Romantische Landschaft mit Menschenopfer

Romantische Landschaft mit Menschenopfer
Weißt Du wieviel Wolken gehen weithin über alle Welt...

Mittwoch, 16. Dezember 2009

Die Heimlichkeit des Verschwindens der Toten.



Die Toten verlassen uns so heimlich, so leise, dass wir es oft kaum bemerken. Der Generationenwechsel vollzieht sich nicht en masse, sondern als hier und dort eintretendes Einzelereignis, das den stummen Gleichmut der Artefakte, der großen Gebilde, von denen wir umgeben sind, nicht tangiert. Nach jedem unauffälligen Verschwinden eines Nachbarn, der vielleicht schon lange kränklich war, oder der wie aus heiterem Himmel ‚tot umgefallen ist’, sehen wir uns der schweigenden Starre der Häuserreihen entlang lärmender Straßenschluchten gegenüber, an deren Erscheinungsbild sich nichts verändert hat. In dem Haus gegenüber, wo der Nachbar über lange Jahre gewohnt hat, während deren man ihn hin und wieder, wenn man ihm begegnete, stumm mit einem Kopfnicken oder mit einem Murmeln grüßte, während man in sein Auto stieg, um irgendwo etwas zu besorgen, oder während man sich mit einer Arbeit im Garten beschäftigte, in deren Verlauf er am Eingang erschien um sich etwas zu schaffen zu machen an der Fassade des von ihm bewohnten Gebäudes, wohnt jetzt an seiner Stelle seine Witwe oder ein junges Paar von Leuten, die man nicht kennt. Jetzt erst erinnert man sich plötzlich, von einem Schock erschüttert, der Härte der eigenen abgehärteten Gleichgültigkeit gegenüber diesen Begegnungen, während die Zeit lief und der Tod schon unterwegs war, um jede weitere Überlegung, etwa einer fälligen Wiedergutmachung seiner versäumten Anteilnahme am Dasein des Anderen gegenstandslos zu machen. Fassungslos steht man bereits vor den Trümmern der eigenen sozialen Existenz, die sich längst zu Bergen durcheinander liegender Bruchstücke aufgehäuft haben, über die hinweg sich kein Weg mehr öffnen wird zu einem Gespräch, das sich auf der Höhe der Selbstgegenwärtigkeit wenigstens zweier Lebewesen auf der Höhe des Wissens um die Einmaligkeit Ihres Daseinsaugenblicks auf der Höhe der ihnen damit zukommenden Würde befände, die sich inmitten der um sich greifenden eisigen Einsamkeit des sich nähernden Todes darüber verständigen könnten, was es bedeutet, einen kosmischen Augenblick lange da gewesen zu sein.

Auf der Trümmern einer Kultur sitzend erwachend bin ich niemals irgendwo eingezogen. Ich fürchtete stets, man könne mir das mir gewohnt werdende einfach wieder abnehmen, indem man es in Flammen aufgehen ließ, die sich nur in tiefen Kellern überleben lassen würden, die dem tödlichen Feuersturm der Bomberflotten entzogen wären, nur um nach Atem ringend in einen beißenden Brandgeruch aufzutauchen, dessen kalter, abgestandene und vom Nieselregen nasse Allgegenwart einen unentrinnbar daran erinnern musste, dass man sich hatte dazu verleiten lassen, sich an eine Welt zu binden und zu meinen, sie müsse morgen auch noch so existieren wie heute. Gewiss, eine Weile lang wollte ich den bunt verpackten Versprechen wohl glauben, die sich einstellten und mir winkten. Wie verheißungsvoll glühten die Versprechen der wieder heraus geputzten Kultur. Da waren zum Beispiel die Bücher. Kultur par excellence, einer ihrer Inbegriffe. Oder das Klavier, das meine Großeltern in ihrem Wohnzimmer stehen hatten.

