine seelisch-intellektuelle und soziale Kondition in eine Singularität verwandelt, die abgeschnitten in einer Alltagswelt existiert, der keine gemeinsame Erfahrungswelt mit dem umgebenden Kollektiv entspricht, und in der die Beziehung der Liebenden die einzig authentische Erfahrung zugleich ist indem sie sie konstituiert, als eine Art von Autopoiesis, eine Selbstzeugung, eine Art von konstruktivem sozialen Extremismus. Aber er ist der kürzeste Weg zur Darstellung der bereits existierenden Lösung, zu der der Roman nur den Weg, wie man zu ihr kommt, darstellt, also ihre Kommunizierbarkeit ermöglicht. Diese Kommunizierbarkeit indessen macht objekiv, und garantiert zugleich die Aufhebung der konstruktiven Voraussetzung, der Singularität. Und in dieser Form ist zugleich ein Beweis angetreten dafür, dass eine in ihrer Art singuläre Erfahrung wirklichkeitskonstitutiven Charakter hat. Man muss sich vor Augen halten, dass damit zugleich das Paradigma der kulturellen Leistung mit angegeben ist, an dem vorliegenden Beispiel, und dass das Beispiel deshalb paradigmatisch ist, weil es zeigen kann, dass seine Leistungsfähigkeit dazu ausreicht, das Prinzip, dass der Kulturleistung zugrunde liegt, zur Darstellung zu bringen.

Wenn man den Plattheiten der Klappentexte, die den Roman begleiten eine ironische Reflexion hinzufügen will, dann kann man die keineswegs erschöpfte Analyse abschließen mit der Formulierung: „In der vorgelegten Erzählung ist dem Autor ein schönes Stück Gegenwartsbewältigung der typischen Formen der Vergangenheitsbewältigung gelungen.

Spätestens an dieser Stelle muss jedoch eine Reflexion auf die unleugbare Differenz zwischen der Art bewusst werden, wie der Ich-Erzähler seine Biographie ‚integriert’ und für sich selbst annimmt, und dass dies in einem merkwürdigen Gegensatz zu den hier vorgelegten Analysen steht. Zumal angesichts der Möglichkeit, dass ein anderer Leser in ihnen seine Lektüre bzw. deren Verständnis nicht wiedererkennen wird, aber auch angesichts des Umstandes, dass der Autor seine(n) Protagonisten ja ganz anders mit der Romanwirklichkeit umgehen lässt, und zugleich darin auch selbst mit der als Roman dargestellten Wirklichkeitserfahrung bzw. Wirklichkeit umgeht, ist es notwendig, die Erfahrung der Disparatheit des Verhältnisses von Analyse und dem Erleben des Ich-Erzählers bzw. der Wahl der Darstellung durch den Autor eine Überlegung zu widmen. Es fällt auf, dass der Ich-Erzähler anscheinend ohne Reflexion, zumal analytisch-methodische auskommt. Er spottet an einer Stelle sogar einmal über eine seiner intellektuell gebildeten, akademischen Freundinnen, unter denen auch eine Psychoanalytikerin ausdrücklich erwähnt und mit einer spöttischen Bemerkung bedacht wird, lauter Personen also, mit denen er den vergeblichen Versuch macht, die verlorene Liebe wiederzugewinnen und denen er in einem Anfall von kommunikativer Manie ebenso vergeblich zu erklären versucht, was ihn beschäftigt, und warum, nur um die Erfahrung zu machen, dass das offensichtlich nicht nur nicht interessiert, sondern ihnen auch belanglos erscheint. Die einhellige Mitteilungssumme aus diesem Versuch, die der Ich-Erzähler berichtet, ist eine Mischung aus Indolenz, Desinteresse und offensichtlicher Anästhesie der Erlebnisfähigkeit der Karrierefrauen, an denen seine Versuche zu einer Kommunikation über seine Erfahrung, der ein Wunsch entspricht, den er an sie hat, den der Junge an seine Mutter hat insofern die Liebe des Mannes die Erfahrung der primären Liebe des weiblichen wie männlichen KINDES zur Mutter wieder zu beleben trachtet. Irgend jemand - ist es die Psychoanalytikerin? - weist ihn sogar darauf hin, dass in seiner Erzählung seine Mutter überhaupt nicht vorkommt und man meint zu hören, dass der Ich-Erzähler das mit einem gewissen verhaltenen Genuss ausspricht, vielleicht den über eine legitime Denunziation dieser Gesprächspartner an die Öffentlichkeit seiner Zuhörer, an die er sich richtet. Denn man meint ihn ja sprechen zu hören etwa wie gelegentlich einer nachmittäglichen Begegnung unter Freunden in einem Stadtcafe, wo man ein paar Stunden in einer Nische zubringt um sich nach langen Jahren zu erzählen, was so alles passiert ist in der Zeit, während deren man sich nicht mehr gesehen hat und Jeder seiner Wege gegangen war.

