Mittwoch, 25. November 2009
EIN MÖGLICHER ANFANG
Ich habe viele erste Sätze aus allen möglichen Büchern gelesen. Also zum Beispiel: "Der erste Anfangspunkt der philosophischen Spekulation wird durch den Begriff des Seins bezeichnet."
Oder: (ich greife hinter mich, ohne hinzusehen): "Desde antes de las Guerras Nucleares de la Edad Contemporánea, también conocidas como las Cuatro Guerras de Entretenemiento, está ampliamente documentada la creencia general de que un conflicto con armas nucleares, a causa del equilibrio mundial de fuerzas y por la naturaleza de los sistemas defensivos, conduciría sin remedio a la destrucción completa e irreversibile de la vida en el planeta".
Oder: "Im Bereich der analytischen Philosophie sind mehrere Strategien zur indirekten Widerlegung des philosophischen Skeptizismus entwickelt worden."
Da sind andere wortreicher: "Die nachfolgenden Kapitel zum Aufriß und zur Einordnung einer kritischen Philosophie der Interpretation, die man auch eine Philosophie der Interpretationskonstrukte nennen könnte, entwickeln dieses interpretationskonstruktivistischen Ansatz in Anknüpfung und Auseinandersetzung mit neueren philosophischen Entwürfen in der Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Hemeneutik, Semiotik und Transzendentalphilosophie, wobei methodologische und wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte sowie Instrumente und Ergebnisse der analytischen Philosophie ebenfalls Pate gestanden haben."
Na, hoffentlich war wenigstens das Wetter gut. Denn das kann lange gedauert haben. Denn ein Kollege ist lakonischer: "Jede Konzeption der Wirklichkeit ist von der Grammatik und den Regeln des verwendeten sprach- und grundbegrifflichen Rahmens abhängig."
Allerdings scheinen diese Sätze sich wechselseitig zu erläutern.
Oder: "A primera vista, puede parecer que nuestros razonamientos difieren mucho de los de los demás, al igual que nostros placeres: pero pese a lo que puedan diferir, hecho que creo más aparente que real, es probable en que la norma en lo concerniente a la razón y al gusto sea la misma en todas las creaturas humanas."
Oder: "Frères humains, laissez-moi vous raconter comment ca s'est passe."
Oder: "Der Gegensatz zwischen den naturwissenschaftlichen Ideen des Mittelalters, d. h. etwa vom fünften bis zum frühen zwölften Jahrhundert, und denen des späten Mittelalters tritt am deutlichsten in einer Unterhaltung zutage, die zwischen dem weitgereisten Gelehrten und Kleriker des zwölften Jahrhunderts, Adelard von Bath, und seinem zuhause gebliebenen Neffen stattgefunden haben soll."
Oder: "J'ai commence à écrire ce livre le dernier jour de l'année, la 31 décembre 2004."
Hübsch ist auch: "Die 'Niederschrift von der Smaragdenen Felswand', von welcher hier zunächst einmal das erste Drittel der deutschsprachigen Öffentlichkeit vorgelegt wird, enthält den Niederschlag einer geistigen Bewegung, die im Schoße des chinesischen Buddhismus vor vierzehnhundert Jahren aufgekeimt ist, sich seit dem Jahre 700 in jugendlicher Kraft entfaltet, dann wohl ein Dutzend Generationen hindurch die ernstesten und besten Geister Chinas in ihren Bann gezogen und eine lange Reihe ungewöhnlich freier, in sich gefestigter Persönlichkeiten hervorgebracht hat, die ungezählten anderen zu Führern und zu gesuchten Meistern geworden sind."
Oder auch: "Was über die Zeit gedacht wurde in der Geschichte, ist eingewirkt in Texte, in denen die Menschen ihre Gedanken über die Welt und die Menschen in der Welt zum Ausdruck gebracht haben."
Dann: "Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass im allgemeinen das männliche Geschlecht dem Alkoholgenuß mehr zuneigt als das weibliche."
Dann wieder: "Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und die ihm selbst die Glückseligkeit dieser anderen zum Bedürfnis machen, obgleich er keinen anderen Vorteil daraus zieht, als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein."
Ein anderer beginnt so: "Ein Überblick über die zeitgenössische philosophische Denklage zeigt schnell, dass im Bnnkreis der Auseinandersetzungen um die Epochenschwelle zwischen Moderne und Postmoderne der Begriff der Vernunft, einmal mehr, im Zentrum der Kontroversen steht."