Wenn ich nur die Fähigkeit besäße, alles dies so nahe kommen zu lassen, dass ich nicht gelähmt verstumme oder mich unfähig zur Bedienung eines Schreibgeräts in haltlosem Weinen aufzulösen, um sofort, nach ganz kurzen Anfällen dieser Art, wieder den Bezug zur Gegenwart des Gefühls zu verlieren, das mir die Gegenwart dieser überwältigenden Erinnerungen an meine Versäumnisse, an meine Schuld, an meine verhärtete Blindheit und meine missverständlichen Gesten wieder vor Augen führt und mit ihnen die verfehlten Versuche so zu sein wie das einer blinden Vorschrift entsprochen haben würde, die als Verhängnis über dem Leben ihre Peitsche schwingt, und als Kultur auftritt, aber ebenso dieses furchtbare Gefühl eines erstickenden Eingeschlossenseins in einem undurchdringlichen Gehäuse, von dem ich einmal träumte, es bestünden seine meterdicken Mauern aus Bruchsteinen aus nichts als aus Worten.

Kaum setzen wir uns an das Steuer eines Automobils, werden wir zu potentiellen Killern. Ein Mensch wird getötet, und wir können einfach davon gehen, weil die Regeln das so besagen. Es geht nicht einmal um einen Freispruch. Es geschieht einfach nichts, und wir können so weitermachen. Keine Schuld hat uns getroffen. Aha, dann hat das was ich empfinde überhaupt keine Bedeutung. Es existiert sozial gesehen gar nicht, und trotzdem soll ich meinen, dass dies, diese Gleichgültigkeit das Soziale ist, Lebensmedium, auch meines, nach dem Tod des Anderen. Wie schön, dass das so ist, wie tröstlich, wie gerecht. Die Trauer, der Schock, die Schuld, einfach an dem Ort gewesen zu sein, an dem sich zwei Wege, ordentlich verkehrsgeregelt kreuzen, so im rechten Augenblick gewesen zu sein, dass der zu Tode Gekommene nicht nur mit seinem Leben alle Rechnungen zu bezahlen haben wird, die dabei als ‚Schaden’ registriert werden können. Und niemand, der nicht dazu zwingt, dass man sich nicht zu der Maskerade bequemt, die zu seiner Gleichgültigkeit passt.