Man muss es also dem Leser beider, des analytischen Textes und seiner Vorlage, seinem Gegenstand, überlassen, das Verhältnis zwischen beiden und seine Wahrheitsfähigkeit zu beurteilen.

Es war ja aber schon gesagt worden, dass der erste Teil der Erzählung genau dies ist, die Beschreibung der primären Liebe. Das war ja unter anderem der Sinn der Konstruktion, und begründet die auffällige, sofort in die Augen springende Nähe zum inzestuösen Drama der dyadischen Symbiose des Neugeborenen mit der Mutter. Versetzt man sich einmal in die Zeit, dann ist ein Charakteristikum, dass die während des Krieges, spätestens seit dem Beginn des ‚Rußlandfeldzuges’ geborenen Kinder oft nach kurzer Zeit der mütterlichen Pflege sei es entweder durch Fluchtumstände, durch die einsetzende Bombardierung der Städte, die härter werdenden Lebensumstände typisch Heimkindkarrieren durchmachten oder bei Pflegefamilien untergebracht waren. Die mütterliche Pflege riss abrupt ab ohne dass den Kindern die Gründe dafür auch nur plausibel zu machen gewesen wären, und zwar aus existentiellen Gründen. Die Verarbeitung dieser Trennungstraumen ist nie Gegenstand der Sozialforschung geworden, ebenso wenig wie intergenerationelle Kommunikation dieser Traumen durch die Weitergabe ihrer Folgen in die zweite und dritte Generation. Dabei ist dieses Trauma nur ein Element des traumatischen Geschehens, das die Familien, die Grundlage der Existenz einer Population, manche sagten sogar bis vor Kurzem noch, gegen die von ihnen betriebene Politik: des Staates.