Und noch ein anderer: "Den Strukturen, die wir mit unbewaffnetem Auge erkennen, sind, wie das Mikroskop zeigt, feinere Strukturen eingelagert."
Oder: "Dieses Buch ist ein Versuch."
Noch unbestimmter: "In gewisser Hinsicht ist diese Studie das Ergebnis eines Zufalls."
Das leitet über zur Meteorologie: "Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen."
Bemerkenswert ist auch: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktion herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform."
Oh, Izzatso?
Ein anderes beginnt: "Meine ersten Lebenserinnerungen reichen weit zurück."
Ein anderes: "Die Frage nach den Beziehungen zwischen Geist und Sinnlichkeit kann in gewisser Hinsicht als das zentrale Problem aller Philosophie betrachtet werden."
Gut, das zu wissen.
Ganz schlicht ist: "Who now reads Spencer?"
Weniger anspruchslos ist: "Die Rationalität von Meinungen und Handlungen ist ein Thema, das herkömmlicherweise in der Philosophie bearbeitet wird." Da müsste man wohl etwas ergänzen: Die Rationalität von ... zu beurteilen ist ein Thema,...
Auch der Ort des Beginns einer Geschichte ist gelegentlich als Einsatzpunkt genutzt worden: "Unsere Geschichte beginnt in Su tschou, der festen Stadt im Südostzipfel der chinesischen Tiefebene."
Aktuell kann sein: "8 de marzo. - Como hay tanta gripe, han tenido que clausurar la Universidad." Es sind allerdings schon zwei Sätze, formal jedenfalls.
Ungeklärt bleibt zunächst: "Was ist das eigentlich - Ethnomethodologie?"
Weiter finde ich: "It is with a certain feeling of temerity that I offer the present study of a field of American letters which has been pretty largely neglected."
Erhellend kann auch sein: "Nel mezzo del camino di nostra vita mi ritrovai per un selva oscura, ché la diritta via era smarrita."
Recht ironisch ist: "It is a truth generally acknowledged, that a single man in possesion of a good fortune, must be in want of a wife."
Knochentrocken klingt: "Der vorliegende Gegenstand zunächst die materielle Produktion."
Andere beginnen mit einer Art Bericht: "Goethe hat einmal im Hinblick auf Kant das Wort gesprochen, dass alle Philosophie geliebt und gelebt werden müsse, wenn sie für das Leben Bedeutsamkeit gewinnen wolle."
Und andere setzen unmittelbar ein: "Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder sie zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heisst?"
Ganz anders, oder doch nicht?: "In wildem Wechsel treibt das flüchtge Leben."
Nüchterner ist. "The study of how people think, feel, and behave toward one another - like the study of anything else that is both important and complex - begins to get exciting when we find that there are some general rules w can depend on to help us unterstand things that are not, on the surface, self-explanatory."
Und endlich, last not least: "Jede Organisation erhebt den Anspruch, Gesichtspunkte für richtiges Handeln aufzustellen und notfalls durchzusetzen."
Allen diesen Sätzen, deren Beispiele sich beliebig vermehren lassen, ist eines gemeinsam: Sie erzeugen eine gewisse Spannung. Das kann nicht alles gewesen sein! Wie geht das weiter? Die meisten eröffnen zudem Eingänge zu Problemstellungen. Und so ist das auch mit diesem Text bis hierhin. Man kann also beinahe beliebig, wie es scheint, anfangen; es entsteht eine Spannung, etwas, das nach mehr verlangt, nach Art einer Antwort auf die Frage: Wie geht das weiter? was soll das, das zu sagen? Warum sagt er/sie das? Und zugleich ist das eine Aufforderung, damit nicht einfach zu verschwinden, den Anfang zu rechtfertigen. Damit beginnt die Arbeit.
Nehmen wir noch einen, der selbst auch eine Art Anfang vieler Anfänge ist, zu einer Zeit, in der alles schon lange im Gang war: "Singe, Göttin, den Zorn des Pleiaden Achilleus, der zum Verhängnis unendliche Leiden schuf den Achaiern, und die Seelen so vieler gewaltiger Helden zum Hades sandte, aber sie selbst zum Raub den Hunden gewährte, und den Vögeln zum Fraß - so wurde der Wille Kronions endlich erfüllt -, nachdem sich einmal im Zwiste geschieden Atreus' Sohn, der Herrscher des Volks, und der elde Achilleus."
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
MHNIN AEIDE THEA, und Du hast nen beneidenswerten Bücherschrank!
AntwortenLöschen