Ich weiß nicht genau, wann ich eigentlich damit begann mir gewissermaßen die Decke über den Kopf zu ziehen und den Versuch zu machen, die Sache auszuschlafen. Wie auch immer, das ist misslungen. Nicht einmal meine Körperkräfte haben dabei gelitten. Was mir als sich längst bemerkbar machende wachsende Hinfälligkeit imponieren wollte, war eine Täuschung, die Mattigkeit, der Schlafwunsch gingen vollständig von meinem Kopf aus, einem Nichtwissenwollen unter den versuchten Darstellungen, die mir die Muster nahe legten, die sich in der Umgebung en masse fanden. Irgendwann war ich doch wieder ausgeschlafen und vergeblich versuchten die Träume meinen Schlag zu hüten. Stattdessen drang nun das zum Bewusstsein Drängende, dem die Müdigkeit zu begegnen suchte in die Träume und setzte sich durch. Da war ich wieder und alles begann von vorn. Eigentlich war ich doch eine ganz respektable Erscheinung. Man konnte mich mögen. Ich konnte Erfolg haben. Ein wenig mehr Selbstvertrauen und alles Übrige bliebe der sich einstellenden Routine überlassen, einer Umgebung, die sich ihrerseits daran gewöhnt hatte, eine bestimmte Person wahrzunehmen, auf die sie reagieren konnte, und in der ich mich dann bloß wieder zu erkennen hatte, das würde schon gehen können. Ich musste mich nur daran halten wahrzunehmen, wen sie ihrerseits wahrnehmen würden, und alles wäre gut gesichert. Überall Sicherungsseile, die halten würden, wenn man sie nicht zu oft und zu viele auf einmal in Anspruch nahm. Ich bin sportlich, muskulös, meine Kräfte haben nicht nachgelassen, nicht zuletzt dank einer stets mit Absicht vorgenommenen Belastung mit körperlich fordernden Beschäftigungen, besonders in meiner privat verwendbaren Zeit. Das lenkte zudem ab, und die Müdigkeit, die sich aus anhaltender und an den Rand der physischen Erschöpfung vorgetriebenen Betätigung beziehen ließ, war so fühlbar echt, dass sie den gesamten Körper als eine wirkliche, erfahrbare Form des Wohlbefindens durchglühte, wenn ich mich endlich, nach einer Wechseldusche, an deren Ende ein möglichst kalter Wasserguss stehen musste, in frischer Kleidung an einem Tisch niederlassen konnte, oder auch, wenn ich mich, so wie ich war, in alter Kleidung einfach im Garten auf eine Bank setzen konnte, mit dem Gefühl einer wohltuenden wirklichen und fühlbaren, und in keiner Weise niederdrückenden Müdigkeit, die sich himmelweit unterschied von dem von meinem Kopf her sich auf den Körper ausbreitenden lähmenden Form des Entzugs der motorisch aktivierenden Entschlussfähigkeit. Gelegentlich einmal ging ich in ein öffentliches Schwimmbad. Ich war immer ein begeisterter Schwimmer. Aber ich erlebte in diesem Zustand, wie ich Stunden auf einem Block oder einer steinernen Bank saß und mich nicht bewegen konnte, weil ich den Entschluss nicht zu fassen vermochte, mich einfach ins Wasser zu werfen, wie ich das sonst stets getan hatte. So ging ich dann auch wieder nach Hause, zusätzlich entmutigt und entgeistert durch die Eigenart der Lähmung, die aus nichts irgend Fassbarem bestand, denn weder fühlte ich mich ‚krank’ oder geschwächt noch war ich hungrig oder müde. Ich konnte einfach nichts tun, um mich selbst in Bewegung zu setzen und nichts erreichte mich, dass dies hätte verändern können. Ich war wie eingemauert in mir selbst. Aber das war nicht mein Körper. Es war auch nicht mein Verstand oder mein Bewusstsein, denn ich wusste, ich brauchte nur den Entschluss zu fassen mich zu bewegen und dann diese Winzigkeit zu bewirken, die mich in Bewegung setzen würde, dann würde alles gehen, was ich mit meinem Körper sonst auch tun konnte. Aber dieser winzige Sprung war eben nicht ausführbar, obwohl ich wusste, dass ich ihn jederzeit ausführen konnte, etwa wenn ich erführe dass es brennt oder dass jemand meine Mitwirkung verlangen würde oder dergleichen. Gleichwohl saß ich gelähmt an dem Ort wo ich war und sehnte mich zugleich danach schwimmen zu können, nein, es einfach zu tun und war doch unfähig es zu beginnen. Gleichwohl war meine Verzweiflung gänzlich unauffällig. Niemand sah mehr als einen Mann, der auf einer Steinbank in einem Hallenschwimmbad saß, lange, um dann wieder zu gehen, ohne in das Wasser gegangen zu sein. Aber das letztere entging mit Sicherheit allen flüchtigen Beobachtern, denn das hätte Zeit und Aufmerksamkeit erfordert, die ich einfach gar nicht erregte indem ich da saß. Im Übrigen hätte die winzigste Anforderung von ‚Außen’ diese Lähmung sofort aufgehoben. Aber, ‚in Ruhe gelassen’, wuchs sie zu einem imaginären Gefängnis und schloss mich ein. Ich weiß nicht wie viele der guten Ratschläge mir einfielen, die für diese Fälle von leicht ungeduldigen Ratgebern flächendeckend und nachhaltig verbreitet werden, zumal als professionelle Eigenpropaganda über die je eigene praktische Lebenstüchtigkeit. Man hat vermutlich leichter reden in diesen Dingen, wenn man nicht weiß wovon. Man redet dann ‚darüber’, und nicht von drinnen. Ich habe diese Ahnungslosigkeit und Gedankenlosigkeit des zuversichtlichen Geplappers immer auch ein wenig bewundert. Wie schön, wenn man von nichts weiß. Man kann dann so fröhlich sein. Kühe habe ich immer bewundert, auf der Weide. Diese Gemütsruhe, diese Gemächlichkeit, dieses Vertrauen ins eigenen Dasein, alles angesichts des Schlachters, von dem sie nichts wussten. Wie wundervoll. Welche Sehnsucht hatte ich danach, nach dem Unerreichbaren, einer schuldlosen Einfachheit ohne Reflexion.