Man kann in diesem Abschnitt, in dem der Ich-Erzähler fast einem sozial-psychologischen Stereotyp der Sozialgeschichte der Bundesrepublik folgend diese ‚Beziehungserfahrungen’ abklappert in seinem Kurzbericht, zugleich das Stereotyp der traumatisierten Geschlechterbeziehungen erkennen, an denen die Traumen der Mutter-Kind-Beziehungen erkennbar, greifbar werden angesichts der Anästhesien, der emotionalen Defekte, die gerade die gebildeteren Partnerinnen offensichtlich zeigen: Sie wissen gar nicht ‚wovon der Spinner redet’. Ohne dass der Ich-Erzähler sie gegenüber dem Leser denunziert, wird ihre emotionale Taubheit, ihre affektive Anästhesie und der darin zu erkennende Intelligenzdefekt erkennbar, der sich gegen die gängigen sozialpsychologischen Departementalisierungen der Persönlichkeitspsychologie in ‚affektive’, kognitive’ und ‚konative’ (handlungsbezogene) ‚Komponenten’, die mit dergleichen nicht zurecht kommen können, weil sich das darin zunächst unter Vorwand der analytischen Unterscheidung und Präzision Eingeführte längst zu Glaubenssätzen über seelische Tatsachen verdinglicht hat, während noch an dem Problem laboriert wird, wie man das derart auseinander Gerissene nun wieder durch Interrelationen miteinander verbindet, nach Analogie nachrichtentechnischer Vorgänge, phänomenologisch behauptet, als Symptom. Die darin enthaltene spezifisch weiblich vermittelte Brutalisierung ist nur die Kehrseite des offenkundigen Nachlassens oder auch des langsamen Zusammenbruchs der genetischen Potenz einer traumatisierten Population, der man eine Leitkultur vorbetet aus dem Parlament heraus, ohne zu begreifen wovon man spricht. Das scheint in einem eklatanten Gegensatz zu stehen zu Liberalisierung bzw. der Kapitalisierung der ‚Sexualität’, einer auf die Mechanik der Geschlechtlichkeit als eine Lust-Maschinerie. Das ist aber nur ein Scheingegensatz, der nur entsteht, dass dieses Erscheinungsbild das erwartbare Resultat einer kulturellen Dekompensation ist, die zunächst ‚die Sexualität’ als Entität isoliert vom menschlichen Organismus und Leben – als Biographie, als Verlauf, von dem jeder spätere Moment den früheren voraussetzt – um dieses Artefakt dann als quasi absonderbares Produkt auf einen Markt zu werfen, wobei die kollektiven Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts, die Männern auf den Schlachtfeldern und den Frauen in der ‚Heimat’ auf verschiedene Weise massenhaft Erfahrungen mit ihrer Geschlechtlichkeit eingetragen haben dürften, die sich weder mit den Normen der ungeachtet dessen postulierten und propagierten Leitkultur noch überhaupt mit den gesellschaftlichen Normen der intergenerationellen und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern vertragen dürften, und man kann weiter gehend behaupten, dass diese Erfahrungen derart gewesen sein dürften, dass die inzwischen auf dem Niveau der Truppenbetreuung offenkundig stabilisierte Kultur der Geschlechterbeziehungen das Ergebnis dieser Kollektiverfahrung ist, die im Übrigen die betroffenen Kollektive alle in ähnlicher Weise zerrüttet hat. Von der Depotenzierung des Mannes durch diese ‚Modernisierungsfolgen’ braucht man nicht zu reden. Es ist nur eine Seite der kulturellen Zerstörung, deren andere die sogenannte Mobilisierung der Frauen für den Arbeitsmarkt ist, angesichts der Entwicklung der Realeinkommen kein Wunder, sondern eine existentielle Notwendigkeit, der man aus Not die Ideologie anhängt, sie sei eine Tugend, und entspräche dem Willen deren, denen ohnehin nichts anderes übrig bleibt, während ihr Wille in der Tat gleichgeschaltet ist mit einem Arbeitsmarkt, der billige Arbeitskräfte braucht, und von dort her zunächst als –kriegsbedingte – Not auftauchte, kurz: Als Modernisierungsfolge. Es ist eine bemerkenswerte Leistung des Autors, diese doch sehr weitgehenden Aspekte in seiner Erzählung auf eine Weise anzudeuten, die klar macht, dass er ein Verständnis von ihnen hat, das er gerade in der verrätselt erscheinenden inzestuös getönten sexuellen Liebe unter geschlechtsreifen Erwachsenen die Beziehung zur Mutter so konturiert, dass sie zugleich unmittelbar ins Auge fällt und als eigentlich verpönt erscheint. Entsprechend ist die Reaktion seiner Freundinnen auch zu verstehen: Auch sie verpönen diesen Aspekt ihrer eigenen weiblichen Sozialisationsgeschichte und bestätigen damit den strukturellen Defekt ihrer psychosozialen Existenzen, eben denselben, der in einem anderen Erscheinungsbild in der Zahl der ‚ungewollten’, aber doch entstehenden Schwangerschaften und ihrer Unterbrechung ohne Rücksicht auf das damit verbundene Trauma, das darin wiederholt wird, und erneuert, und die nachlassende genetische Potenz der betroffenen Populationen erscheint, und dieselbe Bedeutung kommuniziert, ohne dass das jemanden kümmert. Es geht in der allgemeinen Anästhesie unter, und bestätigt damit wie der Mechanismus der Abwehr sich durch mehrere Iterationen stets unverändert erneuert, bis er schließlich zu einer Politik gerinnt, die konsequent und erwartbar genau das Kontraindizierte für produktiv, angemessen und richtig hält und exekutiert, in der nicht unberechtigten Erwartung, dafür sogar Wähler zu mobilisieren, mit deren Dispositionen das Angebot übereinstimmt wie die pathologische Objektwahl mit ihrem Objekt. An Männern wiederum – und hier ist der US-Sprachraum mit seiner beispiellos aggressiven Bezeichnung ‚mother-fucker’ als typisch männliche Beleidigung des Mannes von der Bedeutung einer Leitkultur mit einer kranken intergeschlechtlichen Beziehungsgeschichte und –struktur und damit paradigmatisch für den männlichen Aspekt der Perversion der intergeschlechtlichen Beziehungen. Der Umstand, dass der Ausdruck keine deutsche Übersetzung kennt, es sei denn im formalen Sinn, mag als Beleg dafür gelten, dass die Siegerkulturen u. U. wegen ihrer anhaltend aufrecht zu erhaltenden Anspannung der Kräfte und der ideologischen Bindung besonders zunächst traditionell der männlichen Population für die Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts stärker belastet sind, Zärtlichkeits- und Anlehnungswünsche vielleicht stärker abwehren müssen, jedenfalls anders als die unterlegenen. Denn ihm entspricht kein populärer Sprachgebrauch im Deutschen. Im Übrigen verrät die ungemein aggressive Abwehr des inzestuösen Wunschs des männlichen Kindes seine Stärke am Verdrängungsaufwand, und andererseits auch die affektive feindselige Ladung der Beziehung zur Mutter, die hier ja ebenso denunziert wird für ihren Wunsch des Inzests mit dem Kind wie das Kind (im Manne) denunziert wird für seinen inzestuösen Wunsch, und in jedem Fall läuft es derart auf eine Selbstdenunziation hinaus, insofern man das Schimpfwort ja nur dann als eine Beleidigung auffassen kann, wenn man die entsprechende Stärke des Wunsches auch bei sich selbst als konstitutiv für den Sozialcharakter erkennt, den man mit anderen teilen muss, damit man die Beleidigung wiederum auch als solche versteht. In der tat hat ja zunächst der, der es als Beleidigung meint das Problem vorbehandelt, für das er im Streit, der der gelungenen Beleidigung des anderen folgt, Einverständnis mit anderen Leidensgenossen sucht. Man kann es dabei belassen. Bleibt bestenfalls noch zu fragen, was eigentlich mit den Frauen einer solchen Männlichkeitskultur ist, die sich das anhören und diese Männer als Partner für akzeptabel halten?

In allen Fällen läuft das auf Belege dafür hinaus, dass die primäre Liebe eine unüberholbare Bedeutung hat für die gesamte biographische Entwicklung des Individuums, mit den beiden Verzweigungen ihres unerkannt in der Form einer intensiven Abwehr weiter wirkenden negativen Aspekts, einer Gegenbesetzung, und einer anderen Variante, die die Suche nach einer erfolgreichen Wiederholung durch die Erfüllung des in ihr enthaltenen Lebensversprechens in der erfüllten Liebesbeziehung unter gegengeschlechtlichen und geschlechtsreifen Erwachsenen aufrecht erhält, ein Versprechen, von dem uns der Autor versichert, dass es sowohl intellektuelle als auch emotionale Widerstandskräfte zu mobilisieren vermag, die sich als Lebensmut an die nächste Generation weitergeben lässt, wo sie glückt, und die Widerstandsfähigkeit gegen die blinde und die Lebendigkeit einer Kultur tötende Anpassungsforderung aufrecht zu erhalten ermöglicht, wo die Erfüllung des Versprechens ausbleibt, so dass die angebotene ‚zweite Wahl’ in einer bewussten Entscheidung zurück gewiesen oder auch ausdrücklich akzeptiert werden kann, z. B. in dem Bewusstsein, dass die Wiederherstellung des Zerstörten den Mut, die Entscheidung und den Plan dafür sowie die Hinnahme der Vorrausetzungen erfordern, die nach der Wiederherstellung verlangen. Dazu bedarf es allerdings anderer Überlegungen als die politische Verordnung einer ‚Leitkultur’ oder einer ‚Wertediskussion’, sondern der klaren Vorstellung zunächst des Gegebenen, von dem diese Vorschläge ein Teil sind, mit dem Status eines Symptoms.