Bewusstheit ist der Schmerz, der mich lähmt. Es ist ein einziger Schmerz. Anfangs‑ und endlose Trostlosigkeit. Ich weiß, warum Menschen Religionen brauchen. Aber sie tun mir leid, wenn sie einer anhängen, denn sie wollen sich nicht wissen. Andererseits…? Ich weiß nicht und bin nicht bereit etwas zu glauben. Es ist mir unmöglich. Wie es anderen möglich ist, ist mir nicht nachvollziehbar, und dies ist keine Aufforderung es mir zu ‚erklären’. Es gibt diese Erklärungen nicht, weil eine ‚Erklärung’ ihrer Natur nach das gar nicht leisten kann. Als Erklärung hinterlässt die keinen Rest. Das ist ja gerade ihr Sinn. Freilich hängt sie dafür in der Luft und bedarf anderer Erklärungen, auf die sie sich stützt. Das Insgesamt dieser Stützen ist Wissen, das Beschaffungsprogramm dafür ist Wissenschaft. Ganz fern bleibt dann ein Rest, in der Zeit, im Raum, in Ursprungsfragen oder ‚Sinnfragen’. Aber die sind dann möglichst aus dem Blick gerückt, dass sie keiner mehr zu fassen bekommt, möglichst. Niemand soll den Abgrund sehen, in den zu blicken unerträglich werden muss. Aber der Jahrmarktsbetrieb und sein Dauerlärm, der über ihm schwebt, über dem Abgrund, das Dunkel, das von seinen Lichteffekten überblendet wird, sie reichen bloß bis zu dem Punkt, an dem die dadurch erzeugten Euphorien ihrerseits die Energien aufgezehrt haben, die dazu notwendig sind, die Betäubung aufrechtzuerhalten. Mit der nervösen Ermüdung kehrt der Schmerz, kehrt die Leere und das Dunkel zurück und behaupten den Platz, auf dem das Schauspiel der Ablenkungen aufgeführt wird.

Es gab auch das Umgekehrte. Das Schauspiel erzwang den Blick in den Abgrund und bewirkte eine gewisse Abhärtung, mit der sich dann eine Weile weitermachen ließ. Das war der conditio humana angemessener. Wer plötzlich in den Abgrund blicken musste, aus welchem Grund auch immer, wem er sich auftat jenseits der Veranstaltung seiner öffentlichen Ausstellung im Uneigentlichen, der konnte sich sagen: Das habe ich schon gesehen, es ist wirklich, und der Grund des Wirklichen, auch und gerade des Bewusstseins. Anders ist das angesichts des inszenierten Schauspiels der Ablenkungen und der Überblendungen. Wem sich nun der Abgrund unter den Füßen öffnet, der ist unvorbereitet, es trifft ihn aus heiterem Himmel, wie es scheint, und wirkt unwirklich, wie eine Halluzination, ein ‚böser Traum’. Als kämen die bösen Träume nicht auch als Abgesandte einer Wirklichkeit zu uns.

Was hält ist die Sprache, die wunderbare Schönheit der Klage des mit Bewusstsein Geschlagenen. Denn die Sprache der Bewusstlosigkeit ist nicht schön, sondern blöd. Jeder bloße Lebenslaut eines Tieres ist der Wirklichkeit stets näher als die Kakophonien der Chöre und Solisten des Schauspiels der Verblendungen. Hinter jeder vermeintlich authentischen Zeile lauert die Frage: Wie viel Kohle lässt sich damit abgreifen? Wie viele Preise, Auszeichnungen, Awards sind damit in Aussicht gestellt, wie viel Erfolge sind damit zu feiern? Das kann man denen, die das finanzieren, ins Gesicht sagen und sie bejubeln es. Unfassbar, dieser Tanz der Scharlatane und Magnetiseure.

Montag, 10. November 2008

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