Schließlich hat der Ich-Erzähler eine Geschichte erzählt, die sich in Deutschland abgespielt haben soll oder kann. Also muss der Ich-Erzähler, das darf man jetzt schließen, in der Geliebten etwas wieder erkannt haben, das spezifisch ist für die Kultur, der er angehört, insofern er in ihr aufgewachsen ist, vermittelt über eine Familie, eine Mutter, oder wenigstens einmal spezifisch für sie war, das zu seinem sozialpsychologischen Muster passt, zu seiner ‚Prägung’, wenn man so will, das aber schon den für ihn altersgemäß ‚passenden’ Persönlichkeitsmustern seiner Partnerinnen fehlen muss, insofern er es in ihnen nicht mehr aufzufinden und wieder zu erkennen vermag, wenn man einmal von den mit einer Trennung unvermeidlichen Erinnerungen absieht, die unbedingt für den konkreten, individuellen Menschen spezifisch sind, von seinen persönlichen seelischen und körperlichen Besonderheiten abhängen, die zunächst der Wahl eines anderen Partners im Wege stehen, weil sie das Nicht-Normierte ausmachen, das die Person definiert. Dann muss man aber fragen, was es eigentlich bedeutet für eine Kultur, wenn die intergenerationelle Verbindung der primären Liebe durch die Prozeduren von Bewältigungsverfahren des beschriebenen Typus systematisch im Dienste eines höheren politischen Interesses oder auch im Namen des Kulturfortschritts bzw. der Wiederherstellung der Kultur und der Verteidigung ihrer Normen traktiert und belastet werden, zumal dann, wenn das darin erkennbare Paradigma als in gewisser Weise kulturtypisch betrachtet werden muss, und was das im Vergleich bedeutet für Kulturen, denen derartige ‚Prozesse’ erspart bleiben, weil sie am Ende nur zufällig auf der richtigen Seite waren oder gar die richtige Seite selbst, die festlegt, wer auf der falschen Seite war. Aber man kann die Frage auch noch grundsätzlicher stellen: Was geschieht eigentlich im intergenerationellen Verhältnis, wenn Kulturen anhaltend unter dem Eindruck von Kriegen und Bürgerkriegen, kultureller Diffusion und verwahrlosungsbedingter Dekompensation der sozialen Beziehungen stehen und wie treten die Folgen dieses ‚sozialen Wandels’ an diesem Verhältnis und an zu erwartenden Wandlungen des Sozialcharakters zutage?

Wie gehen anhaltende Kriegsverbrechen oder auch nur die Erfahrungen des Mordens ungeachtet des Unterschieds von Sieg oder Niederlage einerseits, die unabdingbare Zerstörung der Elternbeziehungen unter dem Eindruck anhaltender kriegsbedingter Trennungserlebnisse und der kulturellen Folgen für die Soziabilität der Sexualität in die Erziehung der jeweils unter dem Eindruck dieser Folgen der Gewalt heranwachsenden Generationen ein? Und was ist schließlich, wenn ursprünglich kriegsbedingte Verhältnisse in sozialen Beziehungen schließlich zum kulturellen Normalzustand werden mit der Folge einer Positivierung der dafür herangezogenen gesellschaftlichen Begründungen angesichts der Verwandlung des Verständnisses des Friedens als einer Form der Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, also wenn der gesellschaftliche Normalzustand eine Abart eines permanenten Kriegszustands knapp unterhalb der Schwelle des Bürgerkrieges wird und die Politik just diesen Zustand knapp am Kentern zu balancieren als ihre Hauptaufgabe betrachtet?

Das, lieber Leser ist ein anderes Projekt, das schon mitten in die im Übergang in die Zukunft begriffene Gegenwart führt, in die Realität von morgen.

Was auch immer es sonst bedeutet es auszuführen, es bedeutet: Schreiben. Dazu erlaube ich mir eine Bemerkung:


Es geht beim Schreiben eines Buches, eines Romans, eines Gedichts nicht um die Worte, oder um diese nur so, wie es um die Noten geht, wenn man eine Melodie aufschreibt. Wenn man sie singt, oder sie sich selber singt, braucht niemand Noten. Die Bertrachtung der ‚Sprache’ als ein bloßes Mittel, die sich dabei enorm vernünftig vorkommt, ist eine cartesische Irreführung, mit einer sprachtheoretischen Wendung. Es geht immer darum, dass man die Melodie findet und dazu mögen Noten und Notierungen gut sein, d. h. diejenige Sequenz, die am genauesten, die genau der allgemeinen Entwicklung und ihrem Stand des je eigenen Lebens entspricht, das nichts ist als diese unausgesetzte, in einer Linie – der Zeit – verlaufende Ent‑Wicklung dieser ihr eigentümlichen Melodie.


Sie wird nur ein einziges Mal gespielt während der Dauer der gesamten Existenz aller möglichen Universen und Welten, und sie ist DEIN Leben, das Einzige. Und Du bist der ausführende Künstler, der diese Ausführung zugleich ist. Sie ist aufgegeben. Man kann das auch anders sehen, muss dann aber auch die Folgen tragen, wenn man z. B. meint, man sollte sich mit Knarren oder Quietschen oder Rülpsen vergnügen.


Die Aufforderung, die Aufführung im Straßenlärm untergehen zu lassen, oder im Lärm der aus den Trichtern und Tröten der Massenmedien zu überhören, ist der Aufforderung zum Selbstmord gleich. Dasselbe gilt für das Tanzen nach den Melodien Anderer und ihren Pfeifen.


Es kommt nicht darauf an, dass einen jemand sieht.

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